13 - Blut des Kayken (1)

Aufgewühlt kehrte Suki in die Hütte ihres Vaters zurück. Ihre Hände zitterten. Ob es Wut oder Trauer war, welche in diesem Moment überwog, als sie, entgegen der Tradition, selbst den Körper ihres Vaters dem Feuer übergab, würde sie auch im Nachhinein nicht mehr genau sagen können.

Sie wollte nur noch weg. Weg von dem Leichnam ihres geliebten Vaters und vor allen Dingen weg von ihrem Onkel Peseo, der bereits begonnen hatte Pläne zu schmieden, seinen Bruder zu beerben, als dieser noch nicht zu einem Teil des alten Volkes geworden war. Genau das war der Grund gewesen, weshalb er und seine Gemahlin Aneka überhaupt hierher gekommen waren. Bei ihrer Tante war sie sich sicher, dass sie keine bösen Absichten hegte, doch ihr Onkel, das wusste sie genau, war nur gekommen, weil er eine Chance gesehen hatte zur Macht aufzusteigen. Die Macht, die er seinem Bruder, ihrem Vater, nie gegönnt hatte. Seine Trauer und sein Mitgefühl ihr gegenüber waren nicht aufrichtig gewesen. Das hatte sie gespürt. Tief in ihrem Inneren war sie hiervon überzeugt.

Er war schon immer ein kühler, berechnender Mann gewesen. Niemand, der viel Zeit mit Gefühlen verschwenden würde, sondern jemand, der stets ein klares Ziel vor Augen hatte.

Alle, die ihn kannten, erzählten jedenfalls so über ihn und für Suki entsprach dies, ohne Frage, der Realität.

Sie konnte hören, wie sich jemand schnellen Schrittes ihrer Hütte näherte. Es war ihr Onkel, der hereingestürmt kam und, wie erwartet, nicht gerade erfreut aussah.

„Was hast du dir dabei gedacht?", blaffte er sie an und machte erst eine Handbreit vor ihrem Gesicht Halt. Suki war entschlossen ihren Blick nicht abzuwenden und schaute, ohne auch nur einen Anflug von Emotionen aufkommen zu lassen, ihrem Onkel in die dunkelgrünen Augen, die unter seinen buschigen, grauen Augenbrauen verärgert hervorblitzten.

„Bist du dir überhaupt im Klaren darüber, dass du das alte Volk mit deinem unwürdigen Benehmen verärgert hast? Wie stehen wir, wie stehst du jetzt da?"

„Es interessiert mich nicht, wie ich jetzt dastehe, Onkel", antwortete sie wahrheitsgemäß und war weiterhin bemüht keine Gefühlsregung zu zeigen.

„Das sollte es aber", erwiderte Peseo prompt.

Aneka betrat nun die Hütte, wie Suki in ihrem rechten Augenwinkel erkennen konnte. Ihre Tante war natürlich direkt völlig außer sich, als sie die Beiden in ihrer äußerst angriffslustigen Pose gegenüberstehen sah. Doch noch ehe die kleine, birnenförmige Frau intervenieren konnte, erhob ihr Mann seine rechte Hand und deutete ihr damit unmissverständlich an, dass sie sich jetzt nicht einmischen solle. Man sah Aneka an, dass sie in ihrem Handeln hin und hergerissen war, sich dann aber doch dafür entschied ihrem Gemahl Folge zu leisten.

Sie war eine besorgte, aber keine mutige Frau. Gewiss eine liebe, fürsorgliche Seele, aber unbrauchbar in einer Situation wie dieser.

Suki jedenfalls würde, anders als ihre Tante, nicht wie ein eingeschüchtertes, kleines Mädchen, vor diesem Mann zurückweichen. Sie hatte keine Angst vor ihrem Onkel, ja nicht einmal mehr Respekt. Nicht, nachdem er sich, vor wenigen Minuten, mit seinen Worten verraten hatte.

„Es sollte dich interessieren, was das Volk von uns hält. Ich strebe an, der nächste Kaysu der Buranier zu werden. Aber ich werde auch ohne diesen Titel nicht zulassen, dass unsere Traditionen mit Füßen getreten werden. Du bist das Blut des Kayken. Es stand dir nicht zu, deinen Vater den letzten Flammen zu übergeben."

„Ich bin nicht mehr das Blut des Kayken", erhob Suki ihre Stimme.

Für einen kurzen Augenblick glaubte sie Verwunderung in den Augen ihres Onkels gesehen zu haben.

„Wir haben keinen Kayken mehr. Das ist doch der Grund, weshalb du dich in unsere Siedlung geschlichen hast, Onkel. Deine geliebte Tradition hat dich doch all die Jahre von hier ferngehalten. Doch jetzt gibt es keine Tradition mehr, die dich davon abhalten könnte dich meinem Vater zu nähern."

Suki redete sich in Rage. Sie spürte, wie es in ihrem Hals pochte, wie das Blut in ihren Kopf stieg und die Wut sich über ihre Zunge entlud, in Worten über ihren Onkel ergoss: „Du sagst, es wäre nicht richtig, dass ich meinen Vater den Ahnen übergebe? Du sagtest ich verhalte mich unwürdig? Dieser Meinung darfst du ruhig sein. Ich dagegen finde es unwürdig, ja geradezu schändlich, wenn der Bruder des Kayken nun denkt, er müsse sich zum Kaysu der Buranier wählen lassen, mit dem Ziel am Ende die Krone, die er seinem eigen Fleisch und Blut nie gegönnt hat, tragen zu können. Es..."

Ihre Tante Aneka ließ vor Schreck, einen kurzen, spitzen Schrei los. Mit einem lauten Klatschen hatte Peseo seiner Nichte soeben eine derart gewaltige Ohrfeige verpasst, dass diese sich nicht mehr auf dem Platz, auf welchem sie gestanden war, halten konnte und zur Seite stolperte.

Suki hatte sich an dem kleinen Tischchen mit der leeren Wasserschale festgehalten, die prompt auf dem Boden gelandet war. Nachdem der erste Schock über diese plötzliche und unerwartete Handlung ihres Onkels verflogen war, bemerkte sie, wie ihre linke Wange immer heißer wurde und sich ein brennender Schmerz dort ausbreitete, wo er sie mit der flachen Hand getroffen hatte.

Das hatte sie nicht kommen sehen. War sie zu weit gegangen?

„Du solltest aufpassen, wie du mit mir redest, Suki!"

Ihr Onkel klang verärgert, während ihre Tante, die beide Hände über ihren Mund gelegt hatte, allem Anschein nach schon wieder den Tränen nahe war.

„Ich werde ein solches Benehmen nicht dulden", fügte er an und deutete, beinahe drohend, mit seinem Zeigefinger auf sie. Sein Gesicht war rot vor Zorn. Er war also doch zu Emotionen fähig, erkannte sie jetzt. Ihren Vater hatte sie nie zornig erlebt. Kaum zu glauben, dass dieser Mann, der da vor ihr stand, vom gleichen Blute war, wie der, den sie zuvor den Flammen übergeben hatte.

War sie denn wirklich die Einzige, die ihn durchschaute? Glaubte denn irgendjemand, der involviert gewesen war, dass der freudlose Peseo keine selbstsüchtigen Ziele mit seinen Plänen verfolgte?

Gerne hätte sie ihm erneut die Meinung gesagt, doch hatte sie plötzlich doch so etwas wie Respekt. Oder sollte man es Angst nennen? Angst vor weiteren Schlägen?

Noch bevor sie diesen Gedanken intensivieren konnte, betrat eine weitere Gestalt ihre Hütte. Ein großer Schatten, der sie alle überragte.

„Du solltest jetzt gehen", richtete dieser Jemand seine Worte an ihren Onkel.

Es war Boko, der ehemalige Kaymo ihres Vaters, der Peseo um fast eine Armlänge überragte.

Ihr Onkel, der bereits ein ganzes Stückchen weniger Körpergröße als sein großer Bruder maß, musste seinen Kopf in den Nacken legen, um zu dem Anführer der ehemaligen Leibgarde Pisaos aufblicken zu können.

Sie konnte den Gesichtsausdruck ihres Onkels nicht erkennen, da dieser ihr den Rücken zugewandt hatte. Bokos Blick, jedenfalls, war entschlossen und ernst. Nur wenige Augenblicke später, wandte Peseo sich noch einmal um, warf ihr einen letzten, grimmigen Blick zu und stapfte schließlich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ohne sein Gegenüber noch eines weiteren Blickes zu würdigen, hinaus in den neuen Nebel, der sich in stinkenden, schwarzen Rauchschwaden durch das Dorf ausbreitete, ehe er in Kürze mit dem alten Volk verschmelzen würde.

Fast schon entschuldigend wirkte der Ausdruck auf Anekas Gesicht, welcher ihre Tante ihr mit ihrem letzten Blick schenkte, ehe sie ihrem Mann hinterher eilte. Aneka war nicht zu beneiden. In ihren Augen hatte Suki gesehen, dass das Bedürfnis, mit ihrer Nichte zu sprechen, groß gewesen war. Doch die Loyalität ihrem Ehemann gegenüber war schlichtweg stärker, was ihr spürbar unangenehm schien. Suki würde ihrer Tante keine Vorwürfe deswegen machen. Vermutlich bildete sie sich immer noch ein, dass dieser Mann genau die gleiche Liebe für sie empfand, wie umgekehrt. Das hatte sie schlichtweg nicht verdient, fand Suki, doch würde Aneka sich niemals eingestehen, dass sie tief im Innern eine unglückliche Frau war.

„Danke!", sprach Suki zu Boko, der nur mühsam sein Gesicht wieder entkrampfen und seine Lippen zu einem angedeuteten Lächeln formen konnte. Seine glasigen Augen wirkten so müde, ja selbst sein langer weißer Bart vermittelte den Eindruck, als würde er schlaff und in Trauer von seinem Kinn herabbaumeln, sofern Bärte zu so etwas überhaupt imstande wären.

„Du hättest dich, meinem Onkel gegenüber, nicht so benehmen sollen", war das Erste, was sie über die Lippen brachte. Es war ihr ein wenig unangenehm, dass Boko sie so sehen konnten, mit dem rotgefärbten Abdruck von Peseos Hand auf ihrer Wange, welche immer noch kribbelte und brannte und die sie mit ihrer linken Hand bedeckte.

„Auch wenn er dein Onkel ist, er darf dich nicht schlagen. Ich habe deinem Vater versprochen, dass ich dich beschütze, dass ich dich über alles andere zu stellen habe", entgegnete er trocken, als hätte er bereits erwartet, diese Antwort geben zu müssen.

„So pflichtbewusst wie eh und je", dachte sich Suki und musste darüber lächeln. Auch wenn dies ganz sicher nicht seine Intention gewesen war, so hatte Boko doch dafür gesorgt, dass es ihr mit einem Schlag wieder ein wenig besser ging.

„Du musst mich nicht vor meinem eigenen Onkel beschützen, Boko. Überhaupt musst du mich vor niemandem beschützen. Vater ist tot. Der Tod des Kayken entbindet den Kaymo von all seinen Pflichten."

Damit hatte sie einen wunden Punkt bei ihm getroffen, denn sofort sank sein Blick wieder gen Boden.

Erst jetzt wurde ihr richtig klar, wie alt Boko in Wirklichkeit war. Als wäre er seit dem Attentat um eine beachtliche Lebenszeit gealtert. Hängende Schultern, schlaffe Brust, müde Augen, die Haare beinahe so weiß wie seine Haut. Nichts von dem, was ihn einst zum ersten Krieger des Kayken gemacht hatte, war mehr mit bloßem Auge zu erkennen.

„Du hast Recht", begann er mit leiser Stimme, erhob dann allerdings sein Haupt und blickte Suki direkt an.

„Ich habe keine Pflichten mehr. Mein Kayken ist tot. Meine Männer sind tot. Es bleibt mir nichts mehr. Ich bin ein alter Mann, ohne Frau, ohne Familie, ohne Freunde, ohne Freude. Was mir bleibt ist ein Platz bei meinen Ahnen. Den Ahnen, denen ich, durch mein Versagen, Schande gebracht habe."

„Du hast niemandem Schande gebracht. Du hast deine Pflicht erfüllt. Du hast mich gerettet. Du hast, über den Tod meines Vaters hinaus, dessen Befehle ausgeführt. Darauf solltest du stolz sein. Ich jedenfalls stehe in deiner Schuld. Eine Schuld, die ich nicht begleichen kann. Ohne dich wäre ich womöglich tot", konterte Suki, doch stieß sie dabei auf taube Ohren.

„Mein Stolz und deine vermeintliche Schuldigkeit sind etwas, das nicht von Belang ist. Ich habe meine letzte Pflicht getan. Jede Form von Dank hierfür wäre unangebracht. Alles was für mich jetzt noch von Wert sein könnte, was meine Schande tilgen könnte, bist du, Suki. Wenn du jedoch meinen Schutz ablehnst, habe ich jeden Sinn und Zweck meines Lebens verwirkt. Es geht hier nicht mehr um meine Pflicht, sondern es geht darum, dass ich deinem Vater schuldig bin, dich an seiner Stelle zu beschützen."

Im ersten Moment wusste Suki nicht wirklich, wie sie auf Bokos Worte reagieren sollte. Es war ihr fast ein wenig peinlich, dem Angebot des alten Kriegers zuzustimmen. Doch lag er auch richtig mit dem was er sagte. Er hatte alles verloren. Sein Leben war jeglichen Sinnes beraubt. Selbst wenn ihr Onkel zum Kaysu gewählt werden würde, wäre dieser zu stolz um dem Mann, der seinem großen Bruder stets treu gedient hatte, zu einem Mitglied seiner Leibgarde, geschweige denn zu deren Anführer, zu machen.

Schließlich kam auch der Gedanke an ihre eigene Position in der buranischen Gemeinschaft. Sie hatte Aneka, die sich um sie sorgte, doch würde diese sich im Zweifelsfalle immer auf die Seite ihres Mannes schlagen. Wie ein solcher Zweifelsfall genau aussehen sollte, wollte sie sich lieber nicht ausmalen, doch wäre es da nicht besser, wenn sie jemanden wie Boko an ihrer Seite stehen hätte?

Es wäre ein Fehler, den sie vermutlich irgendwann bereuen könnte, würde sie das Angebot des ergrauten Kriegers ablehnen und so nahm sie seine Offerte letztlich an.

Keine großen Worte wurden gesprochen, keine feierlichen Eide geschworen.
Boko ging lediglich auf sein rechtes Knie herab, senkte sein Haupt und schwor der Tochter seines ehemaligen Kayken sie, wenn nötig, mit seinem Leben zu beschützen, ehe er sich wieder erhob.

Ein unangenehmes Schweigen breitete sich nun in Sukis Hütte aus, weswegen sie sogleich versuchte auf ein völlig anderes Thema zu wechseln.

„Weißt du, was sie mit den Leichen von Dis Vater und dem Spitzkinn gemacht haben?", war das Erstbeste, dass ihr schließlich einfiel.

„Die Leichen der Erdenläufer, sowie die des Attentäters haben sie in der ehemaligen Hütte von Kutuk untergebracht. Wir können sie nicht den Flammen übergeben."

Boko legte eine kurze Pause ein, ehe er, mit einem beinahe schuldig klingenden Unterton fortfuhr: „Wir wissen leider immer noch nicht, wer der Mörder deines Vaters ist. Er hat schneeweiße Haut wie ein Buranier, doch niemand weiß wer er war. Sein Gesicht ist nur noch..."

Er ersparte sich die Vollendung des Satzes, doch wusste Suki bereits von ihrem Onkel, dass von dem Gesicht dieses Mannes nicht mehr viel übrig geblieben war. Er wisse nicht, welch fremde Macht zu soetwas imstande wäre und war sich sicher, dass Diekes Begleiter in diese Sache verwickelt waren.

Dies machte er auch an den angeblichen Beobachtungen fest, wonach es zwei der Erdenläufer gewesen sein sollen, die Bokos Männer auf dem Gewissen hatten. Ebenso wie Dis Vater und Spitzkinn. Buranier und Erdenläufer als Täter. Buranier und Erdenläufer als Opfer.

Es war alles so verwirrend und machte rein gar keinen Sinn. Sie wusste daher nicht mehr, was sie denn glauben sollte. 

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