10 - Die Augen des Blinden (1)
Man hatte Di in das edelste Gewand gesteckt, welches er je tragen durfte. Seine Schuhe waren aus feinstem Hirschleder, wenn auch ein wenig zu klein für seine Füße. Für diese kurze Zeit solle er sich nicht so anstellen, hatte man ihm gesagt, als er sich deswegen beklagte. Wenn er versuchte seine Zehen während des Gehens einzurollen, humpelte er vor sich hin, als würde er gerade über heiße Steine laufen, weshalb er die Zähne zusammenbiss und das unangenehme Druckgefühl so gut es ging ignorierte. Von den unbequemen Tretern abgesehen, trug er eine schwarze Baumwollhose sowie ein weißes Hemd aus einem sehr dünnen, luftigen Stoff. Darüber war eine rote Tunika gestreift, deren Ärmel ein wenig zu lang waren und die man deshalb kurzerhand umgeschlagen hatte. Auf seiner linken Brust, dort wo sein Herz schlug, prangte das Wappen der Familie Venua. Drei rote Schwerter auf goldenem Grund in eine Schildform gefasst.
Doch von der Familie Venua war nur noch ein einziges Mitglied übriggeblieben. Die Tochter des verstorbenen Regenten, die nun dessen Platz einnahm, als erste Frau überhaupt. Lena hieß sie. Sie war noch so jung. Älter zwar als er, doch war sie, selbst in seinen Augen, doch noch keine richtige Frau. Ob Lena sich als Regentin gut anstellen würde? Er konnte nur kurz einige Worte mit ihr austauschen, als sie ihn eines Abends auf dem Zimmer besuchte, welches sie eigens für ihn hatte herrichten lassen.
Damals war sie in einem unbeobachteten Moment in Tränen ausgebrochen, hatte ihm erzählt, dass sie ebenfalls einen geliebten Menschen vermisse. Zu jenem Zeitpunkt war ihr Vater noch am Leben gewesen.
Heute hingegen konnte er keine Träne in ihrem Gesicht erhaschen, auch wenn er sie nur kurz von der Seite erblickte, als sie, umringt von ihren Leibwachen, den Sargträgern folgend, an ihm vorbeigeschritten war, ehe er sich selbst der langen Prozession, hinaus durch die Tore der Stadt, anschloss. Begleitet wurde er von Paky, mit dem er zusammen dem blinden Gelehrten Gunnet Bohns, gleichzeitig einer der Berater der Regentin, helfend unter die Arme griff und diesem den Weg vorgab. Bohns nannte die beiden Jungen seine ‚sehenden Augen'. Seine persönlichen Leibwachen, die die Namen Rekard und Mulwig trugen und die ihnen mit großem Abstand folgten, nannte er Schild und Schwert. Sie durften nicht in ihren Reihen gehen, weshalb sie sich an die Spitze der einfachen Stadtbewohner gesetzt hatten, die von etwa fünfzig bewaffneten Männern der Stadtwache von ihnen getrennt, auf Abstand, hinter ihnen her liefen. Das war Di ganz recht, denn er konnte beide nicht sonderlich gut leiden. Mulwig war ein dünner, langer Kerl mit fettigem schwarzem Haar und einem unscheinbaren Allerweltsgesicht. Rekard war ebenso lang, dafür doppelt so breit. Unter seinem strohigen, blonden Bart, passend zu seinem Haupthaar, trug er zumeist ein dümmliches Grinsen zur Schau. Beide waren nicht besonders helle, doch Rekard war zweifellos der dümmere der beiden Söldner. Man sagte, dass er sich den größten Teil seines Verstandes in den Tavernen der Stadt weggesoffen habe. Dennoch schienen beide mit ihrer Waffe weit mehr zu taugen, als man, angesichts all dieser Dinge, von ihnen erwarten würde. Gunnet Bohns sei nämlich kein Mann, der seine Münzen an Unfähige verschwende, wie Gurravo Shrink, ein weiterer Berater der Regentin, einmal behauptete.
Noch kurz vor Palu Venuas Tod hatte es Überlegungen gegeben, Di in einem Waisenhaus unterzubringen. Einem gewissen Perem Penthuys zufolge, hatte Lena hingegen den Vorschlag unterbreitet, er könne stattdessen doch für den alten Bohns arbeiten, der gerade eines seiner bisherigen Augen verloren hatte.
„Kess war ein fauler Hund. Hat sich seinen Lohn geschnappt und sich auf Nimmerwiedersehen verabschiedet. Glück gehabt, würde ich sagen, denn nicht mehr lange und ich hätte ihn für sein Geschnarche umbringen müssen", hatte Paky über seinen ehemaligen Mithelfer gesagt.
Seit Di dessen Stelle eingenommen hatte, wohnte er, zusammen mit besagtem Jungen, in einem eigens eingerichteten Zimmer in der kleinen Villa des blinden Mannes, welches in Palastnähe stand, dem sogenannten goldenen Ring, und von wo aus man keine fünf Minuten brauchte, um den Sitz der Regentin zu erreichen.
Bei Paky handelte es sich um einen kahlköpfigen Jungen, mit dem sich Di prächtig verstand. Paky konnte ihm zwar nicht wirklich Auskunft über sein Alter geben, doch vermutete Di, dass der ansonsten sehr redselige Junge ein oder zwei Jahre älter war, als er selbst. Er maß einige Zentimeter mehr an Körperlänge, war insgesamt etwas kräftiger und breiter und besaß weiße, aber schiefe Vorderzähne. Wie auch Di, hatte man ihm ebenfalls leihweise eine rote Tunika, auf dessen linker Brust das Venua-Wappen aufgenäht war, zur Verfügung gestellt, welche er unter leisem Murren angelegt hatte.
Eine weitere Besonderheit Pakys war sein fehlendes linkes Ohrläppchen, doch auch darüber hatte er keine Geschichte zu erzählen. Dies wäre schlichtweg schon immer so gewesen, hatte er verlauten lassen und es störe ihn schließlich auch nicht, da ein Ohrläppchen so nutzlos wäre, wie ‚Fliegen, die um Scheisse kreisen'.
Paky erinnerte ihn in seiner Unbekümmertheit und auch aufgrund der teilweise derben Zoten, die er des Öfteren riss, stark an Gekk Bauwer, den er seit dem Tag ihrer Ankunft in Venuris nicht mehr gesehen hatte.
Er dachte oft an das zurück, was geschehen war. An Suki, mit ihrer wilden roten Mähne und ihren Grübchen, die sich beim Lachen um ihre Nase bildeten. An seinen Vater, der sich immer sehr für seine Erlebnisse unter den Nebeln interessiert und ihm aufmerksam zugehört hatte.
Doch die schönen Erinnerungen wurden stets von den schrecklichen Bildern zerrissen, die sich im Anschluss daran wieder in den Vordergrund drängten. Der von seinem Podest stürzende Kayken, die Massenpanik und ihre anschließende Flucht zurück zu dem rettenden Eingang. Gekk hatte ihn regelrecht auf den Karren von Donte Draben geworfen, der seine beiden Esel so lange vor sich hertrieb, bis der Wagen schließlich in der geteilten Titanfaust stecken blieb. Grüns Tiere, die es glücklicherweise zuvor problemlos hindurchgeschafft hatten und welche anschließend zur Beförderung der Flüchtenden herhalten mussten, waren nur wenig später unter der Anstrengung verendet, sodass sie den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen mussten.
So sehr er auch versuchte sich zu erinnern, es waren nur noch einzelne Bruchstücke ihrer Flucht in seinem Kopf aufzufinden. Gekks Worte, dass sein Vater ums Leben gekommen sei, hatten ihn in eine Art Dämmerzustand fallen lassen. So wusste er beispielsweise, dass Drabens Karren steckengeblieben war, doch hatte er keine Bilder hierzu vor Augen. Genauso wusste er, dass Hanz Gorke derart viele Flüche ausgestoßen hatte, dass man damit den einen Gott hätte verärgern können, wenn sein Einfluss denn bis unter die Nebel reichen würde. Ob er sich aber auch nur an ein einziges Wort davon erinnern konnte? Nein, konnte er nicht. Es waren nur wüste Tiraden in einer anderen Sprache gewesen, die Gorkes Mund verließen. Dumpfes Grollen in einer verschwommenen Welt.
„Passt doch auf, ihr zwei Nichtsnutze", rief der alte Bohns erzürnt und holte Di in das Hier und Jetzt zurück. Er hatte nicht auf den Weg geachtet und den blinden Mann doch glatt über einen herumliegenden Stein stolpern lassen. Gunnet Bohns war ein eigentlich gutherziger, alter Mann. Zumindest wenn seine jungen Helfer die ihnen übertragenen Pflichten zu seiner Zufriedenheit erledigten. Taten sie dies nicht, konnte er auch ganz anders. Und wenn er denn einmal wütend wurde, arteten seine Standpauken schnell in Beschimpfungen aus.
„Ich bezahle dich besser, als jeder andere verfluchte Mann in dieser Stadt es könnte", hatte er Paky gleich an Dis erstem Tag angeschnauzt, als dieser einen Krug mit Wein über den Schoß des alten Mannes verschüttet hatte. Nicht aus Versehen, wie er es Bohns gegenüber mit reumütiger Stimme beteuerte, sondern mit voller Absicht.
„Du musst wissen, dass ich nicht auf eine Ratte wie dich angewiesen bin. Da draußen stehen sie Schlange um für mich arbeiten zu dürfen. Ich sollte dich zurück in das Loch jagen lassen, aus dem du herausgekrochen bist."
Während jener Standpauke bebten Bohns' Nasenflügel beträchtlich und die bleichen, schrumpeligen und mit dunklen Flecken übersäten Hände mit den knochigen, langen Fingern waren drohend zu Fäusten geballt.
Paky hingegen hatte sich vor dem alten Mann aufgebaut und kommentierte seine Worte mit stummen, obszönen Gesten, währenddessen ein hämisches Grinsen auf seinen Lippen geformt.
Paky hasste Gunnet Bohns. Eine Information, die er bereits mit einfließen ließ, als er sich Di vorstellte, doch benötigte er das Geld um seine sieben Geschwister versorgen zu können, die bei ihrer kranken Mutter in einem kleinen Dorf, ganz in der Nähe der Hauptstadt, lebten. Sein Vater, so hatte er erzählt, sei ein alter Trunkenbold gewesen, der sich eines schönen Tages, trotz oder wohl eher wegen der Krankheit seiner Frau, mit einer jungen, blonden Hure aus dem Staub gemacht hätte.
„Wenn ich ihn jemals wiedertreffen sollte, werde ich ihm seine schrumpeligen Eier abschneiden", wurde Paky nicht müde zu betonen. Di bewunderte den, keineswegs mit Ansehnlichkeit gesegneten, kahlköpfigen Jungen. Obwohl eine Menge Wut in ihm steckte, war Paky nie um einen spaßigen Spruch verlegen gewesen. Es dauerte eine Weile, bis Di realisierte, dass Paky es gewesen war, der ihn, erstmals seit den Ereignissen unter den Nebeln, wieder zum Lachen gebracht hatte. Dabei hatte er vor noch nicht allzu langer Zeit nicht mehr damit gerechnet, je wieder so etwas Freude verspüren zu können.
Als er erneut seine schmerzenden Zehen in den viel zu engen Tretern spürte, erinnerte sich wieder daran, wie sehr seine Glieder ihn peinigten, als sie den höhlenartigen Eingang passiert hatten, der da im grauen Fels des Klupinggebirges klaffte. Mit den aufkeimenden Schmerzen, taute er damals auch wieder aus seinem traumähnlichen Zustand auf und realisierte, dass sie es heil zurück an die Oberfläche geschafft hatten. Zwar war es dunkel gewesen, doch irritierte es ihn, dass die Eingangswächter zunächst gar keine Notiz von ihnen zu nehmen schienen.
Entlang des Pfades, der zu besagtem Eingang führte, aus dem ihre Truppe, immerhin laut keuchend und lärmend, zurück in die Oberwelt gelangte, waren meterhohe Palisaden errichtet, die diesen auf etwa fünfzig Metern Länge säumten. Die armen Kerle, die da oben in ihren Kettenhemden und unter ihren Kapuzenmänteln vor sich hin kauerten und versuchten ihre lodernden Feuerkörbe vor dem Erlöschen zu bewahren, an denen sie sich aufwärmten und die ihnen zudem Licht spendeten, schienen sich nicht an ihnen zu stören.
Genauso gut hätten sie ja auch Eindringlinge aus der Zweitwelt sein können, dachte sich Di und war auch ein wenig entsetzt über ihr Nichtstun gewesen. Er ließ seinen Blick über die, halb im Schatten der Nacht verborgenen, Männer schweifen, während er den frischen, kühlen Regen genoss, der ihm den Schweiß und den Dreck vom Gesicht wusch. Einige der Wächter der westlichen Palisade, die um einen nur noch rot glühenden Feuerkorb herumstanden, reichten untereinander einen großen Weinschlauch umher und ertranken damit wohl ihre Sorgen. Ein anderer döste, den Kopf auf seiner Brust liegend, vor sich hin. Niemand schien sich an seinem lauten Schnarchen zu stören. Der Nächste, auf den er einen Blick werfen konnte, wetzte gedankenversunken, gut hörbar, die Klinge seines Schwertes. Zwei weitere Männer, von der östlichen Palisade, lachten gemeinsam laut auf. Weswegen, das konnte Di nicht sagen. Aus jener Richtung vernahm er schließlich auch ein Pfeifen. Er glaubte zu erkennen, dass es sich dabei um das Lied von der Jungfrau Nara handelte, die den Sonnengott geliebt und mithilfe seiner Zauberkraft eine Horde Invasoren aus ihrem Heimatdorf vertrieben hatte. Natürlich war es das.
„...und sie schickt hinaus das Licht, verbrennt den Feind mit Haut und Haar. Die blasse, lieblich schöne, doch kühne Jungfrau Nara."
Bevor er weiter beobachten konnte, erhob, nach einer schieren Ewigkeit, endlich einer der Wächter seine Fackel und rief ihrer Gruppe zu, dass sie sich zu erkennen geben sollen. Zwar lenkte nun der Großteil der Männer ihre Aufmerksamkeit auf die fünf Fremden, doch schon kurz nachdem sie ihre Namen mitgeteilt und sich als Händler ausgegeben hatten, wandten sich die allermeisten Blicke auch schon wieder desinteressiert von ihnen ab.
„Ich erkenne euch wieder", rief ihnen derjenige zu, der als Erster auf sie aufmerksam wurde, dessen Gesicht jedoch hinter der wild zuckenden Flamme seiner Fackel unkenntlich blieb.
„Wart ihr nicht mal mehr?"
„Ja", knurrte Hanz Gorke, „wir hatten mal zwei Wägen und vier Esel dabei."
„Und meinen Vater und Spitzkinn", dachte Di und wunderte sich noch, warum niemand erzählte, was wirklich geschehen war. Doch wie Gekk ihm später erklärt hatte, lautete ihr neuer Auftrag, den die beiden Söldner nun zu erfüllen gedachten, den Weg in die Hauptstadt anzutreten.
Falls irgendetwas auf ihrer Reise schieflaufen sollte, hatte Kal Brahmen ihnen dies befohlen.
Ob sich Vater unter ‚Schieflaufen' derartiges vorgestellt hatte?
Stundenlang waren sie daraufhin in völliger Dunkelheit durch die Wälder und deren ausgetretene Pfade gestolpert, während ihnen der Regen ins Gesicht peitschte, der sich mittlerweile von einer willkommenen Erfrischung zur lästigen Plage gewandelt hatte. Nur die entfernten, wenigen Lichter Klupingens zeigten ihnen den Weg. Manchmal befürchtete Di, dass der fette Donte diesen Marsch nicht überleben würde, da er immer wieder um eine Rast bettelte. Sein Atem pfiff und rasselte und da Gorke irgendwann nicht mehr gewillt war für den Kutscher stehen zu bleiben, fiel er immer weiter in der Gruppe zurück. Di hatte Mitleid mit dem armen Kerl, doch wollte er den Anschluss an die beiden Söldner nicht verlieren, da diese hier draußen in den dunklen Wäldern doch der einzige Schutz waren, den er sich erhoffen konnte. Anders als Draben hielt der alte Fitz Grün mit dem strammen vorgegebenen Schritt mit und verzog dabei keine Miene. Er war doch schon ein zäher, alter Knochen, der sich zu keinem Zeitpunkt beschwerte, allerdings auch sonst kein Wort mehr von sich gab.
Erst am Morgen, als die Sonne den Horizont einzufärben begann, der Regen dennoch weiterhin unerbittlich auf sie niederströmte, erreichten sie völlig geschafft eine letzte Anhöhe, bevor sie der steinige Weg schließlich vor die Tore Klupingens führte, die gerade wieder von den Wachen geöffnet wurden. Ihr letztes Geld ging anschließend für einen warmen Laib Brot drauf, den Gekk Bauwer in fünf etwa gleichgroße Teile brach und unter den erschöpften, hungrigen Männern aufteilte. Neben den Schmerzen in seinen Beinen und den Füßen, die erst jetzt, als er sich am Wegesrand niedergelassen hatte, wieder aufkeimten, war es ein schmerzhaftes Ziehen in seinem Magen, welches Di die bis dahin größte Pein bereitete. Doch die erste Mahlzeit seit Langem verschaffte ihm schnelle Linderung. Noch nie zuvor hatte ihm etwas so gut geschmeckt, wie dieses Stück Weizenbrot, welches er abwechselnd von der einen in die andere Hand warf, so heiß war es gewesen. Doch kaum konnten seine schmerzenden Glieder einen Moment entspannen, sein leerer Magen gefüllt werden, wurde ihm erst wieder richtig bewusst, warum ihn sein Weg eigentlich hierher geführt hatte, warum dies alles überhaupt geschehen war. Und just in diesem Moment kehrte sein Ohnmachtsgefühl zurück, welches ihm der Regen in der Nacht zuvor noch aus dem Kopf gespült hatte. Am liebsten hätte er das Brot, welches er soeben noch genussvoll verdrückt hatte, wieder hoch gewürgt.
Ohne weitere Zwischenfälle schlängelte sich der riesige, menschliche Wurm in gemächlichem Tempo aus dem südlichen Haupttor hinaus. Die Mauerwächter auf den Wehrgängen verfolgten sie mit den gleichen interessierten Blicken, mit denen auch die Vögel auf den Zinnen, Dächern und Bäumen sie bedachten. Als Di das letzte Mal durch die Tore der Hauptstadt geschritten war, geschah dies in Begleitung von Vaters ehemaligen Männern. Tagelang waren sie von Klupingen aus Richtung Venuris marschiert, da sie kein Geld für Pferde hatten und auch niemand sich erbarmte eine so große Gruppe auf den zumeist vollgepackten, Wägen mitzunehmen.
„Ich würde einen Haufen wie den unseren auch nicht mitnehmen wollen", hatte Fitz Grün unterwegs einmal gemurmelt, kurz nachdem Hanz Gorke sich neuerlich über eine solche Zurückweisung aufgeregt hatte.
Di und Paky führten Gunnet Bohns, der stets mit bedachten, aber raschen Trippelschritten unterwegs war, auf dem Händlerweg, der nur wenige Meter hinter dem Stadttor in einer Kreuzung mündete, gen Osten. Immer der Regentin, den Sargträgern und ihren stummen Wachen folgend. Mit etwas Abstand verlief der Weg entlang der nicht enden wollenden Stadtmauern. Er mochte die Geschichten gehört haben, doch Venuris war dennoch so viel größer, als er es sich hätte vorstellen können. Seine Heimatstadt Klupingen wirkte dagegen fast wie ein Dorf.
Seine Zehen schmerzten erst recht, als es schließlich auch noch bergauf in Richtung eines noch höher gelegenen, großen Hügels ging, auf dem der größte Baum thronte, den Di jemals in ihrer Welt gesehen hatte. Die majestätische Eiche war mindestens doppelt so hoch und doppelt so breit wie die meisten ihrer Art und überragte alles um sie herum, wie eine Königin unter dem blauen Himmel. Mit den Titanfäusten unter den Nebeln konnte aber auch sie keineswegs mithalten.
Wenn er seinen Kopf nach links drehte, konnte Di in der Ferne ein kleines, namenloses Dörfchen, bestehend aus gerade einmal fünf Häusern, erkennen. Im Hintergrund leuchteten die Felder in goldener Farbe. Bald würde wohl die nächste Ernte anstehen, dachte er sich.
Der gigantische Baum trug sein grünstes, dichtestes Blätterkleid und warf bereits, lange bevor sie zum Stehen kamen seinen Schatten über ihre Köpfe.
Auf halbem Wege hatte sich Gurravo Shrink an ihre Seite gesellt und mit Bohns über einen fremden König geredet, der mit dem Hohepriester Namuns gemeinsame Sache machen würde und das der Tod ihres Regenten, angesichts dessen, doch zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt käme. Natürlich tauschten beide ihre Worte nur in einem Flüsterton aus, da zwischen ihnen und der neuen Regentin nur wenige Reihen Abstand lagen.
Vermutlich war das auch kein Thema, über das man sich auf einer Trauerprozession unterhielt und Lena Venua schien ohnehin nicht nach Gesprächen oder Reden zumute.
Obgleich sie ein prächtiges Gewand aus schwarzer Seide mit feinen, aber diskreten Goldstickereien trug, so wirkte sie doch klein und schmal, schwach und verletztlich, wie sie hinter dem Sarg ihres Vaters hermarschierte.
„Ihr Vater ruht wenigstens in einem Sarg", dachte sich Di und musste sich zusammenreißen, nicht selbst wieder schwach zu werden. Gunnet Bohns würde das nicht gefallen und Paky würde ihn vielleicht deswegen auslachen.
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