16 - Maus aus den Gassen (1)

Paky kam nicht wieder zurück.

Seit dem Morgen, an dem er unter kuriosen Umständen verschwand, blieb er wie vom Erdboden verschluckt. Di war immer noch schockiert darüber, dass sein Freund dem alten Gunnet Bohns zuvor eine große Platzwunde an dessen Stirn verpasst hatte.

Zwar hatte weder Bohns, noch seine beiden Leibwachen Rekard und Mulwig je auch nur ein Wort über den genauen Ablauf des vermeintlichen Angriffs verloren, doch war es eindeutig, wem der alte Mann die Schuld für seine Verletzung in die Schuhe schob. Unmittelbar nach Dis Rückkehr vom Markt, als das Chaos noch ganz frisch war, hatte er Paky als einen „kahlköpfigen Hurensohn" bezeichnet.

Im Anschluss an jene Äußerung, die ihm wohl in seinem Ärger herausgerutscht war, erwähnte er seinen ehemaligen Burschen mit keiner Silbe mehr. Darauf angesprochen, erzählte er lediglich der Regentin und den anderen Männern aus ihrem Beraterstab, in ihrer großen Runde, dass er wieder nach einem zweiten Auge Ausschau halte, da erneut einer, dem Anschein nach, genug Geld in seinem armseligen Leben gescheffelt und anschließend das Weite gesucht habe. War dies die Wahrheit? Di konnte sich zumindest nicht vorstellen, dass sein Freund so etwas getan hätte. Sicher, Paky konnte den blinden Gelehrten nicht ausstehen, doch hatte er auch immer wieder Di gegenüber betont, dass er das Geld dringend für seine jüngeren Geschwister und seine kranke Mutter benötige.

Im Bezug auf den riesigen Verband an seinem Kopf, welcher Di dem alten Mann angelegt hatte und der eine unschöne Wunde verbarg, erklärte dieser nur, dass es ein Unfall gewesen sei, welcher aus eigener Überheblichkeit resultierte.

Auch wenn Bohns dies stets mit sauertöpfischer Miene vortrug, wann immer man ihn darauf ansprach, es war auf jeden Fall eine Lüge.

Paky hatte wenig besessen und doch alles, in seiner Eile, zurückgelassen. Di hatte dessen Besitztümer an Rekard aushändigen müssen, der damit, weiß der eine Gott was, anstellte. Ein löchriges, da von Motten angefressenes, Unterhemd, eine Baumwollunterhose, ein purpurfarbenes, zerfleddertes Taschentuch und einige, wenige Münzen, die er in einem Lederbeutel unter seinem Kopfkissen aufbewahrt hatte.

Die Münzen, zumindest die Münzen hätte er doch mitgenommen.

Je länger er darüber nachdachte, desto mehr glaubte Di auch daran, dass dies alles mit dem gestohlenen Brief zu tun haben musste.

Er hatte seinen Freund noch aufgefordert das Stück Pergament in den Saum von Bohns Mantel zurückzustecken, doch Paky formulierte stattdessen lieber offen seine Idee, sich den Inhalt des Briefes zu Nutze zu machen. Dabei wussten sie beide nicht einmal, was auf dem Fetzen geschrieben stand. Denn weder Paky, da des Lesens nicht mächtig, noch Di, der die fremde Schrift nicht zu entziffern vermochte, hatten eine Ahnung, was sie da überhaupt in Händen hielten. Womöglich war es wirklich nur ein harmloser, alter Liebesbrief, wie Di zuerst vermutet hatte. Mittlerweile war er sich da aber nicht mehr so sicher.

Dennoch würde er schweigen und weder den Brief, noch Pakys Verschwinden in irgendeiner Weise zum Gesprächsthema machen. Auf keinen Fall sollte man ihn verdächtigen, etwas davon gewusst zu haben.

Nachdem der kahlköpfige Bursche verschwunden war, wurde sein Alltag umgehend grauer. Ohne das Schandmaul seines liebgewonnenen Freundes, zogen sich die Tage in die Länge. Seine Tätigkeiten langweilten ihn sehr und Grund zum Lachen bestand rein gar nicht mehr.

Weder Rekard noch Mulwig ließen sich dazu herab, mit Di zu sprechen. Sein Geldgeber, noch immer mieser Laune, beschränkte sich nur auf seinen Befehlston, redete den ganzen Tag ohnehin genug mit Anderen. Das einzig Interessante, das er Di zu sagen hatte, war, dass dieser schon bald einen neuen Zimmergenossen bekomme, was ihn in seiner Arbeit auch wieder entlasten würde.

Di machte sich wenig Hoffnung, dass Pakys Nachfolger ein ebenso lustiger Geselle sein würde. Er rechnete lieber mit dem Schlimmsten, um am Ende vielleicht nicht ganz so enttäuscht darüber zu sein, auf wen die Wahl letztendlich fallen würde. Erhellende Gedanken zu finden, war dieser Tage überaus schwierig. In jener neuen Stille, in der er sich bewegte, drängten die alten Erinnerungen wieder in seinen Kopf zurück. Dort kreiste alles um seinen Vater, dessen Mörder wohl weder verurteilt, noch jemals vor das Gericht des einen Gottes treten musste. Und Suki. Er wusste nicht einmal, was mit Suki passiert war. Ob sie überhaupt noch lebte?

Dann jedoch fragte er sich, wozu er sich darüber eigentlich den Kopf zerbrach?

Er würde sie ohnehin nie wiedersehen. Der alte Regent hatte, nach den ausführlichen Schilderungen der Vorfälle durch seines Vaters Begleiter, den Handel mit der Zweitwelt verboten und den Eingang noch schwerer bewachen lassen. Es bestand somit keine Hoffnung auf eine Rückkehr.

Unweigerlich fragte er sich in den Momenten des vielen Nachdenkens auch, wohin sein Weg ihn führen würde. Möglicherweise wäre es ja eine Option für ihn, sich der Armee der Regentin anzuschließen, wenn er denn alt genug dafür sein würde. Fünfzehn Jahre musste man dafür mindestens zählen, wie Paky ihm erklärt hatte und bis dahin würden noch etwas mehr als vier Jahre vergehen.

Vier Jahre – eine halbe Ewigkeit, wie es ihm schien.

Früher, auch wenn es noch gar nicht allzu lange her gewesen war, hatte Di stets den Wunsch gehabt, wie sein Vater vor ihm, Handel mit den Völkern unter den Nebeln zu treiben. Zu einem ebenso angesehenen Mann zu werden, wie Kal Brahmen einer war.

Auch Paky hatte er darüber erzählt. Obwohl dieser ihm zunächst nicht geglaubt, ihn gar für einen Lügner gehalten hatte, so hielt sich der Kahlkopf doch nicht mit anschließenden Fragen zu Dis Geschichte zurück.

Er erkundigte sich nach den angeblich blutrünstigen Dämonen, welche seiner Meinung nach unter den Nebeln herumschleichen sollen und allerlei anderen Mären, die man sonst nur kleinen Kindern erzählte. Doch warf Paky auch eine interessante Überlegung ein.

„Wie kannst du wissen, dass der eine Gott deinen Vater zu sich geholt hat? Kann er durch den Nebel blicken?"

Für Di stand bis dato völlig außer Frage, dass sein Vater vor seinen Schöpfer treten durfte, egal wo er gestorben war, doch schlichen sich nun erste Zweifel bei ihm ein. Die vier Völker verbrannten bekanntlich ihre Toten, damit diese in den Nebeln weiterlebten. Würden sie auch seinen Vater verbrennen?

Die allermeisten Antworten auf seine ungestellten Fragen lieferte zuverlässig die große Büchersammlung Bohns', doch mit diesem Problem würde sich wohl kein bekannter Text überhaupt auch nur befassen. Ihm blieb somit nichts weiter als der Glaube an den allmächtigen Gott, der auch Kal Brahmen zu Gericht lassen würde.

Keine Zweifel daran hatte, laut ihrer eigenen Worte, die Regentin Venuas. So äußerte sie sich jedenfalls, als sie beide sich zum ersten und bislang auch letzten Mal von Antlitz zu Antlitz unterhalten hatten. Damals empfand Di sie als eine überaus liebe und nette Person. Zu einer Zeit, als sie noch nicht die mächtigste Frau Venuas gewesen war, als der alte Regent noch unter den Lebenden weilte.

Von ihrer warmherzigen Art war fast nichts mehr geblieben, stellte er immer wieder fest.

Auch heute, als Di wieder einmal abseits einer Ratssitzung auf einem kleinen Hocker saß, wirkte sie kalt und unnahbar. Immerzu saß sie mit ernster, beinahe versteinerter Miene an dem großen Tisch und verfolgte aufmerksam die Gespräche und Streitereien ihrer Berater. Er konnte sich nicht erinnern, sie seit jenem Abend, seit jener Unterhaltung unter vier Augen, noch einmal lächeln gesehen zu haben. Natürlich zog sie ihre Mundwinkel manchmal nach oben und ließ ab und an auch ein Lachen ertönen. Doch es wirkte und klang ein jedes Mal in irgendeiner Weise falsch, auch wenn er nicht wusste, ob dies das richtige Wort hierfür war.

Di selbst schenkte sie gar keine Beachtung mehr. Das fand er ein wenig schade, war sie doch so nett zu ihm gewesen. Andererseits war er ja auch nur ein Waisenjunge, der sich glücklich schätzen durfte, überhaupt einen Einblick in das Leben der Höhergestellten haben zu dürfen. Unter normalen Umständen wäre es schließlich nie dazu gekommen, dass jemand wie er den Palast von Venuris je auch nur von innen gesehen hätte. Für diese Erfahrungen würde ihn so mancher beneiden.

Ebenso wie man ihn für seine Taschen voller Münzen beneiden würde, wenn er dies offen zur Schau trüge.

„Der edelste Schmuck, den man tragen kann, ist Bescheidenheit", lautete ein weiser Spruch seines Vaters. Damals hatte Di „edel" noch mit „wertvoll" gleichgesetzt und sich entsprechend über diese merkwürdige Weisheit gewundert. Heute verstand er, was sein Vater damit aussagen wollte.

In besagter Sitzung sprach man mittlerweile wieder über den Hohepriester und den König aus Namun. Di kannte bereits das Gemunkel über einen möglichen Krieg. Er kannte die unterschiedlichen Meinungen, die darüber im Rat vorherrschten. Sein eigenes Bauchgefühl sagte ihm jedoch, dass von dem Kontinent über dem Wasser nichts zu befürchten war. Er rief sich dazu die Seeblockade in Erinnerung. Seit dem Ende des großen Krieges, war der Handel mit dem Kontinent im Osten verboten. Hunderte Schiffe der Ostlande bewachten seitdem die Küsten Venuas. Der Großvater der Regentin hatte dies so beschlossen. Warum sollte Namun, angesichts dessen, erneut Krieg führen wollen? Zumal sie ja bereits den Letzten verloren hatten?

Während die alten Männer so diskutierten, bemerkte Di etwas Auffälliges. Bereits lange vor dem roten Palu hatte es bereits eine derartige Blockade gegeben und beinahe wäre es ihnen heuer gelungen, diese zu durchbrechen. Vermutlich war es im Falle der beiden namunschen Männer ähnlich. Vielleicht wollten sie in Wahrheit nur Frieden schließen und Lena Venuas Berater übernahmen in dieser Geschichte die Rolle der Tesekov um Kaysu Boste, die wiederum mit dem Friedensangebot von Spitzkinn so gar nicht einverstanden schienen. Oder war das eine Spinnerei eines kleinen Jungen, der nichts von derlei Dingen verstand?

Gunnet Bohns sprach gerade zu Stadtverwalter Herwet, ein beinahe so dicker Kerl wie sein Namensvetter, der Kutscher Donte Draben. Mit seiner angegrauten Lockenpracht, saß er zusammengesunken an dem großen Tisch und musste sich von seinem blinden Gegenüber belehren lassen, dass der König den Norden und Süden geeint hätte und das man sich in Venua auf einen Krieg vorbereiten solle.

Ein wildes Durcheinandergerede war die Folge. Der Ton wurde rauer und allmählich auch lauter. Es kam öfter vor, dass sich die Berater der Regentin nicht einig wurden und sich gegenseitig anschrien. Heute schien das lärmende Gezanke allerdings gar kein Ende mehr zu nehmen. Einzig die Regentin beteiligte sich nicht. Sie ließ ihren Blick zur Seite schweifen, starrte in Richtung der Wandteppiche und schloss für einen kurzen Moment ihre Augen.

Auf Di machte sie nicht den Eindruck, als wäre sie sonderlich an der entarteten Diskussion ihrer Beraterschaft interessiert.

Völlig unerwartet donnerte sie schließlich jedoch ihre Faust auf den Tisch und erhob sich von ihrem Platz. Einige der anwesenden Männer, so etwa der dicke Herwet, waren glatt vor Schreck zusammengezuckt.

Di musste schmunzeln. Die Streithähne wirkten plötzlich wie kleine Kinder, die gerade im Begriff waren, von ihrer Mutter ausgeschimpft zu werden. Ganz besonders der Gesichtsausdruck seines Geldgebers bereitete ihm Vergnügen. Mit ruhiger Stimme trug die Regentin ihr Machtwort vor, woraus Di bereits die nächste Neuigkeit entnehmen konnte.

Die beiden Schwerter der Regentin hatten sich angekündigt und würden nach Venuris kommen. Die Herren der West- und der Ostlande. Er würde doch glatt den leibhaftigen Millot Menk sehen dürfen. Vielleicht der letzte noch lebende Kriegsheld Venuas. Und dann war da auch noch Tai Fisi. Über den Ostländischen wusste er nur sehr wenig, doch auch auf ihn war er neugierig.

Die Regentin schloss die Sitzung und verließ den Raum, ohne Di auch nur eines Blickes zu würdigen. Sofort sprang dieser auf, um dem alten Bohns zur Seite zu eilen. Er half ihm auf die Beine und führte ihn aus dem Palast, zurück nach Hause. Unterwegs sprachen sie beide kein Wort. Er spürte, dass der alte Mann innerlich kochte. Mit irgendetwas schien er nicht einverstanden zu sein, doch hielt er seinen Zorn glücklicherweise zurück und schüttete ihn nicht über seinem Burschen aus.

Auch Rekard und Mulwig brachten die brodelnden Gefühle Bohns' nicht zum Ausbruch. So dumm sie beide auch waren, selbst sie schienen zu bemerken, dass Stillschweigen im Moment die beste Wahl war, die sie treffen konnten. Und so führte ihr Weg in das Denkerzimmer mit den Duftwundern und den gruseligen Gemälden, wo sich Bohns in seinem Sessel niederließ und Di mit einem geknurrten „Wein" aufforderte, ihm einen Becher von seinem geliebten Roten zu reichen.

„Bring die beiden anderen Nichtsnutze zu mir rein und lass uns allein!", blaffte er Di anschließend an und nahm einen großen Schluck, wobei ihm der Wein an seinem rechten Mundwinkel herunterlief.

Wen er damit meinte, war klar. Zwar folgten die beiden Söldner Dis Aufforderung, sich in das dunkle Zimmer zu begeben, doch nicht ohne ihm vorher noch einen verächtlichen Blick zuzuwerfen.

Als die Tür hinter den Beiden ins Schloss fiel, wartete Di einen Moment ab. Sollte er an der Tür lauschen, was es dahinter zu besprechen gab oder war es besser nicht zu riskieren, dass man ihn dabei erwischte? Schon alleine der Gedanke daran, er könne etwas hören, das nicht für seine Ohren bestimmt war, ließ sein Herz schneller schlagen. Schließlich belauschte man andere Menschen nicht. So etwas gehörte sich einfach nicht. Wenn sie aber etwas über Paky erzählten?

„Wenn wir unseren Gast empfangen", erklang die Stimme von Bohns, „erwarte ich von euch, dass ihr beide einen guten Eindruck macht. Das soll heißen, ihr haltet das Maul und macht auch sonst keine Dummheiten."

Es folgte eine kurze Pause.

„Und was ist mit dem Jungen?", hakte Mulwig nach.

„Ihn kann ich hier nicht gebrauchen. Ich schicke ihn zu Saebyl. Sie braucht gerade alle starken Hände, die sie bekommen kann. Er wird keine Fragen stellen."

Als ein knarzendes Geräusch aus dem Raum ertönte erschrak Di plötzlich und lief schnellen Fußes, auf sein Zimmer.

Er wusste immerhin, dass Gunnet Bohns soeben über ihn gesprochen hatte. Wieso plante er, ihn zu der Küchenchefin des Palastes zu schicken? Und wer war dieser Gast, den er empfangen würde? Gerne hätte er das Gespräch ja noch weiter verfolgt, doch würde man ihn erwischen, wenn er hier stehen bliebe und er wollte keineswegs austesten, was dann passieren würde.

Er kletterte auf die oberste Etage des Bettes hoch und kramte den dicken Wälzer „Der Kontinent der freien Städte", der die Geschichte Venuas vor der Invasion der Namuner beleuchtete, hervor. Wenn er hier saß und las, würde dies am wenigsten verdächtig wirken.

Er war gerade bei der Geschichte seiner Heimatstadt Klupingen und dessen Gründervater, Melo Kluping, angelangt. Dieser stammte wohl aus einer Stadt aus den Westlanden, wollte sich dort aber nicht länger dem Diktat seiner Stadtherren unterwerfen und zog daher aus, den Moteem zu überqueren und als sein eigener Herr ein neues Leben zu beginnen. Schnell fanden sich andere Menschen, die dem Mann folgten und seine Idee von einem freiheitlichen, selbstbestimmten Leben teilten. Di musste schmunzeln, als er den Text zum ersten Mal las. Die frühe Siedlung Klupingen war wohl zu jener Zeit der einzige Ort, wo die Menschen wirklich frei waren. In den anderen Städten regierten die Stadtherren, mächtige Familien, die erst durch die roten Rebellen ganzheitlich zu Fall gebracht wurden. Der Titel des Buches entsprach somit nicht der Wahrheit.

Auch Melo Klupings Nachkommen hatten schließlich nur noch wenig für die Ideale des Vaters und Großvaters übrig. Seine Stadt unterschied sich bald kaum noch von den anderen Städten des Kontinents, lieferte sich später hinaus gar immer wieder Machtkämpfe mit Moteem, über die Vorherrschaft in den Mittlanden, dabei immer wieder unterstützt von den Kayus aus dem nahen Kayuburgh. Spätestens nach dem berühmten Massaker wurde der große städtische Rivale allerdings endgültig zur heimlichen Hauptstadt zwischen den beiden großen Flüssen, dem namensgebenden Moteem im Westen und dem Tiefwasser im Osten.

Bei dem Überfall durch die Truppen Kayken Mutos, der natürlich nicht namentlich in dem Buch erwähnt wurde, aber über den Di durch die Geschichten Sukis bestens Bescheid wusste, wurde die Blutlinie der Familie Kluping vermutlich gänzlich ausgelöscht. Andere Familien rückten rasch an deren Stelle, nachdem die Stadt letztendlich, unter massiven Anstrengungen, zurückerobert wurde.

Es war Di nicht möglich seinen Wissensdurst weiter zu stillen, denn da trat auch schon, wie er erwartet hatte, Rekard in sein Zimmer und starrte ihn aus seinen, vor Blödheit triefenden, beiden Augen an. Unter seinem strohigen, blonden Bart blitzte einem oftmals dieses dämliche Grinsen entgegen, welches Di so an ihm verachtete. Nicht so in diesem Moment.

„Komm mit", knurrte der breite Söldner und Di tat wie geheißen, schlüpfte in seine Schuhe und folgte dem Mann wortlos nach draußen.

Sie gingen die Straße entlang, die sie in Richtung Palast führte. Außer gelegentlichem Knurren, gab Rekard keine Laute von sich. Kein Wort darüber, wohin er Di bringen würde. Natürlich wusste dieser bereits, wo sich ihr Ziel befand, dennoch versuchte er den Ahnungslosen zu spielen.

„Wohin gehen wir?", fragte er knapp, doch gab der Söldner ihm keine Antwort. So sei es, dachte sich Di und wollte den Mann schließlich nicht auch noch mit weiteren Fragen provozieren.

Vor dem schwer bewachten, eisernern Haupttor, welches in den Innenhof des Palastes führte, wartete ein älterer, schmaler Junge auf sie.

Als er sie erspähte, rief er ihnen bereits von Weitem zu und winkte sie energisch zu sich her: „Bist du Dieke Brahmen?"

Als Di zur Antwort kurz nickte, machte sein Gegenüber direkt einen Satz in seine Richtung und begann damit ihn mit einer Hand durch das Tor zu schieben: „Du bist spät. Wir müssen an die Arbeit. Ich bin übrigens Ifan, rechte Hand der Küchenchefin."

Ifan wirkte aufgekratzt, nervös. Unter seinen Armen und an seinem Kragen zierten große, runde Schweissränder seinen fleckigen, wohl ehemals weißen, Kittel. Sein Haupthaar war zur Gänze abgeschoren, seine Haut schweinchenrosa. Kein sonderlich ansehnlicher Mann, nur aus Haut und Knochen bestehend, haarlos wie ein Baby. Seine weit auseinanderstehenden, mandelbraunen Augen und die große, platte Nase ließen ihn auch nicht schöner erscheinen.

Er schob Di eilig an den aufmerksam dreinblickenden Wachen vorbei, den breiten, gepflasterten Weg zwischen den unzähligen Blumenbeeten und Heckenfiguren entlang, die Marmortreppe hinauf und scheuchte ihn anschließend rastlos durch unzählige Gänge des Palastinneren.

Ihre Schritte, die sie auf dem bemalten Marmorfußboden taten, hallten dabei leise, aber dennoch gut hörbar, von den steinernen Wänden wider.

Schon von Weitem konnte Di die Küche riechen. Der unverkennbare Geruch von Kartoffeln stieg ihm als allererstes in die Nase. Es folgten weitere Gerüche, die irgendwann zu einem Einheitsduft verschmolzen, bei welchem es Di unmöglich war, dessen Zusammensetzung zu bestimmen. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto dicker und heißer wurde die Luft um sie herum. Undefinierbare Wolken waberten durch die Gänge, wie verirrte Wolken, die den Himmel suchten. Unterwegs durch den dampferfüllten, karg-grauen, letzten Gang rauschten sie an zwei weiteren Burschen vorbei, beide weitaus kräftiger gebaut als der rappeldürre Ifan, die offensichtlich gerade eine Verschnaufspause eingelegt hatten. Zu ihren Füßen lagen einige, schwer aussehende, mit Zwiebeln gefüllte Säcke, was Di daran erkannte, dass einige der Knollen daraus herausgekullert waren.

„Ihr könnt euch ausruhen, wenn unsere Gäste satt sind", rief ihnen Ifan im Vorbeigehen zu. Die obszöne Geste, die einer der Beiden ihm wortlos hinterherschickte, nahm der dürre Küchengehilfe jedoch gar nicht zur Kenntnis.

„Bei so Manchen hier muss man sich fragen, wie sie überhaupt zu Arbeit gekommen sind", empörte er sich gegenüber Di und fügte noch an, dass sie leider auf die Unterstützung durch Hilfskräfte aus den Tavernen der Stadt angewiesen seien. Angesichts der hohen Zahl der zu erwartenden Gäste, reiche das angestammte Küchenpersonal nicht aus.

Die Küche selbst war riesig und übertraf in ihrer Größe Dis Erwartungen. Auf gleich fünf Feuerstellen bereitete man in großen, kupfernen Kesseln das Essen zu, aus denen auch der Dampf aufstieg, der ihnen bereits auf dem Weg hierher Wegweiser gespielt hatte. Di konnte nicht genau sagen, ob es zuerst die heißen Dämpfe waren, die seine Klamotten feucht an seiner Haut anklebten, oder sein eigener Schweiß. Mitten in dem Getümmel von Küchengehilfen und den sogenannten Trägern, die die Zutaten säckeweise herbeischleppten, watschelte auch die Küchenchefin aufgeregt umher und fuchtelte mit ihrem hölzernen Rührstab in der Luft herum, als wäre dieser ein Schwert.

Di kannte die Leibköchin der Venua-Familie bereits vom Sehen, doch hatte er noch nie zuvor ein Wort mit ihr gewechselt. So sollte es vorerst auch bleiben. War sie doch ohnehin viel zu beschäftigt, um Notiz von ihnen zu nehmen.

Ifan zerrte Di in einen hinteren Teil der Küche, wo sie vor einem Berg Kartoffeln zum Stehen kamen. Die braunen Knollen türmten sich fast so hoch, wie Ifan lang war und so überragte die Spitze des Kartoffelberges Di gar noch um ein gutes Stück. Zu dessen Füßen lag ein wesentlich kleinerer Haufen von braunen Schalenfetzen. Ein hölzerner Bottich, in dem eine einsame, nackte Kartoffel ein tristes Dasein fristete, stand daneben.

Kartoffelschälen. Das sollte also seine Aufgabe sein. Er hatte ja darauf gehofft, dass er beim Zubereiten oder Würzen der Speisen helfen dürfe, wenn sie schon nicht auf sein Urteil als einer der Vorkoster vertrauten. Immerhin bekochte er auch einen Berater der Regentin, war demnach mit dem Handwerk vertraut. Stattdessen sollte er aber Kartoffelschälen. Das war beinahe so niedere Arbeit, wie das Sackschleppen der Träger und verdarb ihm prompt die Lust darauf.

Viel lieber hätte er da weiter in seinem Buch geschmökert, doch aus irgendeinem Grund wollte Gunnet Bohns ihn nicht in seiner Nähe haben, wenn dieser seinen Gast empfangen würde.

Noch immer rätselte Di, wer dies nun sein könnte.

„Wo ist Maus?", rief Ifan, während er sich sichtbar genervt umschaute und von den Helfern lediglich Schulterzucken und ahnungslose Blicke erntete.

„Habe ich da etwa meinen Namen gehört?", ertönte plötzlich eine Stimme neben Di und als dieser seinen Kopf zur Seite drehte, stand da plötzlich ein rothaariger Junge neben ihm und biss genüsslich ein Stück einer Mohrrübe ab, die er in seiner rechten Hand hielt. Der Junge blickte ebenfalls zu Ifan auf, war er doch noch mal einen halben Kopf kleiner als Di.

Erster riss ihm das Gemüse aus der Hand und fauchte ihn an: „Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du das Essen nicht anrühren sollst! Außerdem habe ich dir nicht erlaubt, dich einfach von deiner Arbeit zu entfernen."

Der kleine Junge grinste daraufhin über beide Ohren. In seinem, mit Sommersprossen gesprenkelten, Gesicht hatten sich dabei unzählige Lachfalten, rund um Mund und Nase, gebildet. Er fuhr sich mit der Hand durch das dünne, zerzauste Haar und antwortete: „Ich hatte nun mal Hunger, Ifan. Wenn es nach dir ginge, würde ich hier sterben. Ich wäre der erste Junge, der dem einen Gott mitteilen müsste, dass er inmitten von Bergen von Gemüse und Fleisch verhungert ist. Oh und so etwas wird sich der eine Gott sicherlich merken. In deiner Haut würde ich mich dann nicht sehr wohl fühlen, wenn ich letztendlich vor ihn treten müsste."

Im ersten Moment war Di überrascht, als Ifan dem Jungen eine schallende Ohrfeige verpasste, andererseits war es verständlich, dass sich die rechte Hand der Küchenchefin solche Worte nicht einfach gefallen ließ.

„Und jetzt geh wieder an die Arbeit", schob Ifan mit grimmiger Miene hinterher.

„Jawohl, mein Herr", erwiderte der Geohrfeigte und schenkte Ifan ein breites, wenn auch aufgesetztes, Grinsen. Nachdem dieser wieder im vorderen Teil der Küche verschwunden war, kramte der Junge eine zweite Mohrrübe aus seiner Hose, biss davon ein Stück ab und versteckte sie wieder dort, wo er sie herausgezogen hatte. Erst jetzt schenkte er Di einen ersten Blick, streckte prompt seine Hand aus, um ihn zu begrüßen: „Du bist wohl die Hilfe, die man mir versprochen hat?"

Di nickte und ergriff seine Hand: „Ich heiße Di."

Der Junge hatte schweissnasse, warme Hände und einen ziemlich festen Händedruck.

„Schön dich kennenzulernen, Di", antwortete er mit freundlicher Miene.

„Auch ich habe einen Namen, aber du kannst mich Maus nennen, so nennt mich ohnehin jedermann. Die Maus aus den Gassen der Hauptstadt."

Maus? Di hatte noch nie jemanden getroffen, der nach einem Tier benannt und auch noch stolz darauf war. Sicher, da gab es den ‚Bullen' Norfried Baum, einer der Helden aus dem großen Krieg. Aber als Bulle bezeichnet zu werden, empfand er jetzt nicht als Beleidigung, immerhin handelte es sich dabei um ein großes, starkes Tier. Ein besseres Beispiel war Bukhart Gellert aus seiner Heimatstadt Klupingen, den man verächtlich als ‚Schnecke' betitelte, weil er so langsam sprach und zudem einen fürchterlichen Buckel besaß, den man als sein verstecktes Schneckenhaus bezeichnete.

Im Gegensatz zu Mäusen, gab es gegen Schnecken jedenfalls nichts einzuwenden. Mäuse wollte jedoch niemand gerne im Haus oder um sich haben.

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