14 - Der Schatten des Königs (2)
„Öffnet das Tor!", schallte es von der Mauer herab.
Das Gemurmel wurde nun wieder lauter. Terek spürte förmlich, wie sich die Stimmung unter den Ausgesperrten auflud. Die Peitschen der Fuhrmänner knallten, Vorwärts-Rufe hallten durch die Luft. Schwerfällig setzte sich die Kolonne wieder in Bewegung.
Eine alte Frau umfasste mit ihren knochigen Händen den linken Unterarm Tereks, was diesen zusammenzucken ließ. Er blickte auf sie herab. Sie ging ihm nur bis knapp über den Ellbogen. Ihr Gesicht war so schrumpelig wie altes Leder, ihre Augen trüb: „Schaut sie an, diese fetten, wohlriechenden Missgeburten. Sie wollen, dass wir verrecken. Verbrennen sollte man sie alle. So wie sie es mit uns geschehen lassen."
Terek wusste zuerst gar nicht, was er der alten Frau darauf antworten sollte. Da lockerte sie bereits wieder ihren Griff: „Die Mutter wird sie alle bestrafen", fügte sie an und fiel auf ihre Knie nieder, landete vornüber im Sand. Sofort wurde Terek von hinten beiseite geschubst. Die herbeieilenden Männer halfen der Frau wieder auf, doch war jede Spannung aus ihrem schlaffen Körper gewichen. Man versuchte sie zurück ins Leben zu rütteln und zu rufen, doch schien es zu spät.
Als man nur wenige Sekunden später mit ihrem Körper in der Menge verschwand, wollte Terek seinen Augen nicht trauen. War diese Person soeben direkt neben ihm gestorben? Seine Hände zitterten. Abwechselnd heiß und kalt lief es ihm den Rücken hinunter.
Was machte er hier? Hier war er nutzlos. Er musste zurück auf seine Position, von wo aus er zu Helfen imstande war. Er musste zurück in die Sonnenpyramide. Weg von hier. Weg von diesem Elend.
Seine Beine trugen ihn unkontrolliert vorwärts und nur wenig später sah er sich durch eine bronzene Klinge an seinem Hals bedroht und kam sowohl zum Stehen, als auch wieder zu einem klaren Gedanken.
Das Gemurmel war lauter geworden. Er konnte die Anspannung der Stadtwache förmlich spüren. Oder waren es nur die Sonnenstrahlen, die ihn in seinem Gesicht kitzelten?
Die Klinge des Schwertes war spürbar scharf. Würde er sich jetzt ungefragt bewegen, wäre dies, ohne Frage, sein Ende. Doch der heutige Tag würde noch nicht seinen Tod beinhalten. Langsam und gut sichtbar hob er seine rechte Hand und nahm damit seine Kapuze ab, den Blick stur auf die Zinnen der Stadtmauer, auf den Befehlshaber der Stadtwache gerichtet. Aus der Anspannung wurde Aufregung, als er sein Antlitz vollends enthüllt hatte. Erneute wilde Handbewegungen, unverständliche, gebrüllte Befehle waren die Folge. Der Wüstenfuchs, der ihn bedrohte wurde unsanft von einem der herbeieilenden Wachsoldaten beiseite gestoßen, so dass er im Staub der Straße landete. Man packte Terek an beiden Armen und drängte ihn rasch durch die Seitentüre ins Innere seiner Stadt.
Als er endlich die Mauer zwischen sich und den Menschen lassen konnte, spürte er Erleichterung. Doch zum ersten Mal war dieses Gefühl mit Ekel verbunden. Er lebte schon so lange, doch hatte er sich noch nie zuvor vor sich selbst geekelt.
Es waren seine Kinder da draußen, die litten, während er sich hier in Sicherheit befand. Geschützt vor der Sonne, hinter den kühlen Mauern der alten Pyramide des letzten namunschen Königs Necat. Keinen Mangel an Speis und Trank. Hier konnte er sogar friedlich in seinem Bett schlafen, ohne von dem Gestank von Tod umgeben zu sein.
Zudem musste er sich hier nicht von wohlgenährten Händlern und deren dressierten Kampfhunden verhöhnen lassen, die angewidert zwischen den Hungernden hindurchschritten und ihnen verächtliche oder, schlimmer noch, gar keine Blicke zuwarfen. Ganz so, als würde es sie nicht kümmern.
Doch war er so viel besser? Schließlich hatte er die aktuelle Situation zu verantworten.
Terek bewegte sich wie im Wahn, schwebte förmlich über den staubigen Boden, direkt auf den befehlshabenden Soldaten zu, der ihm nun entgegenkam. Sampyo lautet der Name, der ihm entfallen war. Er hätte den Mann gleich an seinem auffälligen Narbengesicht erkennen müssen.
Hernak bezeichnete ihn stets als „Die Hyäne", weil er seine Kontrahenten im Zweikampf regelmäßig, sowohl mit der Waffe, als auch mit seinen Worten, verspottete und über sie lachte, wenn sie am Boden lagen. Welch Ironie, dass ausgerechnet er derjenige war, der heute über das Tor wachte.
Verwunderung stand Sampyo ins Gesicht geschrieben. Man traf schließlich nicht jeden Tag den Hohepriester Terek Nam'Atamai vor den Toren der Stadt. Ein Wunder, dass man ihn, ohne seine edlen Kleider, überhaupt erkannte.
Der Mund der Hyäne öffnete sich, doch die Worte, die aus ihm herauskamen, konnte Terek nicht verstehen. Die Welt um ihn herum hatte sich zu drehen begonnen. Am liebsten hätte er, aus welchen Gründen auch immer, laut gelacht.
Doch das nächste, an das er sich erinnern konnte, war der bittere Geschmack seines eigenen Erbrochenen, als er sich vor den Augen der anwesenden Männer auf das warme Straßenpflaster entleerte und anschließend das Bewusstsein verlor.
Er erwachte in seinem düsteren, kühlen Schlafgemach. Seine Beine hochgebettet, der Rest seines Körpers flach auf der harten, mit Kamelhaar gestopften, Matratze liegend.
Das leichte Hemd, welches er trug, klebte schweißnass an seinem Oberkörper. Seine Kehle, staubtrocken, bedurfte dringend eines Schluckes Wasser. Immer noch leicht schlaftrunken tastete er nach seiner Wasserschale, als ihm ein feuchter Lappen von seiner Stirn rutschte und zu Boden fiel.
Er war zu alt für lange Reisen, realisierte er alsdann, während er gierig das warme Wasser austrank.
Es war doch etwas anderes, jeden Morgen in seiner Stadt spazieren zu gehen oder die Treppe in den goldenen Raum hinaufzusteigen, als die Strapazen einer Reise auf sich zu nehmen. Es kam selten vor, dass er seinen alten Körper verfluchte. Jetzt war wieder ein solcher Moment gekommen. Doch was brachte ihm Wehmut über die vergangene Jugend schon? Im Schoße der Mutter zählte das Alter ohnehin nicht mehr, somit machte es in seinen Augen auch keinen Sinn sich deswegen zu grämen.
Einer der Kämmerer betrat den Raum und wirkte überrascht, ihn halbwegs aufrecht sitzend vorzufinden. Der stumme Mann mit der Halbglatze klaubte den Lappen vom Boden auf, nahm die leere Wasserschale an sich und verschwand wortlos in den dunklen Gängen vor Tereks Zimmertüre.
Nur kurze Zeit später kam er mit einer neuen Schale Wasser und einer großen Honigfrucht zurück, um den Hohepriester gut versorgt zu sehen. Quensy war ihm gefolgt.
Der junge Mann mit den edlen, schwarzen Locken lächelte erfreut darüber, Terek wieder bei Bewusstsein zu sehen.
„Zwar habt Ihr auf den letzten Metern geschwächelt, doch bin ich erfreut und erleichtert, dass Ihr unversehrt zurückgekehrt seid", sprach er, wartete kurz, bis der Kämmerer sich verbeugte und schließlich die Tür hinter sich schloss, ehe Quensy auf Tereks Waschschemel Platz nahm.
Der Hohepriester biss ein großes Stück von der Frucht ab, wobei ihm deren Saft an beiden Mundwinkeln herunterlief und auf seine Beine tropfte. Er hatte sich mittlerweile aus dem Bett gehievt und sich auf dessen Kante gesetzt.
„Hattet Ihr Erfolg?", hakte Quensy nach, was Terek mit einem einfachen Nicken bejahte, während er es genoss endlich wieder etwas derart schmackhaftes zu sich nehmen zu dürfen.
„Das heißt, dass meine Zeit nun gekommen ist", bemerkte der junge Mann und machte dabei nicht den Eindruck, sonderlich erfreut darüber zu sein.
„Ich möchte noch nicht, dass du gehst, Quensy. Ich will dich noch bei der nächsten Sitzung des Rates der Fünf dabei haben. Wir sollten diesen für heute Nachmittag ansetzen."
„Es dunkelt bereits. Der Nachmittag ist längst vorbei", bemerkte seine rechte Hand daraufhin.
War er wirklich so lange weggetreten? Nichtstuend herumliegend, während seine Kinder, ausgesperrt vor den Toren der Stadt, hungerten und um ihr Leben fürchteten?
„Ruft den Rat jetzt sofort ein! Wir dürfen nicht noch mehr Zeit verlieren", befahl er seinem Gegenüber, der prompt tat, wie geheißen, von seinem Stuhl aufstand, sich knapp verbeugte und schließlich aufmachte.
Terek hatte viele Fragen, die er seinen Vertrauten stellen musste. Rede und Antwort würde er von ihnen, gerade in Anbetracht des widerlichen Schauspiels, dem er heute Morgen beiwohnen durfte, erwarten.
Noch fühlte er sich zu schwach, um die vielen Stufen zum goldenen Raum zu erklimmen, weshalb er kurzfristig entschied, den heutigen Rat im großen Sitzungssaal abzuhalten. In diesem tagte seinerzeit bereits der Sonnenkönig Necat, der die Pyramide erbauen ließ. Den riesigen, hohen Saal, mit dem immens großen Tafelrund darin, an den gut und gerne fünfzig Männer und Frauen passten, hatte er eigentlich immer als einen recht unpassenden Ort für seinen Rat empfunden. Immerhin waren es heute nur noch sein Stadtverwalter Yilbert, Hauptmann Hernak und sein Informant Malto, die zusammen mit ihm und Quensy zu Gesprächen zusammenfanden.
Noch zu Nobossops Zeiten drängten sich an diesem Tisch etliche Personen, die in Tereks Augen, gar nichts daran zu suchen hatten. So waren unter ihm auch Gäste aus dem Volk gerne in der Pyramide gesehen, die er ausgiebig mit Wein und gutem Essen bewirtete. Ja, Ratssitzungen unter dem wahnsinnigen Hohepriester entarteten schon mal gerne zu einem Festessen, bei dem auch das Feuerwasser in großen Mengen geflossen sein soll. Nobossop soll sich immer auch für die Meinung der einfachen Menschen interessiert, sich um ihr Wohlergehen gesorgt haben. Er gab sich nahbar und herzlich, als ein Mann des Volkes, wie die Alten, die ihn noch erleben durften, erzählten, als Terek noch ein kleiner Junge war. Wohl auch deshalb folgten ihm seine Kinder in den Krieg und bluteten für ihn auf dem Westkontinent aus.
Und das alles nur, weil er den falschen Weg, den er von der Mutter als vorgegeben sah, nicht hinterfragte. Nobossop wollte seinem Volk, das ihn so verehrte, eine neue Welt schenken. Ein großes Reich der Mutter. Und diese würde ihn als sein ganz besonderes Kind erwählen, so wie sie es einst mit Tasmanuk getan hatte.
Gleichzeitig konnte er hinter diesem Edelmut verstecken, dass es ihm in Wahrheit darum ging, die Anhänger des fremden Gottes der Westmenschen zu bekehren oder zu vernichten. Nach dem, mit viel Blut bezahlten, Sieg im Götterkonflikt des Ostens, sah er sich wohl selbst als der Mann, der dies als Einziger bewerkstelligen konnte.
Derartiger Narzissmus war Terek fremd. Er wollte nicht der Mutter gefallen, nicht dem Volk und schon gar nicht seinen Beratern. Wichtig war einzig und alleine, das Richtige zu tun.
Er dachte wieder an die Worte seines alten Freundes Zet, den er seit ihrem letzten Gespräch nicht mehr besucht hatte. Die ehemalige rechte Hand seines Vorgängers Sande sprach gerne kluge und weise Worte, doch hatten die Jahre einen verbitterten, alten Mann aus ihm gemacht. Sein Rat war nicht sehr hilfreich gewesen, wie Terek im Nachhinein feststellen musste. Und doch hatte ihn Zets Lösungsvorschlag lange Zeit beschäftigt.
Zu viele fremde Meinungen vernebelten einem die Sinne, machten es unmöglich den richtigen Pfad der Mutter zu sehen und diesem zu folgen. Genauso war es Nobossop ergangen, der sich von seiner feierlustigen Meute hat beeinflussen lassen. Ihm würde es nicht so ergehen, denn seine Zweifel hatte er längst beiseite gewischt. Längst war er wieder auf dem richtigen Weg, von dem man ihn zuvor noch abbringen wollte.
Yilbert Zur'Konyett durchbrach die Stille, als er mit hektischen Trippelschritten in den Saal platzte und auf Terek zusteuerte. Sein dünnes, schwarz-silbernes Haar, welches keinem noch so geringen Luftzug standhielt, zeigte wirr in alle Richtungen, als er keuchend und schnaufend vor dem Hohepriester zum Stehen kam.
„Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie hocherfreut ich bin, zu sehen, dass Ihr gesund von Eurer Reise zurückgekehrt seid", sprach er, nach Luft ringend, und umgriff mit beiden Händen den rechten Unterarm des Hohepriesters.
„Die Freude ist ganz meinerseits, werter Yilbert. Nehmt Platz! Ihr solltet Euch nicht überanstrengen", erwiderte Terek und warf dem grundsätzlich kränklich wirkenden Stadtverwalter ein mildes Lächeln zu.
Dieses Angebot nahm jener dankend an: „Ich bin nur froh, dass mir die unzähligen Stufen, empor zum goldenen Raum, heute erspart blieben. Die letzten Tage und Wochen sind leider nicht spurlos an mir vorbeigegangen. Ich strotze zurzeit nicht gerade vor Kraft, müsst Ihr wissen."
Terek nahm ebenfalls an dem Rund Platz, ließ jedoch einige Stühle zwischen ihnen frei, sodass er seinen Kopf nicht zu sehr verdrehen musste, um Zur'Konyett in die Augen zu schauen. Ohnehin blickte er ihm ja nur in sein linkes Auge, während dessen Rechtes unentwegt gegen die eigene Nase gerichtet war.
„Die Situation vor unseren Toren ist beängstigend, oh mein Herr. Wir können niemanden hereinlassen, aber wir können die Menschen auch nicht mehr nach Süden verfrachten. Hauptmann Kreum'Barbero behauptet, er könne keine Männer mehr zum Geleitschutz abstellen, da ansonsten die Verteidigung der Stadt nicht mehr gewährleistet wäre. Ich habe versucht mit ihm zu reden, aber Ihr wisst ja, wie er ist", redete Yilbert drauf los, kaum das sich Terek hingesetzt hatte.
„Wir werden diese Probleme gemeinsam besprechen", versuchte Terek zu beruhigen, als er bemerkte, dass sein Gegenüber schon wieder völlig außer Atem war.
Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, betrat auch schon besagter Oberbefehlshaber seiner Truppen, Hernak Kreum'Barbero, den Raum. Der vollbärtige Krieger grüßte, wortkarg wie immer, lediglich mit einem stoischen Nicken und setzte sich, weit weg von dem Stadtverwalter, an das Rund auf der gegenüberliegenden Seite Tereks.
Man konnte die Kälte, die zwischen den beiden Männern herrschte, förmlich am eigenen Leib spüren.
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