11 - Die Regentin (3)
Zustimmendes Nicken und unverständliches Gemurmel folgte auf die Worte des blinden Gelehrten.
Bohns trug einen großen, auffälligen Verband um seine Stirn, den er immer wieder mit seinen knochigen Fingern berührte.
An einem Stuhlbein hängen geblieben und gegen seinen Tisch geprallt, war die kurze und bündige Zusammenfassung der Ursache seiner Verletzung.
„Auch die geschärften Sinne eines Blinden, nehmen im Alter ab", hatte er gescherzt und sich an seinen Platz am großen Ratstisch führen lassen.
Der kleine Dieke hatte ihn heute wieder begleitet. Dabei wirkte er gar nicht mehr so klein und hilflos, wie an dem Tag, als sie ihm das erste Mal begegnet war.
Anders als an den sonstigen Tagen, vermittelte seine Körpersprache heute Müdigkeit und geistige Abwesenheit. Im Gegensatz zu dem kahlköpfigen Jungen, den Bohns noch neben ihm beschäftigte, war Dieke für gewöhnlich jedoch sehr aufmerksam. Er konnte sich glücklich schätzen, für Bohns arbeiten zu dürfen. Wenn man bedachte, dass seine Alternative Waisenhaus hieß, hatte er sich doch für die weitaus bessere Variante entschieden.
„Mit Verlaub, ich möchte niemanden mit meiner Unwissenheit brüskieren", ergriff erneut Herwet das Wort, „deshalb möchte ich auch schon einmal vorauseilend um Verzeihung bitten. Wer aber sagt, dass die Namuner uns überrennen werden? Ist es denn nicht so, dass sie kaum mehr über seetüchtige Schiffe verfügen?"
„Das kann ich so nicht bestätigen", schaltete sich nun Ullmer Garns ein. Der ‚Mann des Volkes' war ein breitschultriger Koloss von einem Mann, mit einem dunkelbraunen Bart, der ihm bis zu seiner Brust reichte. Andere Männer nannten ihn ‚den Bären', da nicht nur seine Arme, sondern angeblich sein ganzer Körper von dickem Fell überzogen war. Saebyl scherzte gerne, und das tat sie selten, dass Ullmers Mutter sich einst von einem echten Bären hat schwängern lassen.
„Unsere Informanten berichten, dass Surme und die anderen Hafenstädte kaum noch über seetüchtige und gleichzeitig auch kriegstaugliche Schiffe verfügen. Wir wissen jedoch nicht, über welche Flotte der König verfügt. So weit in den Norden reichen die Fühler meiner Leute vor Ort nicht", gab er zurück.
„Was ist mit den Spionen des Tais?", wollte Herwet schließlich wissen und trieb dem Bären damit die Zornesröte ins Gesicht.
Lena wusste, dass Garns in erster Linie deshalb nicht gut auf den Handelsherren zu sprechen war, da sich auch ihr Vater gerne mit den Informationen der ostländischen Spione eingedeckt hatte. Tai Fisi verfügte, alleine schon durch die Schiffe der Seeblockade, über ein riesiges Netzwerk von Informanten, die die namunschen Häfen und Hafenstädte für Venua ausspionierten. Garns hingegen hatte vergleichsweise nur wenige Männer und Frauen für sich gewinnen können, die ihn mit Neuigkeiten über den Tiefwasser hinaus versorgen konnten.
„Der Tai wird die aktuellen Neuigkeiten aus dem Osten höchstpersönlich überbringen, wenn er mit seiner Gefolgschaft hier eintreffen wird. Dies wäre ihm, wie er berichtete, eine große Ehre", gab Jessel Schooke bekannt und bezog sich damit auf den letzten Brief, den Maku Ciwysel kurz vor dessen Abreise erhalten hatte.
„Unverantwortlich uns möglicherweise wichtige Informationen so lange vorzuenthalten. Unsere Regentin hat das Recht darauf, unmittelbar alle relevanten Neuigkeiten zu erfahren", empörte sich Bohns, der wohl nur darauf gewartet hatte, mal wieder ein paar anklagende Worte gegen den Tai richten zu können.
Just mit diesen beiden Sätzen löste er ein wildes Durcheinander an Wortmeldungen aus, in dem jeder den anderen zu übertönen versuchte. So alt und so weise, doch benahmen sie sich manchmal wie unreife Kinder, dachte Lena und ließ ihren Blick zur Seite schweifen, wo sie sich erneut selbst bewundern durfte.
Auf dem Werk von Abarys Geniva wirkte sie stark, entschlossen und unerbittlich. Das Schwert erhoben, als wolle sie ihren Feinden sagen „Kommt her und ich werfe Euch zurück auf Euren verdorbenen Kontinent".
Eine Regentin, die gewillt war ihrem Volk die goldenen Zeiten, die ihr Großvater beschert und ihr Vater gesichert hatte, weiterhin zu erhalten.
Das war sie, ganz sicher. Das hatte sie sich zum obersten Anliegen gemacht. In dieser Sache war sie zumindest entschlossen.
Doch saß sie nun da, hörte ihren Beratern zu, wie sie sich stritten und plötzlich über Dinge diskutierten, die ihr Vater längst entschieden hatte.
Ein dummes, kleines Mädchen würde sich das alles anhören, würde das Dröhnen in seinem Schädel hinnehmen, welches gerade aus den Untiefen emporzusteigen drohte, und würde sich nicht beschweren.
Es war ihre Faust, die auf den Tisch aufschlug und die die gackernden Hühner in den edlen Gewändern prompt verstummen ließ. Alle Blicke waren auf sie gerichtet. In den Augen der Männer funkelte Verwunderung, wie auch Verwirrung. Für einen kurzen Augenblick genoss sie die irritierten Blicke, während ihr Herz klopfte, als hätte sie gerade wieder das Tier in Mendos Augen erspäht. Stille. Das war es, was sie wollte. Das war, was sie bekam. Sie war die Regentin. Wer, wenn nicht sie, konnte Stille an diesem Tisch einfordern?
„Meine Herren", begann sie mit ruhiger Stimme, darauf bedacht ihre freundlichste Miene aufzusetzen, „es ist nicht nötig, dass wir uns über Dinge streiten, die längst beschlossen sind, respektive die wir nicht ändern können. Wir werden die militärische Aufrüstung zu unserem eigenen Schutz weiter vorantreiben. Sobald meine beiden Schwerter hier eintreffen, werden wir mit ihnen zusammen erörtern, inwiefern sie uns in der Übergangszeit unterstützen können. Sollten aktuell noch irgendwelche Unklarheiten bestehen, so bitte ich darum, dass diese jetzt, in gesitteter Manier, angesprochen werden."
Als niemand sich regte, erhob sie sich von ihrem Platz und überblickte die Runde von oben: „Wir werden unsere nächste Sitzung zusammen mit unseren Gästen abhalten. Ich wünsche Euch allen einen angenehmen Abend."
Noch bevor auch nur einer ihrer Berater Anstalten machte von seinem Platz aufzustehen, war sie auch schon durch die Türe verschwunden und steuerte ihr Gemach an.
Jessel Schooke hatte bereits vorgeschlagen, das ehemalige Zimmer ihres Vaters für sie herrichten zu lassen, doch das hatte sie höflich abgelehnt.
„Kein Platz für Nostalgie", sagte sie noch einmal in Gedanken zu sich, doch es war so schwer.
Zwar ließ sie es sich nach außen hin nicht anmerken, doch ihre Trauer war noch immer frisch. Die Hoffnung war da gewesen, diese Phase mit seiner Beerdigung hinter sich lassen zu können, doch die Wahrheit war, dass sich in ihr drinnen rein gar nichts geändert hatte.
Immer wieder, gerade in den einsamen Stunden, schwirrten diese, zu Geistern gewordenen, Gedanken in ihrem Kopf umher, die ihr immer wieder die Frage stellten, ob sie ihrem Vater nicht vielleicht hätte helfen können.
Sicher, sie hatte Hennis Krug um Hilfe gebeten, doch war dies bereits alles gewesen, was in ihrer Macht stand? Bedauerlicherweise konnte er ihr nicht helfen, doch immerhin hatte er den Anstand dies zuzugeben. Sämtliche anderen Menschen, die versucht hatten ihrem Vater Besserung oder gar Heilung zu bringen, dies teilweise sogar vollmundig versprochen hatten, waren mit ihren Kräutern und Tränken, ihren Blutegeln, den Heilbädern und was sie nicht alles versucht hatten, gescheitert. Einzig seiner wertvollen Zeit hatten sie ihren Regenten beraubt.
Als sie noch klein war, hatte ihr Vater alles versucht, sie von ihrem Alptraum zu befreien. Sie hingegen liebte ihren Hauptmann, als er ihre Hilfe benötigte.
Und mit einem Male fühlte sich ihr springendes Herz, das Kribbeln in ihrem Bauch, die beinahe benebelnden Gedanken und Empfindungen, die Mendo in ihr auslöste, wie etwas Schlechtes, etwas Verabscheuungswürdiges an.
Sie wusste, dass sie solche Gedanken nicht denken sollte. Ihr Vater wäre der Letzte gewesen, der gewollt hätte, dass sich seine Tochter wegen ihm Vorwürfe macht.
„Irgendwann bist du den Traum ja auch losgeworden. Ich muss also nur warten", waren seine letzten Worte gewesen, die er über jenes Thema verlor. Doch glaubte er das wirklich?
Linhard und Frix standen heute Wache vor ihrer Türe. Gute Männer, stark und grimmig dreinschauend. Teilweise etwas schroff, aber sehr pflichtbewusst. Vaters ehemalige Wachen. Die Besten, wie Palasthauptmann Tenth Barke, das wandelnde Bierfass, nicht müde wurde zu betonen. Und nur die Besten kamen schließlich für die Regentin in Frage.
Ihre eigenen vier Wände. Der letzte Rückzugsort, der ihr geblieben war, wo sie sich nicht verstellen musste. Sie entledigte sich ihrer Kleidung, was sich wie eine zusätzliche Befreiung anfühlte, und ließ sich rücklings auf ihr Bett fallen. Nackt und, zumindest für eine kurze Zeit, einiger ihrer Lasten entledigt, lag sie da und schloss ihre Augen. Sie genoss die Stille. Dumpf drangen die Gesänge der Vögel durch das geschlossene Fenster. Ihre Lieder vermischten sich mit den Sorgen in ihrem Kopf und milderten diese immerhin insofern, dass sie, schneller als zuletzt gewohnt, in die Traumwelt eintauchen konnte.
Keine Flammen, keine dunklen Schluchten, kein kleines Mädchen, welches sich kampflos der Dunkelheit hingab, bestimmten die Bilder ihres Traumes.
Stattdessen lief sie über eine grüne Wiese, der Himmel über ihr strahlend blau. Sie konnte sogar die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut spüren. Eine beinahe fremdartig wirkende Fröhlichkeit überfiel sie und nistete sich in ihrem Kopf ein.
Sie breitete ihre Arme aus und versuchte, wie die elegant über ihr segelnden Tauben, sich von den Winden in die Lüfte tragen zu lassen. Wie schön wäre es, wenn sie einfach nur ihre Arme auf und ab bewegen müsste und anschließend gen Himmel steigen und davon schweben könnte? Straßen, Pfade und Brücken wären dann obsolet, ebenso wie Schiffe. Sie käme überall dorthin, wohin sie wollte. Ganz gleich ob nach Osten oder Westen, Namun oder der gefrorene Kontinent. Vielleicht gab es ja noch andere Kontinente, jenseits der bekannten Welt, die sie entdecken und erkunden konnte? Wer wusste das schon?
Ein entferntes Rufen ließ sie den Weg zurückblicken, den sie gelaufen war. Sie konnte die weit entfernte Gestalt genau erkennen. Es war Hela. Sie lebte. Natürlich lebte sie. Wann sollte sie gestorben sein?
Lena durchquerte erneut das grüne Meer aus Gras und Blumen, unter dem blauen Ozean über ihr, und fiel ihrer lieben Freundin um den Hals. Sie konnte ganz klar ihren unverkennbaren Duft einatmen.
Als sie ihre Augen wieder öffnete, sah sie ihren Vater neben ihnen stehen. Er lächelte sie an: „Warum weinst du, kleine Lena?", fragte er beinahe belustigt.
„Ich habe geträumt ihr wärt tot", brach sie schließlich endgültig in Tränen der Freude aus.
Er hatte sich nicht verändert, war ganz der Alte. Doch weshalb hätte er jemand Anderes sein sollen? Sein Duftwasser roch nach Mohnblumen als sie auch ihn in ihre Arme schloss und sich schwor nie wieder loszulassen.
„Ihr müsst aufwachen, meine Regentin", flüsterte er in ihr linkes Ohr, doch schüttelte sie nur mit dem Kopf.
„Niemals! Ich will nicht. Ich will dich und Hela nicht wieder verlassen", schluchzte sie und drückte sich nur noch fester an seine Brust.
„Ich brauche Euch. Ich will nicht alleine sein. Ich kann nicht alleine sein!"
„Ihr müsst aufwachen", sprach er erneut, dieses Mal etwas fordernder und als sie ihn immer noch ignorierte, packte er sie an ihren Armen und schubste sie von sich weg.
Es klopfte an die Türe. Der Stimme nach zu urteilen, war es die kleine sommersprossige Sira, die sie aus ihrem Traum geholt hatte: „Ihr müsst aufwachen!", wiederholte sie nun schon zum vierten Male.
Lenas Herz trommelte in ihrer Brust. Nicht das schöne Herzklopfen, welches sie so mochte. In ihrem Armen hielt sie ihr Kopfkissen, welches getränkt war von Schweiß und Tränen. Ebenso wie ihr Gesicht, was sie dazu veranlasste es rasch mit dem Handrücken trocken zu wischen. Ihre Zehen und Finger, ebenso wie ihre Nasenspitze waren kalt wie nackter Stein, obwohl sich draußen bereits wieder ein weiterer warmer Tag ankündigte und die ersten Sonnenstrahlen schon längst durch ihr Fenster fielen. Noch bevor Sira ihrem nunmehr fünften Klopfversuch ein weiteres „Aufwachen" folgen lassen konnte, antworte Lena mit einem heiseren „Ich bin bereits wach" und musste sich im Anschluss erst einmal ausgiebig räuspern.
„Das Schwert der Westlande, Millot Menk, und seine Gefolgschaft haben bereits den Moteem überquert und werden bereits schon in wenigen Stunden die Hauptstadt erreicht haben. Ich dachte, Ihr benötigt etwas Zeit, um Euch auf deren Empfang vorzubereiten. Wenn Ihr Hilfe beim Waschen oder Einkleiden benötigt, gebt mir Bescheid!"
„Danke Sira, aber ich komme ohne deine Hilfe aus", gab sie zurück und konnte anschließend deutlich hören, wie ihre Bedienstete auf dem Absatz kehrt machte und wortlos von dannen zog.
Lena vergrub ihr Gesicht in ihrem Kopfkissen und begann von Neuem zu weinen, allerdings so leise, dass niemand sie hören konnte. Laut plärrten nämlich nur die dummen, kleinen Mädchen.
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