03 - Der Tränenkönig (1)
Die sengende Hitze ließ die Luft um ihn herumtanzen. Sie schmeckte nach Sandstaub und kratzte im Hals, wenn man den Fehler machte zu tief einzuatmen. Die schlichte, rote Robe hing schlaff und leicht durchnässt vom Schweiß von den breiten Schultern des alten Mannes. Trotz seines Alters war sein Gang immer noch aufrecht, das Haupt erhoben, die Brust rausgestreckt. Zwar war er nicht mehr so flink zu Fuße, wie in den Zeiten seiner Jugend und sein Körper generell nicht mehr zu großen Leistungen im Stande, doch den täglichen Spaziergang in seiner Stadt empfand er keineswegs als Anstrengung. Die Bewegung tat ihm gut und hielt ihn jung, wie er stets überzeugt betonte.
Seinen kahlen Kopf schützte er mit einem Turban aus dünnem, rot gefärbtem Stoff vor der gnadenlosen Sonne. Sein Gesicht, mit den harten Wangenknochen und dem kantigen, beinahe rechteckigen, vorstehenden Kinn, war glattrasiert. Die leicht schrumpelige Haut, bis auf wenige altersbedingte Flecken, makellos. Seine dunklen, braunen Augen, von Krähenfüßen umrahmt, stierten entschlossen wie die eines aufmerksamen Raubvogels aus ihren Höhlen.
Zur Mittagszeit war der Markt nahezu leergefegt. Die Aussteller hatten sich im Schatten ihrer Stoffzelte oder den kühlen Lehmhütten, die die Reicheren unter ihnen, gegen Aufpreis, für den Tag des Marktes erworben hatten, verkrochen.
Am frühen Morgen, wenn die Sonnenstrahlen noch Gnade kannten, konnte man sich auf dem großen Marktplatz keineswegs so frei bewegen wie es jetzt der Fall war.
Um diese Zeit war der Platz nämlich voller Menschen. Lärm erfüllte die Luft. Der Klang von Trommeln, das Flöten der Schlangenbeschwörer, das Rufen der Händler und das Lachen der spielenden Kinder.
Das Gackern, Mähen und Blöken der Tiere, das Klirren von Silbermünzen und das Fußgetrappel der Sandalen und sonstigen Schuhvariationen unter denen der Sand knirschte.
Die unterschiedlichsten Gerüche stiegen einem dann in die Nase. Süße und scharfe Aromen, die der Wind von den Ständen der Gewürzhändler herwehte. Beißende und stechende Düfte, die von den Duftwassern stammten, mit denen potenzielle Kundinnen und Kunden eingenebelt wurden, sowie natürlich auch der übliche Gestank, den die drängelnden, schwitzenden Menschenmassen von Natur aus verströmten. Um diese Zeit hätte man den großen Krieg und das Leid, welches er mit sich brachte, glatt verleugnen und einem Außenstehenden für bare Münze verkaufen können. Doch gerade außerhalb von Emorhors Mauern waren die tiefen Narben noch immer nicht verheilt.
Neben den Händlern drängten sich selbstredend auch die üblichen Schausteller, die mit ihren Darbietungen um die ihnen zugewandten, staunenden Gesichter der Marktbesucher und natürlich deren anerkennenden Münzen, stritten.
Feuerspucker, Jongleure, besagte Schlangenbeschwörer, Zauberer und Wahrsager, sowie, das Highlight des Marktes, die Monsterschau, in dem die Zuschauer, natürlich wieder gegen Bezahlung, die schrecklichsten Ungetüme der Welt bestaunen durften.
Der Kopf hinter der Monsterschau war ein gewisser Nkemayu, dessen Familienname eine wahre Herausforderung für jede menschliche Zunge darstellte und der so lang war, dass man ihn sich ohnehin nicht behalten konnte. Übersetzt bedeutete er allerdings in etwa: Nkemayu, der schwarze Prinz von den schwarzen Inseln, Auserkorener der Götter, Liebhaber der Frauen und Schlächter seiner Feinde.
Nkemayu, dessen Haut die Farbe verbrannten Holzes besaß, stammte von einer der erwähnten schwarzen Inseln nördlich ihres Kontinents. Nach dem sogenannten Götterheulen vor vielen Generationen hatten die schwarzen Inseln sogar noch einmal Zuwachs erhalten. Nachdem die nördlichste Spitze Namuns in viele kleine Inseln zerschmettert wurde, besiedelten anschließend die schwarzen Männer und Frauen die Bruchstücke. Die Krysari bezeichneten ihre Nordspitze seither als die zerbrochene Krone Namuns.
Viele der schwarzen Inseln waren klein und unbewohnt, andere wiederum hatten die Größe von Städten. Ihre Zahl schätzte man auf weit über eintausend, die von weiteren über hundert verschiedenen Stämmen bewohnt waren, welche bevorzugt unter sich blieben und das Festland mieden. Wie und warum Nkemayu nach Namun kam, blieb sein Geheimnis.
Nun war er jedenfalls zum reichsten und bekanntesten Händler des Kontinents aufgestiegen. In nahezu jeder großen Stadt, so erzählte man es sich zumindest, besaß er eine eigene Villa, in der er residierte, bevor er mit seiner achtundzwanzig Mann umfassenden Stammgefolgschaft zur nächsten Ausstellung weiter zog. Auch in Emorhor gehörte ihm ein großes zweistöckiges Wohnhaus mit eigenem Vorgarten, in dem unter anderem mehrere Dattelpalmen, Sträucher mit kleinen, kaum genießbaren Beeren und Dornenbüsche wuchsen. Zudem hatte er hinter seinem Haus einen eigenen Teich anlegen lassen, in dem er baden konnte, wenn es ihm nach Erfrischung oder Entspannung gelüstete.
Damit die Villen während seiner Abwesenheit nicht leer standen, wohnten darin immer jeweils dreizehn seiner Konkubinen. Die Liebhaberinnen Nkemayus waren allesamt junge Dinger von den verschiedensten dunklen Hautfarben, mit breiten Hüften und großen Brüsten gesegnet. Sie hielten nicht nur Gebäude und Garten instand, sondern verdienten sich, zumindest hier in Emorhor, auch zusätzliches Geld mit gewissen Diensten, die sie den Männern der Stadt anboten. Ob Nkemayu vom Treiben seiner Frauen wusste oder ob er ahnungslos war und die gelegentlichen Bastarde, die so manches Mal aus den Vereinigungen hervorgingen, für seine eigenen hielt, entzog sich dem Wissen der Außenstehenden.
Terek jedenfalls interessierte es auch nicht weiter. Nkemayu war ein friedfertiger Mann. Er mochte zwar der Schlächter seiner Feinde sein, doch er war nicht Tereks Feind, keineswegs. Er war sogar so etwas wie ein Freund. Jemand, der dem Volk ein Stück Lebensfreude zurückbrachte.
Zwar verachtete Terek seine makabere Schau und hatte Mitleid mit den armen, bloßgestellten, Geschöpfen, doch wusste er, dass Nkemayu sie nicht schlecht behandelte. Er gab ihnen gut zu Essen und zu Trinken und bot ihnen im Grunde keinen Anlass zur Klage. Letztendlich hatten diese armen Kreaturen unter Nkemayus Fittichen ein weitaus besseres Leben, als sie es sich normalerweise auch nur erträumen durften.
Er ging weiter seines Weges und erspähte ein provisorisch aufgebautes Zelt, welches aus dünnen, ungleichmäßig langen Ästen und einer bereits mehrfach geflickten Stoffplane bestand. Dort hatte heute Morgen ein Händler aus Haasmehor eine schmuddelige Decke auf dem Boden ausgebreitet. Auf dieser bot er etliche verschiedene Tierfelle, Schmuck aus Tierknochen oder glückbringende Talismane aus Stein zum Verkauf an.
Er gehörte nicht zu den Reichen, auch wenn die Frauen Emorhors seine Waren liebten. Er teilte sich mit seinem alten Esel einen Eimer Wasser, hatte jetzt zur Mittagszeit seine Sachen in der schmutzigen Decke eingerollt und benutzte diese als sein Kopfkissen, während er auf dem sandigen, warmen Boden sein Mittagsschläfchen hielt. Er war ein dünner, ergrauter alter Mann mit dem typischen kupferfarbenen Teint, dessen Rippen sich unter seiner gespannten Haut abzeichneten und der nur einen grauen Lendenschurz als Bekleidung trug. Die Fliegen, die während seines Schlafes auf ihm herumkrabbelten, schien er gar nicht zu bemerken. Sein Esel hingegen wedelte wild mit seinem Schweif und den langen Ohren hin und her um die lästigen Biester zu verscheuchen. Seine wallende Mähne hatte sich der Händler mit einem Stück Stoff hinter dem Kopf zu einem großen Zopf zusammengebunden, damit wenigstens sein Haar etwas ordentlich wirkte.
Und genau das war es letztlich auch, das ihn rein äußerlich von den verlorenen Seelen des lokalen Armenhauses unterschied, welches Terek wieder einmal zu besuchen gedachte.
Hohepriester Terek Nam'Atamai war nicht nur von seiner Körpergröße her ein großer Mann. Nein, er war zugleich noch der mächtigste und angesehenste Mann des Kontinents Namun.
Zumindest wäre Letzteres auch heute noch zutreffend gewesen, wenn sein Vorvorgänger, Hohepriester Nobossop Sek'Modun, seinen einst so stolzen Kontinent nicht in das Verderben gestürzt hätte. Von der Idee eines einzigen großen Reiches und einem einzig wahren Glauben besessen, hatte er die komplette Streitmacht in einen Krieg gegen den Nachbarkontinent geführt – und verloren.
Von Beginn an ein törichtes Unterfangen, welches nicht nur an der mangelhaften Truppenlogistik gescheitert war. Den eigenen Kontinent zu einen, die eigentlich wichtigste Mission, fand damals allerdings keinen Platz auf der Agenda Nobossops.
Die Bevölkerung des einst unabhängigen Nordens, dem Königreich Krysa, hatte der große Hohepriester Tasmanuk vor über zweihundert Jahren mit Tod und Zerstörung überzogen. Den Norden Namuns hatten sie somit zwar zurückerobert, aber dessen Bevölkerung endgültig verloren. Auch der sogenannte Götterkonflikt, unter Hohepriester Nobossops Vorgängern entfacht und ausgefochten, von Letzterem blutig beendet, hatte insbesondere die Bewohner des besiegten Osten Namuns zusehends dezimiert, wie demoralisiert und das Ansehen der obersten Glaubensvertreter weiter geschwächt.
Grund für den Krieg waren die Anhänger des einen Gottes, die, den Erzählungen nach, aus dem Nichts aufgetaucht waren und ihren Glauben im Osten des Kontinents verbreitet hatten. Der eine Gott wurde speziell auf dem westlichen Nachbarkontinent verehrt und war seinen Vorgängern ein Dorn im Auge. Hier auf Namun betete man zur Mutter, die einst zum ersten Hohepriester Tasmanuk gesprochen und ihm das Geheimnis der Herkunft der Menschen offenbart hatte.
Trunken vom süßen Nektar des Sieges und der Vernichtung oder Bekehrung der Anhänger des einen Gottes, glaubte Nobossop das die Westmenschen die falschen Prediger schickten, um sein Volk mit ihrem Glauben zu unterwandern. Der Götterkonflikt lieferte somit einen wichtigen Grund für den großen Krieg.
Nach der Niederlage gegen den Westkontinent hatten sich viele Bewohner Namuns jedoch vom Glauben abgewandt. Für Terek war das nur verständlich. In den Augen des Volkes hatte die Mutter ihnen nur Leid und Tod gebracht. Nach dem Krieg blieben verlassene Dörfer zurück, die nun in der Sonne verrotteten. Fast vollständig verlassene Städte, die niemals mehr zu ihrem alten Glanz zurückfinden würden. Unzählige Kinder wuchsen als Halb- oder gar Vollwaisen auf. Plünderer zogen umher, da niemand mehr für Recht und Ordnung sorgen konnte, und hinterließen noch mehr Elend.
Die Plünderer und Vergewaltiger kamen zahlreich aus dem alten Königreich, wusste Terek, und waren lose Verbrecherbanden, die sich selbst untereinander bekriegten.
Doch seit Neuestem folgten die Krysari, eigentlich ein Unding, dass man sie nach all den Jahren immer noch so nannte, wieder einem König. Unterhalb der toten Steppe verschwanden immer wieder junge Männer und Frauen, was man auf besagten Anführer zurückführte.
Die einen erzählten, dass er sich die Menschen holte, um sie zu ermorden, zu opfern, zu essen oder zu seiner Belustigung zu Tode zu foltern. Doch andere wiederum behaupteten, dass der König auch jenseits der alten Grenzen für seine ständig wachsende Armee rekrutierte.
Terek ahnte bereits, wohin dies zwangsläufig führen musste, doch das namunsche Heer bestand größtenteils nur noch aus alten Männern, Halbverkrüppelten und wenigen jungen, starken Burschen, da die meisten von ihnen nicht gewillt waren, wie ihre Väter und Großväter, für eine aussichtslose Sache im Dienste der Mutter zu sterben. Ein Großteil der Kampffähigen hatte sich daher zu losen Söldnertruppen zusammengeschlossen, auch um das Schwert für ihre eigenen Überzeugungen führen zu können. Als Wahnsinn wäre es zu bezeichnen, jetzt eine Streitmacht der Mutter in den Norden zu führen, auch da dieser König den riesigen Regenwald zu seinem großen Vorteil besaß. Dort wären die armseeligen Truppen Tereks nichts weiter als Wild für dessen Gefolgschaft. Zudem würde er mit einem neuerlichen Feldzug das ramponierte Ansehen der Mutter noch weiter verschlimmern. Die Mutter war gut, gerecht und barmherzig. Sie stand nicht für Krieg und dem damit verbundenen Leid. Das mögen viele seiner verblendeten Vorgänger gedacht haben, doch Terek wusste, dass die Mutter den Frieden für ihre Kinder gewählt hatte. Er war ihr höchster Stellvertreter am Boden und so war es an ihm eine, im Sinne der Mutter, friedliche Lösung dieses sich anbahnenden Konfliktes zu finden.
Der krysarische König war seit Wochen das vorherrschende Thema im Rat der Fünf und verfolgte Terek stets auf Schritt und Tritt.
Selbst bei seinem regelmäßigen Besuch im Armenhaus, für den es wieder einmal an der Zeit war, drehten sich seine Gedanken unweigerlich um die Bedrohung aus dem Norden.
Die Männer und Frauen, die er zu besuchen gedachte, kämpften hingegen mit ganz anderen Problemen. Krankheit, Seelenpein, fehlendes Obdach. Das waren aus deren Sicht größere Sorgen, als das Säbelrasseln eines unsichtbaren Feindes, doch auch weitaus weniger kompliziert, dachte sich Terek.
Er durfte diesen Menschen allerdings nicht mit zweifelnder Miene gegenübertreten. Diese armen Seelen blickten zu ihm auf. Sie hatten dem Glauben an die Mutter noch nicht abgeschworen. Sie waren überzeugt davon, dass sie nach dem Leiden im Diesseits, einen Platz im Schoße ihrer Schöpferin erhalten würden, wo auf sie der ewige Frieden wartete.
Diesen Frieden erwarteten sie in dem riesigen, kargen Gebäude, welches aus, mittlerweile bröckelndem, Sandstein errichtet, fernab des lebendigen Marktplatzes, in Nähe der hohen Stadtmauern stand. Es lag in einer wenig belebten Seitenstraße inmitten der Stadt, besaß ein flaches Dach und mehrere ungleichmäßig große Öffnungen in den Wänden, die als Fenster fungierten. Es existierten keinerlei Verzierungen oder sonstiger Prunk, weder an Fassade, noch im Inneren. Das Armenhaus wirkte trotz seiner Größe und eben wegen seiner schlichten Aufmachung genauso arm, wie seine Bewohner. Einige Sandlerchen flatterten um das Gebäude herum, hüpften auf den Fensterbänken auf und ab und suchten, laut zwitschernd, nach Nahrung.
„Die einzigen, sorgenlosen Geschöpfe hier", dachte sich Terek.
Er kannte die Männer und Frauen, die sich im Dienste der Mutter um die Hilfsbedürftigen unter ihnen kümmerten. M'Kelya, eine alte Dame, deren Schönheit von einst bereits verwelkt war, hatte hier das Sagen. Sie kümmerte sich zusammen mit ihrer rechten Hand Bekersir, einem jungen, freudlosen Mann mit harter Miene, sowie anderen Männern und Frauen, im Erdgeschoss um die Kranken und Sterbenden, die in harten, mit Fellen und Stoffen ausgelegten, voneinander abgetrennten Nischen untergebracht waren.
Schmerzerfülltes Stöhnen und Keuchen, wirres Gemurmel, Husten und Schniefen waren hier im Erdgeschoss an der Tagesordnung. Kein Ort an dem Terek arbeiten könnte, wenn er sich das Elend hier ansah. Er bewunderte im Speziellen M'Kelya dafür, dass sie, obwohl sie hier schon seit Jahren diente, noch immer zu ihrem bezaubernden Lächeln imstande war. Schon vor vielen, vielen Jahren, hatte sie Terek stets angelächelt, als dieser noch ein einfacher Mann und sie beide weder so alt, noch derart von den Spuren des Lebens überzogen waren, wie heutzutage.
Oftmals verbrachten sie damals die Nächte zusammen, sich eng umschlungen liebend und tiefe Blicke austauschend. Die Erinnerungen holten ihn wieder ein. Jene an ihren makellosen Körper, welcher sich so wunderbar warm und dessen Haut sich so unvergleichlich zart angefühlt hatte. Selbst ihr Geruch, so schien es, stieg ihm plötzlich wieder in die Nase. Und dann waren da ja noch ihre Augen gewesen. Diese unschuldigen Augen. Ein tiefes Braun in dem er sich zu verlieren drohte, welches ihm jede Sünde wert gewesen wäre.
Doch bald darauf erwählte er die Mutter und ließ sein sündhaftes Leben hinter sich um sich, als ihr ergebenster Diener, in ihre Dienste zu stellen. Zwei Herzen weinten an jenem Tag, doch die Wunden schienen verheilt. Lag doch die Vergangenheit in schier unendlicher Ferne.
Sein Blick traf den ihren, als er das Gebäude betrat, und beide schenkten sich ein Lächeln. Einen kurzen Augenblick waren sie wieder jung. Zumindest war dies Terek so vorgekommen.
Es folgte jedoch kein Innehalten. M'Kelya kümmerte sich kurz darauf um einen apathisch an die Decke seiner Nische starrenden Mann, dem sie ein nasses Tuch auf die glühende Stirn legte, aus der sie zuvor wirre, graue Haarsträhnen gestrichen hatte, während Terek an ihr vorbei schritt, langsam auf das Ende der langen Halle zusteuernd und rechts wie links zu den daliegenden Insassen blickend.
Jede Woche aufs Neue fehlten einige der Gesichter, die Terek zuvor noch angelächelt und denen er gut zugeredet hatte. Die Meisten unter ihnen waren alte Menschen, die krank und schwach waren und die sich in ihren letzten Tagen oder Stunden nach dem Mutterschoß, dem ewigen Frieden, sehnten.
Immer wieder kam es vor, dass Terek gefragt wurde, ob er die Mutter um Verzeihung bitten könne, da die Sterbenden ihren Glauben vernachlässigt oder im Laufe ihres Lebens gänzlich verloren hatten. Jedes Mal nahm Terek die Hand des jeweiligen Bittstellers in die seine und flüsterte ihnen mit leiser Stimme zu, dass die Mutter barmherzig sei und ihre Kinder nie aufgebe.
„Die Liebe der Mutter ist unsterblich. Sie wird dir ewigen Frieden schenken. Bete zu ihr und sie wird dir den Platz in ihrem Schoß zuteilwerden lassen", erzählte er immer wieder aufs Neue.
Er verbrachte einige Zeit hier und unterhielt sich mit einigen Männer und Frauen, die kräftig genug waren eine Konversation zu führen. Viele von ihnen sehnten sich nach Worten, sie lechzten nach Anhörung und Aufmerksamkeit. Und durch Terek erfüllte ihnen die Mutter diesen Wunsch.
Im zweiten Stock waren die Waisen untergebracht. Mädchen und Knaben aller Altersklassen. Waberte noch Schwermut durch die Luft im Erdgeschoss, schlug einem hier fast so etwas wie Fröhlichkeit und Unbekümmertheit entgegen. Vom Säugling bis zu den fast schon Erwachsenen waren sie alle vertreten und konnten dabei auf die Betreuung von gleich sechs Männern und Frauen zählen. Zwei der vier Frauen waren stets junge Ammen, die imstande waren, den Säuglingen die Brust zu geben. Die beiden anderen Frauen widmeten sich der Erziehung der Mädchen und der kleinen Jungen, die beiden Männer kümmerten sich um die größeren Knaben, denen sie auch oftmals Arbeit außerhalb des Armenhauses verschaffen konnten und ihnen somit den Weg in ein eigenständiges Leben wiesen. So hatte beispielsweise der schwarze Nkemayu einen starken Burschen in seine Truppe aufgenommen, der nun für die Instandhaltung seiner Karren zuständig war.
Viele Mädchen und Jungen entschieden sich allerdings irgendwann dazu, des Nachts dem Armenhaus und dem gefühlten Elend zu entfliehen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Die meisten von Ihnen, so vermutete Terek, würden allerdings bei dem Versuch es auf eigene Faust schaffen zu wollen, scheitern. Viele der Mädchen würden ihr Überleben wohl nur dadurch sichern können, indem sie ihre Körper verkauften und die meisten Jungen würden irgendwann tot auf der Straße oder lebendig in einem Kerker enden. Auch über ihre Seelen, so betete er, solle die Mutter ihre schützende Hand halten.
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