20 - Der Mann in Lumpen (1)
Schloss er seine Augen, tauchte die Leiche des alten Perem Penthuys vor ihm auf. Das Schlimmste daran waren jene grotesk verformten Gliedmaßen, die diesem Bild seine schauderhafte Unnatürlichkeit verliehen.
Der Tod an sich mochte nichts Ungewöhnliches für Di sein, war er doch auch zuhause in Klupingen ein Teil des täglichen Lebens gewesen. Menschen starben und kamen dann vor das Gericht des einen Gottes, wo über Glückseligkeit und Verdammnis entschieden wurde.
In ihrer Welt bestimmte er über Leben und Tod. Er gab und er nahm. Für sie, die Menschen, war es nicht möglich das Handeln des einen Gottes nachzuvollziehen, denn schließlich waren sie nur Menschen. Und nicht nur sie alleine starben. Auch die Tiere, die Pflanzen, alles musste vergehen. Manches überdauerte länger, anderes nur für eine kurze Zeit. In tausend Jahren, hatte sein Vater gemutmaßt, würde es vielleicht auch Venua nicht mehr geben. Und Namun. Und den gefrorenen Kontinent. Dann hätte alles seinen Tod gefunden und neues Leben würde an dessen Stelle gerückt sein.
Trotz allem war der einzige Tod, der ihn je zum Weinen gebracht hatte und noch immer brachte, der seines Vaters. Als seine Mutter starb, war er schließlich noch zu klein gewesen. Auch für den toten Berater der Regentin empfand er nichts, dass in ihm Traurigkeit hätte auslösen können. Trauer war es auch nicht gewesen, die ihn vor all den hohen Damen und Herren hatte erbrechen und ihn damit wie einen Narren aussehen lassen.
Es war die, im Nachhinein durchaus unbegründete, Angst und allervorderst der Ekel vor dem Toten gewesen. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er eine Leiche gesehen und eben deren verdrehten Beine, sowie die an mehreren Stellen geknickten, da gebrochenen Arme. Die Unnatürlichkeit des vermeintlich Natürlichen.
Er hatte bestimmt schon hunderte Geschichten gehört und gelesen. Geschichten von Schlachten und Kämpfen, in denen von zigtausenden von Toten geschrieben stand. Von ganzen Leichenbergen war beispielsweise während der großen Schlacht bei Tiefwasserbrück, während der roten Rebellion, die Rede. All diese geschriebenen Worte, auf unzählige Zeilen und Seiten verteilt, konnten nicht im Ansatz vermitteln, wie schrecklich der Anblick eines echten Toten sein konnte.
Im ersten Moment jedenfalls.
Denn nach und nach wich der Ekel einer seltsamen Faszination.
Ein Mensch, der Jahre auf dieser Welt zugebracht hatte, mit all seiner Erfahrung, all seiner Liebe, all seinen Wünschen und Träumen für die Zukunft, die ihm bleibt – ausgelöscht in einem Wimpernschlag. Wie eine Vase, die einfach zerbrach und für die man nachher keine Verwendung mehr hatte.
Di wusste, dass diese Gedanken schlecht waren. Was um alles in der Welt stimmte denn nicht mit ihm?
Aber je mehr er versuchte die schlechten Gedanken zu verdrängen, desto klarer erschien das Bild, welches sich ihm im Mondschein auf dem Arm des Palastes geboten hatte, vor seinen Augen.
Und es erschienen immer mehr Einzelheiten, an die er sich so bislang gar nicht erinnern konnte.
Die blutige Lache, in der Penthuys' Kopf gelegen hatte und nur als ein helles Schimmern in der Nacht zu erkennen gewesen war. Nie im Leben konnte sein Schädel bei einem Sturz aus dieser Höhe unversehrt geblieben sein. Der Aufprall musste ihn eingedrückt oder zerschmettert haben.
Ungefähr so, wie beim Bullen Norfried Baum, der in den Geschichten die Köpfe seiner Feinde mit einem Streitkolben zertrümmerte und dem man gar ein eigenes Lied, jenes vom ‚Schädelbrecher aus Tanndorf', gewidmet hatte.
Nicht das einzige Lied, welches die rote Rebellion und ihre tapferen Krieger besingt.
Beinahe immer geht es darum, wie sie aus den Namunern und den Ostländischen Leichen machten. Geradezu bewundernd singt man darüber, wie sie über die Gefallenen hinwegstiegen und den Feind, die Unterdrücker der Freiheit, immer weiter Richtung Osten zurückdrängten. Ein Feld aus Leichen mit grotesk verformten Gliedmaßen und zertrümmerten Schädeln hinterlassend.
Das nervöse, wie laute Gestrampel seines neuen Mitbewohners weckte ihn aus dem Schlaf.
Thuma hieß er. Ein hagerer, blonder Junge, der kaum ein Wort sprach und der einem nie in die Augen blickte, wenn man sich mit ihm unterhielt. Seine Arbeit verrichtete er flott und mit einer Zielstrebigkeit, die man sich von seinem Vorgänger Paky wohl nur wünschen konnte.
Dementsprechend zufrieden war Gunnet Bohns auch mit dem Jungen und lobte ihn oft und gerne.
Überhaupt gebarte sich der alte Mann ungewohnt nett und freundlich, seit Thuma seine Arbeit bei ihnen aufgenommen hatte.
So gewährte er Di doch glatt einen freien Vormittag, direkt nach den Feierlichkeiten im Palast. Er solle sich ausruhen und neue Kraft schöpfen, hatte er zu ihm gesagt.
An jenem Morgen war Di bereits in der Früh in die Händlerstadt aufgebrochen, um die Einkäufe für den alten Gelehrten zu erledigen. Noch bevor die Sonne der Hauptstadt, einer Blume gleich, neues Leben einhauchen konnte, bauten die fleißigen Händler bereits ihre Stände auf, breiteten ihre Decken und Waren aus, um gerüstet zu sein, wenn die erste kaufkräftige Kundschaft anmarschiert käme.
Zu gerne hätte er sich an diesem Morgen etwas von den getrockneten Würsten des dicken Metzgers gegönnt, der seine Ware hinter einem riesigen Fenster seines Hauses aufhängte und diese aus einem kleinen Fenster daneben verkaufte. Vor jener Verkaufsstelle versammelte sich schon mal ein ganzer Pulk an Menschen, gierig auf das gewürzte Fleisch. Das Beste, das man in ganz Venuris zu kaufen bekäme, wie sich alle einig waren.
Nicht selten wurde Di von Händlern schief angeschaut und zunächst als Bettelkind oder schlimmer beschimpft. Das änderte sich ein jedes Mal, wenn er eine oder zwei seiner Münzen vorzeigte, um zu beweisen, dass er durchaus in der Lage war, die angebotenen Waren zu bezahlen. Der dicke Metzger hingegen war der Einzige, der sich nicht von Münzen, nicht einmal einem ganzen Beutel voll, überzeugen ließ. Bei Dis erstem und letztem Versuch etwas bei ihm zu kaufen, hatte der Mann gedroht, dass er schleunigst verschwinden solle, da er ihm ansonsten seine kleinen, schmutzigen Finger brechen und ihn an die Stadtwache übergeben würde. Als dreckigen Beutelschneider hatte er ihn anschließend bezeichnet und einen Holzscheit nach ihm geworfen.
Seitdem machte Di einen großen Bogen um den Mann. Es gab schließlich noch andere Metzger in der Händlerstadt, wenn auch keine von seinem Format. Doch dafür war er ja auch gar nicht hergekommen.
Während seiner Einkäufe beobachtete er die Menschen um sich herum genauestens. Die Gehilfen der Großhändler, die mit Handkarren deren Waren herbeibrachten oder in schweren Säcken anschleppten. Händler, die teilweise schon aus jenen Karren oder Säcken heraus an die ersten, die frühen Kunden verkauften, da ihre weiteren Gehilfen, meist junge Burschen, gar nicht schnell genug mit der Auslage vorankamen. Di erblickte Frauen mit Kindern im Schlepptau, die sich ebenfalls in aller Frühe mit dem Nötigsten einzudecken gedachten, bevor die Händlerstadt zu späterer Stunde so überfüllt sein würde, dass man sich kaum noch frei bewegen konnte und zudem zu einem Tummelplatz für Taschendiebe und Beutelschneider wurde. Dann war es besser, die Menschenmengen zu meiden. Ein Rat, den ihm Paky bereits früh mit auf den Weg gegeben hatte. Ob sein alter Freund auch gerade in der Händlerstadt zugegen war und etwa den Mimen, aus einem sicheren Versteck heraus, dabei zuschaute, wie sie ihre hölzernen Requisiten aufbauten, wo sie spätestens zur Mittagsstunde in ihren bunten Kostümen, die Köpfe unter farbenfrohen Perücken versteckt, ihre Aufführungen spielen sollten? Er hatte noch nicht die Zeit gehabt, sich eines ihrer Stücke in voller Länge anzuschauen, doch hatte er bei einem vergangenen Versuch mitbekommen, wie jene Schauspieler eine Geschichte über ein paar ostländische Handelsherren darboten, die in ihren Federkleidern, wie Tai Fisi eines trug, um eine Schiffsladung Gewürze aus Namun stritten. Leider hatte er damals keine Zeit gehabt, zu bleiben.
Auch wenn er sich wünschte ebenfalls einmal in der lachenden und jubelnden Menge zu stehen, so war doch ein anderer Wunsch gerade größer in ihm. Insgeheim hatte er gehofft, den Jungen Maus in der Händlerstadt zu erspähen. Seine Hoffnungen waren heute vergebens, was er jedoch erwartet hatte. So einfach würde es nicht werden, wusste er.
Maus' Zuhause war Venuris. Die Händlerstadt, so riesig sie auch sein mochte, stellte nur einen kleinen Teil der venuarischen Hauptstadt dar. Um die ‚Maus aus den Gassen' zu finden würde er also Geduld und eine große Portion Glück benötigen.
Am heutigen Tage war es ihm jedenfalls nicht hold.
Morgen würde er in aller Früh einen neuerlichen Versuch wagen, auch wenn er vermutlich wieder einmal keinen guten Schlaf bekommen sollte.
Er hoffte sehr, dass Thuma irgendwann damit aufhören würde, im Schlaf vor sich hin zu krächzen und zu stöhnen, sich herumzuwälzen und zu strampeln.
Gerade morgen, wenn er den alten Bohns wieder zu einer der langweiligen Ratssitzungen begleiten musste, wäre es von Vorteil, sich nicht den ganzen Tag mit der Müdigkeit herumplagen zu müssen.
Vom Stillsitzen, davon konnte er mittlerweile ein Lied singen, wurde man nämlich noch schneller schläfrig, als von harter Arbeit. Selbst ein spannendes Buch konnte das nicht verhindern, denn irgendwann fingen auch dort die Buchstaben an zu tanzen und erschwerten die Augenlider noch mehr.
Von welchen Alpträumen auch immer sein neuer Zimmergenosse geplagt wurde, in dieser einen Nacht, dem einen Gott sei gedankt, da schienen sie jedenfalls seinem Kopf entschwunden zu sein und Di wachte erst wieder auf, als ihn am frühen Morgen die ersten Sonnenstrahlen wachkitzelten, die durch das trübe Fensterglas neben ihrem Bett direkt auf sein Gesicht fielen. Thuma zu wecken, war für Di schon beinahe zu einer neuen Gewohnheit geworden. Der junge Kerl, der sich etwa in seinem Alter befinden musste, schien seinen Schlaf nur dann zu unterbrechen, wenn ein Zweiter diesem ein Ende setzte.
„Aufwachen! Schau nur nach draußen, die Sonne schickt sich schon wieder an über die Stadtmauern zu blicken", erzählte er ihm, als er ihn an der Schulter gepackt und endlich wachgerüttelt bekam.
Ein sich ebenfalls ständig wiederholendes Bild: Thuma schlug seine leuchtend blauen Augen auf, starrte Di stumm und ausdruckslos an, begann sich schweigsam aus seiner Decke zu schälen, um anschließend rasch aufzustehen, sein Kissen aufzuschütteln, frische Kleidung anzulegen und sich aufzumachen Gunnet Bohns ebenfalls aus seinen Federn zu holen.
Di war es nur Recht, dass ihm diese Prozedur erspart blieb und er sich stattdessen um das Frühstück kümmern durfte. Es war ein zähes, wie auch unangenehmes Unterfangen den alten Mann beim Aufstehen zu begleiten, was auch das Ankleiden und Hilfe beim Waschen miteinschloss. Am Anfang hatte er sich vor dem schrumpeligen Körper des Alten, der von dünner, mit braunen Flecken gesprenkelter Haut überzogen war, geekelt.
„Der eine Gott hat uns alle nach seinem Ebenbild geschaffen", sagte er sich immer wieder vor, um sich selbst seines Ekels zu berauben, was mit der Zeit schließlich auch Wirkung zeigte.
Auch wenn es ihm mittlerweile keine solchen Probleme mehr bereitete, so war er dennoch froh, dass Thuma sich nun bereitwillig dieser Aufgabe widmete.
Nach dem Frühstück brach Di zusammen mit Mulwig und dem gut gelaunten, alten Mann in Richtung Palast auf, nicht jedoch, bevor er sich nicht seinen neuesten Schmöker aus der Bibliothek besorgt und sich diesen unter den Arm geklemmt hatte. Das Buch trug den Titel „Splitter des Ostens" und beschäftigte sich mit der Entdeckung der sogenannten ‚Tausend Inseln', die sich nördlich von Namun befanden.
Die Bezeichnung hatten die venuarischen Seefahrer von ihren namunschen Kameraden übernommen. In dieser steckte allerdings ein wenig Übertreibung, wie Di bald herausfinden sollte. Laut dem Tagebucheintrag des Kapitäns der ‚Jungfrau Yaznarks', Gariyon Nudo, beläuft sich die Anzahl der Inseln nämlich wohl lediglich auf etwas mehr als dreihundert. Jedenfalls wenn man nur jene miteinbezog, die keine reinen Sandbänke oder unförmige Felsformationen darstellten. Auch wären nur die wenigstens der tatsächlich gezählten Inseln bewohnt. Diese allerdings zumeist von kriegerischen Völkern, in ihrer Erscheinung als „schwarz wie die Nacht" beschrieben. Das erinnerte Di umgehend an das Volk der Kumaro unter den Nebeln, deren Äußeres ebenfalls auf jene Beschreibung zutraf, deren Oberhaupt ihm allerdings als außergewöhnlich freundliche, wie fröhliche Natur im Gedächtnis geblieben war.
Sie ließen Mulwig vor dem großen Eisentor zurück, bahnten sich ihren Weg durch den Vorhof und stiegen langsam die große, weiße Marmortreppe empor. Der Palast wirkte auf ihn wie immer. Keine Spur von Traurigkeit oder Schwermut, ob des Todes von Perem Penthuys. Dem massiven Stein schien dies ebenso egal zu sein, wie den zahlreichen Wachsoldaten, mit ihren stoischen, immer gleich-grimmig dreinblickenden Gesichtern.
Wie gewohnt gehörten sie wieder einmal zu den Ersten, die den großen Saal betraten. Einzig der krummbeinige Gurravo Shrink wartete dort bereits auf sie. Di führte Gunnet Bohns zu seinem Platz und nahm selbst auf seinem Stuhl in der rechten hinteren Ecke des Saals Platz. Noch bevor er sein Buch aufschlagen konnte, beobachtete er, wie Shrink seinem alten Freund förmlich am rechten Ohr klebte und ihm, sichtbar aufgeregt, irgendwelche Dinge zuflüsterte. Ob es um Geschenke und Briefe und gebrochene Herzen ging?
Während die alten Männer sich unterhielten und er durch die Seiten seines kleinen Wälzers blätterte, fanden sich nach und nach die restlichen Teilnehmer der Sitzung ein. Auch die beiden Schwerter, Millot Menk und Tai Fisi, gehörten dazu. Ersterer gebeugt und erschöpft, wenn auch nicht mehr ganz so schwach wirkend, wie noch an dem Tag, als Di ihn zum ersten Mal in Augenschein nehmen konnte. Der Zweite hingegen aufrecht stolzierend, mit rausgestreckter Brust und einem Lächeln auf den Lippen, darüber der riesige Schnauzbart, der ebenso stolz in seinem Gesicht thronte.
Zu Dis Verwunderung erschien die Regentin mit einem ihm unbekannten Mann im Saal und beide nahmen sie Platz.
Di konnte sich nicht erinnern, dessen runzeliges Gesicht unter den Gästen der Feier vernommen zu haben. Sein linkes Auge war blind, an seinem Kinn baumelten drei säuberlich geflochtene Zöpfe und er ging auf einen knorrigen Stock gestützt. Handelte es sich hierbei möglicherweise um den Mann, den noch der alte Regent, zusammen mit Spitzkinn, fortgeschickt und von dem man seitdem nichts mehr gehört hatte? Ansakar Bollet oder so ähnlich?
Es schien jedenfalls nicht so, als sei es ein Unbekannter, der sich in die Runde geschlichen hatte, unterhielt er sich doch mit den beiden Männern zu seiner Linken, Kal Zigel und Dymen Steinfurt, als würden sie sich schon ewig kennen.
Als die Regentin sich setzte, bekam sie umgehend alle Aufmerksamkeit, die ihr gebührte.
Wieder einmal wirkte sie freudlos und angespannt.
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