15 - Der Herr der Ostlande (3)
Und plötzlich erhob sich der Handelsherr, völlig unerwartet, von seinem Platz, hielt seinen silbernen Becher hoch in die Lüfte und wandte sich den anderen Tischen zu. Mit seiner kräftigen Stimme sorgte er dafür, dass binnen weniger Augenblicke der komplette Saal verstummte und alle Blicke auf ihn gerichtet waren: „Meine Freunde! Wie Ihr vielleicht wisst, bin ich niemand, der Forderungen stellt. Doch möchte ich Euch sagen ‚Trinkt mit mir'. Trinken wir auf unseren großen Regenten Palu Venua, Zweiter seines Namens, zu dessen Ehren wir uns heute hier eingefunden haben und dessen großer Taten wir gedenken möchten. Doch trinken wir ebenso auf unsere neue Regentin, welche uns ein Venua bereiten wird, welches noch viele hundert Jahre in Frieden besteht."
Und ein jeder kam seinem Wunsch schließlich nach. Sämtliche Gäste erhoben sich von ihren Stühlen, reckten ihre Weinbecher und Bierkrüge weit über ihre Köpfe. Selbst Millot Menk war auf den Beinen, wenn auch unterstützt durch Penthuys und Lewel, die beide jeweils links und rechts bei ihm eingehakt hatten.
„Ein Hoch auf den Regenten!" und „Es lebe unsere Regentin!", schallte es voller Inbrunst durch die Gänge. Vermutlich so laut, dass man es auf den Straßen der Hauptstadt noch vernehmen konnte.
Erneut hatte Tai Fisi es geschafft Unbehagen in ihr hervorzurufen. Alle Blicke im Saal waren nun auf sie gerichtet. Die Menge toste und jubelte, rief ihren Namen. Lautes Scheppern ertönte, als die ersten Trinkgefäße beim Prosten aneinanderstießen, sodass man Angst haben musste sie könnten jeden Moment zu Bruch gehen. Dabei hatte sie doch nichts getan. Zumindest war bislang noch keine politische Entscheidung getroffen, die nicht bereits ihr Vater vorbereitet oder auf den Weg gebracht hatte. Und doch feierte man sie, als hätten sie gerade einen Krieg gegen den Nachbarkontinent gewonnen. Als hätte sie tatsächlich gerade hundert Jahre des Friedens gesichert.
Nur mit dem übermäßigen Genuss des Bieres und des Weines konnte sie sich dieses Verhalten erklären. Doch je länger es andauerte, desto besser fühlte es sich an. Die Sprechchöre legten gar noch einmal an Lautstärke zu, nachdem sie aus ihrer zuvor verdutzten, starren Miene ein Lächeln formte und ihrerseits der Menge zuprostete.
Auch Mendo hatte seinen Krug erhoben und sich den Sprechchören angeschlossen.
Nachdem der Jubel abgeebbt und sich der Großteil wieder auf ihre Hintern gesetzt hatte, holte Perem Penthuys Lena, mit einem Griff an ihr rechtes Handgelenk, aus ihren Gedanken: „Seht Ihr? Die Menschen lieben Euch. Wischt Eure Zweifel beiseite und lächelt wieder", flüsterte er ihr zu. Er roch nach Wein, doch sein Blick war klar und ernst, als hätte er sie gerade vom Gegenteil ihrer Ansichten überzeugen wollen. Es war durchaus überwältigend einen derartigen Zuspruch zu erhalten.
Natürlich hatte sie sich viele Gedanken darüber gemacht, welchen Eindruck sie wohl bei ihren beiden Schwertern hinterlassen würde. Ob sie ihr den gleichen Respekt entgegenbrächten, wie ihrem Vater. Oder ob sie ihre Regentin schlimmstenfalls für ein dummes, kleines Mädchen hielten.
Sie konnte sich jedoch nicht erinnern, jemals laut gezweifelt zu haben.
Nach seiner kleinen Rede war der Tai aufgestanden und hatte die kleine Tafel verlassen, um sich mit einer von Saebyls Helferinnen zu unterhalten, welche gerade dabei war leere Bierkrüge nachzufüllen. Das kleine schwarzhaarige Mädchen, keine der Palastbediensteten, blickte nur ein wenig verschüchtert, aber lächelnd, zu Boden, während der große Handelsherr mit seinem prachtvollen Gewand vor dem mausgrau gekleideten Mädchen stand, sich freimütig mit ihr unterhielt und lauthals lachte.
Tai Fisi war ein, in jeder Hinsicht, ungewöhnlicher Mann, dachte Lena sich zum wiederholten Male.
Er wirkte so unbekümmert in allem was er tat. Was er wohl gerade zu erzählen hatte?
Plötzlich kam ihr ein neuer Gedanke. War dies vielleicht der Grund, weshalb ein Großteil derer, mit denen sie sich umgab, eine derart schlechte Meinung von ihm besaß? War es nicht nur der Neid auf sein Äußeres, sondern vielleicht auch auf dessen Unbekümmertheit?
Erneut war er jedenfalls der Auslöser dafür, dass sich etwas bewegte in dem Saal. Die bisherige Sitzordnung löste sich allmählich auf und es fanden die Menschen zusammen, die bislang nicht die Möglichkeit hatten miteinander zu sprechen. So gesellte sich beispielsweise Maku Ciwysel, samt Bierkrug, zu den Plätzen von Dymen Steinfurt, dem ‚Herren der Meere' und Ullmer Garns.
Dieke Brahmen, der an der Seite von Gunnet Bohns ebenfalls an dem Mahl teilnehmen durfte, wurde beinahe von dem riesigen Hintern der monströsen Almuth Stein zerdrückt, die sich zwischen ihn und seinen Herren drängte. Sie kniff dem Jungen mit den riesigen Fingern in die Wange, was beinahe so aussah, als wollte sie ihm das Gesicht vom Kopf reißen. Als Dieke sich schließlich, mit verdutztem Blick, die rote Wange rieb, musste Lena kurz lächeln.
Ihre letzte Unterhaltung mit dem Jungen lag schon einige Zeit zurück, doch schien es ihm gut zu gehen. Wenn sie es sich recht überlegte, war es damals Penthuys' Idee gewesen den Brahmen-Jungen für Bohns arbeiten zu lassen. Verkauft hatte er es jedoch als ihren Vorschlag.
Und da musste sie sich unweigerlich fragen, weshalb sie so lange benötigte, um zu sehen, was sie an Perem Penthuys hatte.
Warum sah sie erst jetzt, dass sie eigentlich keinen loyaleren Diener in ihrer Beraterschaft finden würde? Sein fortwährendes Erkunden nach ihrem Wohlbefinden empfand sie zwar stets als lästig, doch schien ihm wohl wirklich etwas daran gelegen. Gerade nach dem Tod ihres Vaters, der ihr immer noch mehr zu schaffen machte, als sie nach Außen hin zeigte. Perem Penthuys schien sie als Einziger zu durchschauen.
Und was taten ihre übrigen Berater? Hatte ein Donte Herwet je etwas anderes getan, als ihr sein Leid im Bezug auf die überfüllte Hauptstadt zu klagen? Ein Gurravo Shrink jemals etwas anderes zum Thema gemacht als die finanziell angespannte Situation, ob der rigorosen Aufrüstungspläne ihres Vaters, welche sie nicht zu unterbinden gedachte? Und Kal Zigel? Sein Interesse galt ausschließlich dem Militär und den Waffen, für deren Beherrschung er zweifelsohne viel zu fett war. Nach den Beileidsbekundungen, unmittelbar nach der Beisetzung ihres Vaters, hörte man nicht mehr viel von ihnen, außer dem Üblichen.
Clewin Brock rappelte sich nun mühsam von seinem Stuhl hoch. Mendo hatte Lena gegenüber schon einmal erwähnt, dass der knorrige Kasernenleiter kaum mehr als einem Krug Bier standhalten könne. Was ihn jedoch nicht davon abhielt es stets aufs Neue herauszufordern. Mendo war ebenfalls aufgestanden. Vermutlich hielt auch er Ausschau nach einem neuen Gesprächspartner in dieser geselligen Zusammenkunft.
Jetzt oder nie!
Lena erhob sich von ihrem Platz und schon rührte sich auch das Bierfass Barke, um an ihre Seite zu eilen. Mit einem leichten Kopfschütteln in dessen Richtung signalisierte sie ihm jedoch, dass keine Notwendigkeit eines Begleitschutzes bestand, weshalb er auf seinem Posten verharrte.
Es musste eine wahre Qual für ihn sein, anderen Menschen beim Genuss seines liebsten Gerstensaftes zuschauen zu müssen, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ.
„Hauptmann Warigna? Auf ein Wort!", rief sie Mendo zu, der sich offenbar gerade zu Kal Zigel gesellen wollte, der angeregt mit zwei Westländischen plauderte. Es fühlte sich fast schon albern an, ihn so anzusprechen. Nichts war jedoch augenblicklich wichtiger, als den Schein zu wahren. Keiner in diesem Saal durfte auch nur den geringsten Verdacht schöpfen, dass...
„Meine Regentin. Wie kann ich Euch dienen?", gab dieser als Antwort, während er dort verharrte, wo er gestanden war. Lena ließ ihren Blick noch einmal über die Tische und Bänke schweifen. Niemand der anderen Gäste schien sich ernsthaft dafür zu interessieren, mit wem sie sich unterhielt.
Viel zu sehr waren sie in ihre eigenen Gespräche vertieft. Einige wenige waren sogar immer noch damit beschäftigt sich mit Essen vollzustopfen.
„Wie war Eure Reise nach Venhaven?", war das Erstbeste, das ihr einfiel. Etwa einhundert Mal hatte sie zig Varianten dieses Gesprächs in ihrem Kopf durchgespielt, doch nun, da sie vor ihm stand, waren ihre Überlegungen allesamt wie weggeblasen.
„Keine besonderen Vorkommnisse, die Eure Beachtung verdienen würden", bemerkte Mendo trocken, mit starrer Miene. Hinter seinen Augen hatte das wilde Tier wieder Stellung bezogen.
Ihr Kopf war leer, ihre Zunge schwer. Vielmehr galt all ihre Konzentration der Vermeidung jeglicher offener Gefühlsregung, die sie hätte verraten können. Und wenn sie versuchte nachzudenken, fiel ihr nur ein, wie gerne sie ihn in diesem Moment einfach nur geradewegs aus dem Saal und in ihr Bett gezerrt hätte.
„Ihr gefallt mir sehr in Eurem Kleid."
Dieses Kompliment hatte sie bereits den ganzen Tag begleitet, doch erst jetzt war es für sie von Wert. Ihre Wangen fingen förmlich an zu glühen und besagter Stoff schien sich nur noch enger um ihren Körper zu schnüren.
„Weshalb werdet Ihr rot?", hakte er lächelnd nach und blickte kurz in die Menge, die völlig unbeeindruckt die Feierlichkeiten fortsetzte.
„Glaubt Ihr ernsthaft, irgendjemand in diesem Raum interessiert sich für unsere Unterhaltung? Schaut sie Euch an. Sie fressen und saufen und feiern. Von allem anderen nehmen sie doch keine Notiz mehr. Ihr habt mich lange nicht mehr besucht. Ihr fehlt mir. Ich denke wir sollten..."
Lena hob ermahnend ihre rechte Hand. Da ihr gerade die Worte fehlten, war es die einzige Möglichkeit ihr Gegenüber zum Schweigen zu bringen. Dieses Gespräch verlief in die komplett falsche Richtung.
Mendo trat näher an sie heran. Am Liebsten wäre sie einen Schritt zurückgewichen, doch ihre Beine waren schwer wie Stein, wie sie es sonst nur aus ihren Träumen kannte.
Er beugte sich leicht zu ihr vornüber und sprach mit leiser Stimme, während das Tier in seinen Augen zum Sprung angesetzt hatte: „Ihr habt die Rufe gehört. Sie lieben Euch. Welche Empörung könntet Ihr schon damit auslösen, wenn Ihr diesem Versteckspiel ein Ende setzt? Ihr seid die Regentin!"
„Und Ihr seid der Sohn eines Unwerten", hallte es in Lenas Kopf.
Selbst wenn man sie hier drinnen feierte, ihrem Volk mutete sie derzeit so einiges zu. Gerade die Menschen, die nicht darauf drängten, künftig die Verteidigung Venuas in die Hand nehmen zu dürfen, bemerkten die hohen Abgaben, die mit dem Beginn ihrer Regentschaft einhergingen.
Gurravo Shrink hatte ihr mehr als einmal mit seinem liebsten Spruch in den Ohren gelegen, der da lautete: „Nicht nur die Kriege selbst, sondern auch die Prävention kostet Geld"
Und damit hatte er gar nicht Unrecht. Für ganz Venua hatte ihr Vater, kurz vor seinem Zusammenbruch, eine, wenn auch minimale, Erhöhung der Steuern geplant. Eine Entscheidung, die seine Tochter letztlich durchsetzte.
Penthuys erwähnte ihr gegenüber, dass ein Großteil des Volkes nicht genug im Kopf hätte, um diese Notwendigkeit auch als eine solche zu verstehen. Stattdessen läge es durchaus im Bereich des Möglichen, dass ihr Ansehen unter dieser Maßnahme leiden könne.
Sie hingegen hatte genug im Kopf, um zu wissen, dass dies bedeutete, dass das Unverständnis in manchen Bevölkerungsteilen sehr schnell in Ablehnung oder gar Zorn umschlagen konnte.
Und dann musste sie nur noch einen dummen Fehler machen, um die Stimmung zu kippen. Und sie wusste genau, wie sie einen solchen Fehltritt begehen, beziehungsweise vermeiden, konnte. Alles lag gerade so dicht beinander.
„Ich kann nicht!"
Worte, welche gefühlt ohne ihr Zutun, im Flüsterton über ihre Lippen kamen und die den Hauptmann merklich trafen. Genau vor diesen beiden Dingen hatte sie Angst gehabt. Das Aussprechen der Worte und deren Auswirkungen. Das Tier, welches gerade noch seine vermeintliche Beute im Visier hatte, sackte getroffen zusammen. Mendo Warigna war äußerlich so unberührt wie ein Felsen. Nicht einmal seine Miene veränderte sich. Einzig seine Augen verrieten ihn.
Das er zunächst nichts auf ihre Worte erwiderte, war für sie beinahe am Grausamsten.
„Hauptmann Warigna", ertönte es und durchbrach den kleinen Flecken der Stille inmitten all des Trubels. Sowohl Lena als auch Mendo drehten, beinahe zeitgleich, ihre Köpfe in die Richtung, aus der der Ruf zu vernehmen war. Perem Penthuys steuerte auf sie beide zu. Seine Wangen rot vom Wein, seine Glatze glänzend vor Schweiß. Und wieder schien niemand sonst sie zu beachten.
„Ich hoffe Ihr seid mit Euren Rekruten zufrieden, Hauptmann", lächelte Penthuys in Mendos Richtung und klopfte ihm väterlich mit der linken Hand auf die Schulter.
„Unsere Regentin beschäftigt sich beinahe nur noch mit unseren lieben Freunden aus Namun. Wir mögen hoffen, dass dies nur eine ziellose Beschäftigung ist, aber sollte es zu einem Krieg kommen, müssen wir uns darauf verlassen, dass unsere tapferen Soldaten diesen für uns gewinnen werden."
Ohne eine Antwort abzuwarten, lachte Penthuys laut auf und rief noch, während er er sich vermutlich, wie Clewin Brock, auf den Weg machte seine Blase zu entleeren: „Ich scherze natürlich nur. Wie könnte ich an den Männern Venuris' auch nur einen Herzschlag lang zweifeln?"
Und schon war er hinter der Türe verschwunden.
Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, da wandte Mendo sich wieder seiner Regentin zu. Seine Augen irritierten sie ein wenig. So hatte er sie noch nie aus ihren Höhlen blitzen sehen.
„Du kannst was nicht?", formulierte er Lenas vorherige Worte langsam und leise in eine Frage.
Wie gerne hätte sie ihm ihr Herz ausgeschüttet, doch sie musste stark bleiben. Das kleine Mädchen musste in seiner Kiste bleiben, tief unter ihrem Herz vergraben. Zuerst stand das Volk, dann das Reich. Für eigene Befindlichkeiten war kein Platz.
„Deine Prioritäten liegen also auf Namun", murmelte er monoton vor sich hin, während seine Augen nachdenklich ins Leere starrten.
Noch immer lag ihre Zunge in ihrem Mund, als wäre sie aus Stein. Der Geschmack des Lächlerwassers haftete noch immer schwach an ihr, größtenteils überlagert von dem kräftigen Aroma des zarten Hirschfleisches und dem des frischen Gemüses, welches sie zu sich genommen hatte.
Doch es war etwas anderes, das alle übrigen Geschmacksnoten in den Hintergrund rückte. Etwas Bitteres, dass keineswegs von den Köstlichkeiten der Tafel herrührte. War es Scham? Aufregung? Gar Angst? Sie konnte es auch später nicht wirklich mehr einem dieser Gefühlszustände zuordnen.
Mendos Blick war hart und durchdringend, als er wieder ihre Augen suchte. So kannte sie ihn nur, wenn er mit seinen Männern sprach. Er wirkte sichtbar angespannt, die beiden Hände zu Fäusten geballt.
„Nun denn, wenn es ein Krieg ist, der zwischen uns steht, dann werde ich ihn beenden", sagte er noch, wandte sich von ihr ab und ließ sie einfach stehen.
Schnurstracks lief er zur Tür und öffnete sie. Dabei stieß er beinahe noch seinen Kameraden Brock um, der gerade wieder zurückkehrte und ohnehin schon keinen sehr sicheren Gang mehr pflegte. Zu dessen Verwunderung verschwand Mendo aus dem Saal, ohne noch einmal zurückzublicken.
Lenas Hände zitterten, ja waren so kalt wie nacktes Eisen. In ihr drin überschlugen sich ihre Gefühle.
Dieses Gespräch war ganz und gar nicht so abgelaufen, wie sie es sich ausgemalt hatte. Hätte sie ihm nachrufen sollen? Ihm eher nachlaufen? Und was meinte er mit „den Krieg beenden"?
„Habt Ihr Euren Hauptmann verärgert oder weshalb hat er uns schon verlassen?", wollte Tai Fisi von ihr wissen, der wie ein plötzlicher Windzug neben ihr auftauchte.
Amüsiert lächelte er sie an, was sie erneut irritierte. Sie war sich nicht sicher, doch für einen kurzen Augenblick keimte in ihr das Gefühl, der Herr der Ostlande könnte über ihre heimliche Liebe Bescheid wissen. Oder hatte er ihr Gespräch verfolgt?
„Nein", redete sie sich ein, „dazu ist es hier zu laut."
„Möchtet Ihr, dass ich Euch an die frische Luft geleite? Ihr wirkt etwas blass", fragte er mit besorgtem Blick.
Energisch schüttelte Lena den Kopf: „Es geht mir gut, danke! Oftmals denke ich einfach zu intensiv über meinen Vater nach. Das ist nicht immer gut für mich", log sie und quälte sich ein Lächeln herbei. Zwar war es keine richtige Lüge, doch für den Moment schien es zumindest eine passende Ausrede zu sein, um den Tai vom eigentlichen Thema abzulenken.
Allem Anschein nach, gab dieser sich auch mit ihrer Antwort zufrieden.
„Wisst Ihr", antwortete er stattdessen prompt, „auch ich habe meinen Vater geliebt. Nach seinem Tod hat es lange gedauert, bis die Wunden auf meiner Seele verheilt waren."
Zum ersten Mal seit sie ihn persönlich kennenlernen durfte, hatte der Ostländische eine ernste Miene aufgesetzt.
Sie kannte dessen Vater, Tai Jogoo, nur aus Erzählungen und natürlich von dem Bild auf dem Teppich, der normalerweise die Wand hier im Ratssaal zierte. Dieser zeigte den alten Herren der Ostlande und ihren Großvater, die sich zum Zeichen ihres, später siegreichen, Bündnisses die Hände reichten. Fisi sah dem Bildnis seines Vaters jedoch ganz und gar nicht ähnlich.
Als hätte er Lenas Gedanken gelesen, fügte dieser noch an: „Sicher hat er, gerade als junger Mann, viele Fehler in seinem Leben begangen und wurde vielfach dafür verurteilt und verspottet. Mir jedoch war er immer ein liebender Vater gewesen. Glaubt mir, meine Regentin, ich kann Eure Gefühle nachvollziehen. Damit hinterm Berg zu halten, ist überaus ungesund. Wenn Ihr mit jemandem darüber reden möchtet, und glaubt mir, dies ist der beste Balsam, so könnt Ihr Euch stets darauf verlassen, dass ich Euch mein Ohr leihe, sofern Ihr dies wünscht."
Und da formte sich auch schon wieder ein Lächeln im Gesicht des Handelsherrn. Sein frohes Gemüt wirkte überaus ansteckend, wie sie nun bemerkte.
Doch ihre kurzzeitig aufgehellte Stimmung sollte nicht von langer Dauer sein, denn mit einem lauten Schlag schwang plötzlich die große Tür des Saales auf und Dieke Brahmen stolperte aufgebracht in ihre Mitte. Sie hatte gar nicht mitbekommen, wie er den Saal verlassen hatte. Sämtliche Stimmen verstummten. Die Blicke fielen auf Gunnet Bohns' Burschen, dessen Gesicht so blass wie Milch schien. Völlig außer Atem brachte er nur die Worte „Dunkel", „Fenster" und „tot" hervor.
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