11 - Die Regentin (1)
Sie nahm den Dolch in die rechte Hand und blickte in ihr Spiegelbild, welches sie von der blank polierten Oberfläche der Klinge aus anstarrte. Einst hatte er ihrem Vater gehört.
Die kleinen, roten Edelsteinchen, die in den vergoldeten Griff eingearbeitet waren, hatten ihr schon als junges Mädchen so gut gefallen. Hela erklärte ihr damals, dass es sich dabei um Rubine handele. Die gute, alte Frau hatte sie die Waffe allerdings nie anfassen lassen, da sie fürchtete, Lena könne sich daran verletzen. Heute würde niemand mehr auf die Idee kommen sie zu tadeln, weil sie sich möglicherweise an der scharfen Klinge schneiden könnte, die halb so lange war, wie ihr Unterarm.
Und doch war es ein seltsames Gefühl, das sich in ihr regte, als sie dieses Tötungswerkzeug in Händen hielt.
Hatte sich ihr Vater ebenfalls so alleingelassen gefühlt, als dessen Vater und später noch seine Mutter von ihm gegangen waren?
Für sie war das schwer vorstellbar. Immerhin hatte er ja noch seine geliebte Emara, ihre Mutter, die sie leider nie kennenlernen durfte.
Ihr Vater war zudem ein starker, ein kluger und ein selbstbewusster Mann. Man achtete und respektierte ihn, man vertraute und folgte ihm. Trauer war nichts, was ihn lange hätte belasten können.
Und was war mit ihr?
Sie blickte in ihr Spiegelbild, wie das kleine Mädchen von einst und wusste nicht, was sie jetzt tun sollte. Das dumme, kleine Mädchen, welches sie immer noch war, welches immer noch ihren kindischen Haarzopf trug, welches immer noch Tränen für ihr Kindermädchen Hela vergoss. Jene Frau, die einst prophezeite, dass Lena einmal eine gute Regentin werden würde.
„Was hätte sie auch sagen sollen?", dachte sie sich.
Bald würden ihre beiden Schwerter in der Hauptstadt eintreffen, das Grab ihres Vaters besuchen und ihr das Beileid aussprechen. Sie hatte mittlerweile genug von den leeren Bekundungen. Sie sorgten weder dafür, dass sie sich besser fühlte, noch brachten sie ihren Vater zurück.
Die Zeiten des Egoismus waren nun ohnehin vorbei. Venua stand nun im Vordergrund.
Sie musste nun das Reich verwalten, den Frieden erhalten und sich im Zuge dessen auch noch mit den Problemen über dem Wasser beschäftigen. Schließlich drohte ihr aus Namun noch immer diese unheilvolle Allianz, bestehend aus dem Hohepriester der Mutter, dem fremden König und dessen Streitkräfte unbekannter Stärke. Eine Bedrohung, die ihren Vater gar so weit trieb, einen Frieden mit den Barbaren der Zweitwelt schließen zu wollen, um auch deren Männer gegen den Feind aufzureihen. Es brachte ihm nur den Tod des guten Elisus Hofken.
Am liebsten hätte sie sich in ihrem Bett verkrochen, die Decke über den Kopf gezogen und ihr Zimmer nie wieder verlassen. Doch stand dies nur einem dummen, kleinen Mädchen zur Wahl, das den Dolch seines Vaters noch immer dafür benutzte, sich darin zu spiegeln und an den roten Rubinen zu erfreuen. Sie wandte ihren Blick von der Klinge ab und ließ ihn stattdessen aus ihrem Fenster wandern. Sie konnte von hier in den schwarzen Hort blicken, jener Stadtteil, in welchem die schwarze Kaserne lag, deren Mauern bereits jetzt, zu Zeiten des beginnenden Dämmerlichtes, wirkten, als wären sie schon in die Schatten der Nacht getaucht. Irgendwo dort lag auch die Hütte von Mendo Warigna, ihrem wohl letzten Glück auf dieser Welt.
Doch realisierte sie nun, dass sie sich auch diesen Egoismus nicht mehr leisten konnte.
Sie war die letzte ihres Blutes. Wollte sie etwa einen Erben mit einem Bastard zeugen? Dem Sohn eines gerichteten Frauenschänders? Es tat ihr regelrecht weh diese Gedanken zu denken, doch würde sie ihr Volk beleidigen, eventuell sogar gegen sich aufbringen, wenn sie diese Liebe weiterhin zuließ.
Sie setzte sich auf ihr Bett nieder. Warm und kalt durchfuhr es ihren Körper. Sie wünschte sich die Zeit zurück, in der Hela auf sie aufpasste und ihr Vater noch lebte. Die Zeit, in der andere die Entscheidungen für sie trafen. Jene Zeit, in der sie stets um Rat fragen konnte. Keine Ratschläge, die sie sich von alten Männern in langen Roben einholen musste, sondern welche, die nur die Menschen erteilen konnten, die wussten, wie es in ihr drinnen aussah.
„Die unbeschwerte Zeit wird nie wieder zurückkommen", sprach eine Stimme in ihrem Kopf. Es war die neue Lena, die erwachen musste. Die neue Lena, die ihrem Vater, ihrem Großvater, ja auch Hela, keine Schande machen wollte. Das konnte nur funktionieren, wenn sie das dumme, kleine Mädchen, das tief in ihr wohnte und welches sich vehement weigerte seine Tränen zu stoppen, loswerden würde. Sie musste es mitsamt ihrer Tränen in eine dunkle Kiste sperren und den Schlüssel wegwerfen, auch wenn es ihr schwerfiel. Zu Anfang würde es sich wehren, beißen, kratzen, treten. Es würde versuchen Löcher in die Kiste zu schlagen und ihr zu entkommen, doch alleine durch die Selbstdisziplin der neuen Lena würde es sich irgendwann beruhigen und seinem Schicksal ergeben.
Womöglich gehörte das zum Erwachsenwerden dazu. Und wann, wenn nicht jetzt, war dieser Zeitpunkt auch für sie gekommen.
Nachdem sie mehrere Minuten, auf ihrem Bett liegend, gegen die Holzdecke gestarrt hatte, rappelte sie sich wieder auf. Sie ergriff erneut den Dolch ihres Vaters. Obwohl die Klinge auch nach all den Jahren noch sehr scharf gewesen war, benötigte es einige Schnitte, bis sie ihn endlich abgetrennt hatte. Als er zu Boden fiel, fühlte es sich wie ein tonnenschwerer Ballast an, der sich von ihr löste. Da lag es. Ein Stück des kleinen Mädchens. Und noch während sich das schwere Bündel Haare im Fallen befand, drehte sich der Schlüssel der kleinen Kiste in ihr drinnen um und schloss ab.
In der folgenden Nacht wurde sie wieder Zeuge davon, wie das kleine, unbekannte Mädchen in die bodenlose Schlucht stürzte. Es war nicht der Aufprall der es tötete. Es würde keinen Aufprall geben, das wusste Lena genau. Das Mädchen ertrank stattdessen in der Dunkelheit.
Auch die lodernden Flammen am Himmel über ihr brachten kein Licht dar. Es war nur Hitze, unerträgliche Hitze, die sie schweißgebadet in aufrechte Position brachte. Ihr Herz klopfte wie wild.
Als sie endlich realisierte, dass es sich abermals um ein und denselben Traum gehandelt hatte, wusch sie sich erleichtert die kühle Feuchte von der heißen Stirn.
Wann würde dieser unsägliche, nächtliche Unsinn sie endlich in Ruhe lassen?
Sie hatte das kleine Mädchen doch in die Kiste gesperrt, wieso also träumte sie noch dessen Träume?
Die vorigen Tage waren geprägt von, nicht enden wollenden, Ratssitzungen.
Nach dem Bekanntwerden von Hofkens Tod, war es intern zu heftigen Streitereien gekommen, ob des Alleinganges ihres Vaters. Er hatte niemanden, außer Hofken und Bollet selbst, in seine Pläne involviert.
„Wenn er nicht einmal sein eigen Fleisch und Blut über seine Pläne unterrichtet hat", meinte Perem Penthuys, „können wir nur weiter auf ein Lebenszeichen von Ansakar warten."
„Oder aber", warf der blinde Gunnet Bohns in seiner sarkastischen Art ein, „wir stellen uns auf das nächste Gesindel innerhalb unserer Hallen ein, welches uns abenteuerliche Geschichten ihres zweifelhaften Heldenmutes auftischt."
„Wessen Unterstützung sollte Bollet denn gewinnen wollen?", lautet wiederum Kal Zigels Frage, „Etwa die der Eismänner des gefrorenen Kontinents? Oder der Verbrannten der schwarzen Inseln? Das sind doch noch größere Wilde, als die namunschen Mutterkinder. Hätte man mich nach meiner Meinung gefragt, ich hätte von derlei Bündnissen abgeraten. Wir haben die Seeblockade des Tais und in Bälde die am Besten ausgebildete Armee, die die Welt je gesehen hat. Ich jedenfalls fürchte mich nicht vor Nobossops Erben."
„Wir werden weiterreden, wenn wir dies nicht mehr auf Basis von Spekulationen tun müssen", meinte Penthuys und schloss das Thema vorerst ab, nachdem er sich ein zustimmendes Nicken seiner Regentin eingeholt hatte. Dabei mochte Lena nur endlich wieder ihre Ruhe haben und zurück in die Stille ihres Zimmers flüchten.
Wären da nicht noch die Vorbereitungen gewesen, welche für das geplante Festmahl mit den ost- und westländischen Delegationen, zu Ehren ihres Vaters, zu treffen waren.
Der große Saal sollte eigens hierfür festlich hergerichtet werden, hatte sie gemeinsam mit Jessel Schooke und Gurravo Shrink beschlossen. Vielmehr lautete die Erklärung des Palastverwalters, dass es in höchstem Maße unverschämt sei, wenn sie ihre Schwerter nicht gebührend empfangen würde.
Zu gerne hätte sie ihm entgegnet, dass sie weder den alten Menk, noch den Tai hätte sehen wollen, aber das wäre etwas gewesen, das ein dummes, kleines Mädchen gesagt hätte. Nicht die Worte der Regentin.
Ben Lewel wusste von einem Vorreiter zu berichten, dass die Gäste aus den Westlanden in zwei Tagen, also voraussichtlich am morgigen Abend, in der Hauptstadt eintreffen würden.
Tai Fisis Mann, Maku Ciwysel, ließ ebenfalls nicht lange auf sich warten und kündigte das Erschienen des obersten Handelsherren ebenfalls für den übernächsten Tag an. Eine eigene Eskorte der Stadtwache, unter Führung von Mendo Warigna, habe sich auf den Weg nach Venhaven gemacht, um den Tai und seine Männer dort in Empfang zu nehmen.
Auf das Schwert der Ostlande war Lena am meisten gespannt. Sie kannte ihn nur von Hörensagen und den Korrespondenzen zwischen ihm und ihrem Vater.
Palu Venua hatte nie schlecht über ihn gesprochen, hielt ihn für einen höflichen, intelligenten, wie auch eloquenten Mann. Kein Vergleich mit dessen Vater Tai Jogoo, der den Osten bluten ließ, als er sich für die Seite Namuns entschieden hatte.
„Unsympathischer Geist, genau wie sein Vater", hatte Gurravo Shrink einmal völlig unvermittelt über den Tai bemerkt, als er und Schooke gerade dabei waren, die Beschaffungsliste für die Zutaten der ostländischen Gerichte zu überfliegen. Saebyl und ihre Helfer würden natürlich für die Delegationen auch deren gewohnten Speisen zubereiten, damit diese sich heimisch fühlen konnten.
Der blinde Bohns formulierte seine Abneigung gar noch deutlicher, verpackt in einen Ratschlag: „Der Handelsherr ist ein elender Straßenköter. Eingehüllt zwar in die edelsten Gewänder und Düfte, aber dennoch ein stinkender Köter. Ich möchte Euch keine Angst machen, meine Regentin, aber mehr als ein paar Höflichkeiten solltet Ihr besser nicht mit ihm austauschen."
Lena wusste seine Abneigung jedoch richtig einzuordnen. Bohns hatte seine vier älteren Brüder, während des großen Krieges, in Sicirigu verloren. Eine etwa zweihundert Mann umfassende, berittene Nachschubstruppe der Mittlande war damals hinter Tiefwasserbrück von ostländischen Truppen, die von besagter Schlacht am Tiefwasser geflohen waren und sich in den Wäldern neu formiert hatten, in einen Hinterhalt gelockt und dort massakriert worden. Sie hatten den Ausgang eines engen Passes blockiert und die gefangenen Reiter anschließend unter einer Steinlawine begraben. Vermutlich blieben die Männer deshalb von den westlichen Spähern unentdeckt, weil sie sich in den hohen und dicht stehenden Bäumen versteckt hielten.
Es musste schrecklich sein, in der Gewissheit leben zu müssen, dass jemand, in bösartiger Absicht, einem lieben, nahen Menschen das Leben nahm. Doch galt dies für beide Seiten. Kein Krieg ohne Opfer, relativierte sie für sich im Anschluss.
Doch wie war das bei den anderen alten Herren, die keine Kriegsverluste zu beklagen hatten und dennoch, zumindest die Nase rümpften, wenn man über Tai Fisi sprach? Woher kam ihre Abneigung?
Ihr Vater hatte tatsächlich einmal erwähnt, dass der Tai ein sehr stattlicher und ansehnlicher Mann wäre. Was das aus seinem Munde heißen sollte, würde sie schon sehr bald sehen.
Vermutlich aber war genau das mit ein Grund dafür, dass die stolzen, alten Pfauen eine derartige Abneigung gegen den Handelsherren hegten. Am Ende fürchteten sie wohl gar, dass Lena sich mit ihm vermählen könne.
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