01 - Die Nebel des alten Volkes (3)


Kayken Pisao empfing auch Kaysu Boste mit einem Lächeln auf den Lippen, warmen Worten der Begrüßung, jedoch nur mit einem einfachen Händedruck, den der Kaysu beinahe teilnahmslos über sich ergehen lies.

Boste war Di nicht sehr geheuer. Was erwartete er auch, angesichts des Blutes, welches durch die Adern des Tesekovi floss.

Suki, die plötzlich neben ihm aufgetaucht war, riss ihn schließlich aus seiner Gedankenwelt.

„Du siehst aus, als hättest du einen Hornbock gesehen. Hast du etwa Angst vor dem Kaysu?", fragte sie ihn grinsend. Di schüttelte energisch den Kopf.

Sicher, die Tesekovi wirkten, anders als die Kumari oder Lubyra, wahrlich ein wenig bedrohlich. Selbst sein Vater wusste, dass sie nicht sehr begeistert von dem erblühten Handel mit Venua waren. Doch musste er sie deshalb fürchten?

„Vater meint, ich muss mich für die große Versammlung etwas hübsch machen, da ich dort an seiner Seite sein muss", erklärte Suki ihm, während sie dabei genervt mit den Augen rollte. Schon sehr oft hatte Di sich anhören müssen, dass sie es nicht sonderlich mochte, sich hübsch herzurichten. Das wäre etwas für gackernde Hühner, hatte sie stets betont. Doch so sehr er diese Einstellung an Suki auch mochte, so neugierig war er insgeheim doch darauf, sie einmal in einem feinen Kleid zu sehen, dass die Mädchen aus seiner Welt immer trugen.

Sie umarmte ihn zum Abschied und verschwand in Richtung der Hütte ihres Vaters.

Auf dem großen Platz inmitten der Siedlung war eigens für die einberufene Versammlung ein hohes, hölzernes Podest errichtet worden, von welchem aus Sukis Vater zu seinem Volk sprechen würde. Auf einer einfachen Pfahlkonstruktion thronte, etwa zweieinhalb Meter hoch, eine entsprechende Plattform, die über eine beigeschobene Treppe erreicht werden konnte, welche offenbar im Ganzen aus dem Stamm einer Titanfaust gehauen worden war. Von dort oben, würde jeder einen Blick auf den Kayken werfen können. In vorderster Reihe davor hatte man drei kunstvoll geflochtene Sitzgelegenheiten aus dünnen Zweigen und Farnen aufgestellt, deren Sitzflächen mit weichen Blättern ausgelegt waren und auf denen später wohl die drei Kaysu Platz nehmen durften.

„Hat dir deine kleine Freundin denn verraten, was ihr Vater sprechen wird?", wandte sich Gekk mit seiner Frage an ihn. Der Söldner wirkte noch ein wenig kränklicher, als er es ohnehin schon immer tat, lächelte aber stets, wenn Di sich in seiner Nähe befand. Gekk war immerhin der einzige ihrer Begleiter, der seine Zeit mit ausgiebigen Spaziergängen in und um die Siedlung herum verbrachte, anstatt sich in ihre Hütte zu verkrümeln und, wie etwa sein Kamerad Hanz, vor sich hin zu grummeln.

„Nein, das hat sie nicht. Sie weiß es ebenfalls nicht. Nur Spitzkinn und mein Vater wissen wohl, um was geht."

„Das glaube ich gerne", lachte Gekk, „die beiden haben schließlich viel Zeit mit dem König verbracht."

„Kayken", korrigierte Di ihn, „ein Wort aus der alten Sprache. Er wurde von den vier Völkern gewählt. Ganz anders also, als ein König oder Regent."

Gekk nickte: „Interessant, interessant. Was du nicht alles weißt, Kleiner. Von dir kann ich wohl noch einiges lernen."

Worte, welche Di mit Stolz erfüllten.

„Ich werde dann mal Hanz, diesen griesgrämigen Esel aufwecken. Wir sollen später an der Seite deines Vaters weilen. Er wird bei dem Oberhaupt stehen dürfen. Beim Kayken. Dieses Mal bin ich richtig, nicht wahr?"

Di nickte und Gekk zwinkerte ihm grinsend zu, als dieser schließlich kehrt machte, um seinen Kameraden Hanz Gorke aufzuwecken. Eine äußerst unschöne Aufgabe, um die niemand zu beneiden war.

Natürlich hätte Di sich nun zu Grün und Draben gesellen können, die gerade dabei waren die verladebereiten Tauschgüter zu zählen und zu kontrollieren. Während der dicke Donte Säcke voller Beeren und Nüssen, eingerollte Decken aus zusammengenähten Wühlerfellen, sowie ganze Büschel aus getrockneten, roten Pflanzen, zur Seite schaffte, befand sich der alte Fitz in einer hitzigen Diskussion mit einem fremden Buranier, dem er vorwarf, von Irgendetwas zu wenige Säcke herbeigeschafft zu haben.

Ihre Abreise Richtung Heimat stand schließlich schon in Kürze bevor und alle Vorbereitungen dazu, wollten von den beiden Fuhrmännern bis dahin getroffen sein.

„Wenn Elisus Hofken seinen Auftrag erledigt hat, werden wir aufbrechen. Nach der großen Versammlung wird es soweit sein. Ich möchte, dass dann allesamt abreisefertig sind und es zu keinen weiteren Verzögerungen kommt", hatte Kal Brahmen vor ihrem letzten Schlaf verkündet.

Noch bevor die Tesekovi in die Siedlung einmarschierten, war er schon aufgestanden, um sich zu Kayken Pisao zu gesellen. Di, noch im Dämmerschlaf, hatte nur kurz ein Auge geöffnet, als er ihre Hütte verließ, dann aber wieder seinen Kopf in dem weichen Blätterhaufen vergraben, auf dem er lag.

Di mochte die beiden Fuhrmänner nicht stören, kletterte stattdessen auf einen der, am Rande wilder Hecken geparkten, Wagen und beobachtete von dort aus den großen, weitläufigen Platz vor dem hohen Podest.

Es dauerte nicht mehr lange, da kamen auch schon die ersten Menschen zusammen, die teilweise auch aus den Gegenden, die um die große Siedlung herum lagen, stammten. Schon kurz nach der Einberufung der Kaysu, waren die ersten Buranier von Außerhalb eingetroffen. War die Siedlung bereits zuvor voller Leben, so glich so nun doch bereits, in Teilen, einem Marktplatz. Nicht anders verhielt es sich bald auch schon mit dem großen Platz, auf dem am Ende gar nicht mehr alle Versammelten unterkamen. Aus diesem Grund kletterten hauptsächlich die jungen Buranier auf die, vereinzelt vorhandenen, Dächer ihrer Hütten, auf die Äste kleinerer Obstbäume oder sie nahmen auf den Schultern ihrer Mütter und Väter Platz, um besser sehen zu können.

„Hast du denn von hier aus auch alles im Blick, Dieke?"

Sein Vater hatte sich durch die Menge geschoben, um noch einmal das Gespräch mit ihm zu suchen, bevor es losgehen konnte. Sein schwarzes Fell wurde von einem Überwurf aus weißen Baumfasern verdeckt und um seine Schultern wehte ein roter, etwas steif wirkender, Umhang.

Der Kayken hatte ihm ebenfalls schöne Kleider gegeben, so wie er es auch für Suki vorgesehen hatte. Wie feierlich musste der Anlass wohl sein?

„Weshalb kann ich nicht mit dir und Gekk bei Suki und dem Kayken sein?"

„Ich werde nur auf Verlangen des Kayken auf das Podest steigen, den Rest der Zeit nur dahinter stehen. Von hier hast du einen viel besseren Ausblick", erklärte er seinem Sohn, während er seine große, schwielige Hand auf dessen Schulter legte. Dann blickte er kurz hinüber zu Grün und Draben.

„Außerdem muss doch jemand unsere Wägen bewachen", ergänzte er und lächelte.

Als ob irgendjemand Interesse daran gehabt hätte, auch nur in deren Nähe zu kommen, dachte sich Di, sprach es jedoch nicht aus.

„Suki und Du werdet euch auf jeden Fall noch einmal sehen können, bevor wir aufbrechen, falls es das ist, was dir Sorgen macht."

Di merkte, wie die Röte in sein Gesicht stieg, schüttelte daraufhin prompt mit dem Kopf.

„Darüber mache ich mir keine Sorgen", sprach er die Wahrheit. Es wäre ihm nur lieber gewesen, in ihrer Nähe sein zu dürfen.

„Wie dem auch sei. Pass mir auf die Wägen und meine beiden Fuhrmänner auf", sprach Kal Brahmen, klopfte seinem Jungen noch einmal auf die Schulter und verschwand wieder in dem Meer aus Körpern, welches statt Wellenrauschens, ein lautstarkes Stimmengewirr von sich gab.

Donte, der ächzend damit begann schwere Säcke auf die Ladefläche seines Karrens zu verladen, schwitzte wie ein Schwein. Seine Wangen waren apfelrot und er schnaufte sichtlich schwer. Niemand schien sich wohl so sehr auf ihre Abreise zu freuen, wie der arme Kerl. Di hingegen wollte sich nicht so recht damit anfreunden, dass er Suki schon bald wieder verlassen müsste. Vielleicht sollte er einfach hier bleiben, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Das Leben hier gefiel ihm gut, auch wenn man hier bei Weitem nicht den Luxus kannte, den man oben als selbstverständlich erachtete. Er würde bald elf Jahre alt sein, fast schon ein Mann. Nein, er würde stattdessen einen Weg finden, wie er Suki mit nach oben nehmen könnte. Das war die Idee, die er zu Ende denken musste.

Umringt von ihren Leibgarden nahmen die drei Kaysu ihre Plätze ein. Ganz rechts, von dem Podest aus gesehen, der schwarze Riese Komo, in der Mitte der kleine, haarige Ulutur und ganz links der finster dreinblickende Boste. Wie eine gewaltige Welle brandete der Jubel über die Köpfe der Massen hinweg, als schließlich der Kayken auf das Podest trat. Er trug die Haare offen und eine vierzackige, hölzerne Krone auf seinem Kopf. Um seine Schultern hatte er einen langen Umhang gelegt, rot wie Blut, den er auf Höhe seines Schlüsselbeins mit einer hölzernen Brosche zusammenhielt. Ihm folgte Suki, deren wallende Mähne in einen dicken, langen Zopf verwandelt worden war. Unzählige der kleinen blau-weißen Blumen, die die Buranier Ahnenaugen nannten, hatte man darin eingeflochten.

„Wie Blut auf Schnee", dachte sich Di angesichts des Kontrasts der roten Farbe des Umhangs zu ihrer weißen Haut. Sie erschien auf diesem Podest schöner als je zuvor, dachte er sich, während ihm eine unerklärliche Hitze ins Gesicht stieg.

Hinter Suki folgte der Kaymo, Boko, der einen langen Speer in seiner rechten Hand hielt und der sich mittig hinter Suki und ihrem Vater platzierte. Elisus Hofken, das Spitzkinn, eingehüllt in seine edelsten Kleider, den roten Umhang ebenso um die Schultern, trat links neben den Kayken und setzte sein bestes, selbstherrliches Lächeln auf. Man konnte förmlich den Schweiß auf seiner hohen Stirn glänzen sehen, angesichts der unangemessen, vielen Stoffe, die ihn wie eine Zwiebel umschlossen.

Di spitzte die Ohren, als der Kayken seine Arme erhob und die Menge zum Verstummen brachte.

„Volk unter den Nebeln! Ich habe euch hier zusammenkommen lassen, um zu verkünden, was ich in den letzten Tagen ausführlich mit dem Mann zu meiner Linken besprochen habe."

Er blickte kurz zu dem immer noch grinsenden Spitzkinn hinüber.

„Wem es noch nicht zu Ohren gekommen sein sollte: Dieser Mann ist Elisus Hofken, ein Gesandter des Regenten der Erdenläufer, dem ehrenwerten Palu Venua dem Zweiten."

Bei den letzten Worten brach ein aufgeregtes Getuschel unter den Zuhörern aus. Die Formulierung ‚ehrenwerter Regent' schien auf wenig Zustimmung zu stoßen. Die Kaysu jedenfalls wirkten eher unbeeindruckt, rührten sich nicht im Geringsten, sondern schauten gespannt zu ihrem Oberhaupt auf.

„Ich weiß um den Groll, den gerade die anderen Völker gegen die Menschen der Oberwelt hegen, aber ich kenne auch die Skepsis, die unter den Buraniern noch in mehr oder minder großen Teilen vorherrscht. Ich weiß ebenso, dass das Verhältnis zwischen den vier Völkern und den Erdenläufern nie von Liebe geprägt war. Unsere Konflikte brachten in der Vergangenheit Not und Elend, Trauer und Resignation auf beiden Seiten hervor."

Er machte eine kurze Pause, in der er einen weiteren, kurzen Blick mit Spitzkinn tauschte.

„Doch die Zeiten des Zorns und der Bitterkeit dürfen nicht bis ans Ende allen Lebens andauern. Wer, wenn nicht wir, sollten dem ein Ende bereiten? Unseren Kindern und all denen, die noch auf uns folgen werden, den Weg in eine bessere Zukunft ebnen. Viele von uns haben die Erdenläufer besser kennen gelernt. Männer und teilweise auch Frauen, die seit einiger Weile zu uns kommen und kamen. Wir in der Siedlung des großen Hutte, haben keine Monster in unserer Mitte empfangen, sondern Menschen, die nicht anders sind als wir.

Der Gesandte aus Venua ist nicht ohne Grund zu uns gekommen. Er kam, um uns ein Angebot zu überbringen. Der Regent der Erdenläufer, ist bereit den Zugang in die obere Welt zu öffnen. Er ist bereit die Wächter in großen Teilen abzuziehen und jedem Angehörigen der vier Völker soll es ab dann freistehen, sich zwischen den Welten zu bewegen."

Das Menschenmeer wurde lauter. Der Wellengang aufbrausend. Wild. Kein Jubel, doch auch keine echte Unzufriedenheit war zu vernehmen. Ungläubig starrte Di auf die Personen, die dort oben auf dem Podest standen. Seine Gedanken überschlugen sich förmlich.

Hatte er da gerade richtig gehört? Gerne hätte er sich selbst gekniffen, um zu überprüfen, ob er nicht vielleicht nur träumte, aber dann realisierte er, dass er, sollte dies wirklich nur ein Traum sein, am Liebsten gar nicht mehr aufwachen wollte. Als hätte der eine Gott seinen größten Wunsch erhört und ihn wahrwerden lassen. Sein Herz hüpfte in seiner Brust.

Er sah Suki, die sich eine Strähne ihres feurroten Haares hinter ihr Ohr strich. Was ihr wohl gerade durch den Kopf ging?

„Dies verknüpft der Regent mit einer einzigen Bedingung. Alle Männer, kampffähigen Alters, die ihre neue Freiheit in Anspruch nehmen wollen, müssen eine Ausbildung in der venuarischen Armee durchlaufen, einen Eid auf den Regenten schwören und sich dadurch dazu verpflichten, in den kommenden Kriegen an der Seite ihrer neuen Brüder zu kämpfen."

Die Wellen aus Stimmen schlugen gegen unsichtbare Felsen.

Kaysu Komo hievte sich als Erster hoch. Er blickte auf die Massen in seinem Rücken. Es dauerte, bis er seine Stimme an den Kayken richten konnte: „Freiheit ist größte Kostbarkeit der Kumari. Freie Entscheidung für Kampf und Krieg ist gutes Angebot. Wenn unser Kayken entscheidet für Zustimmung für Mann des Erdenläufer-Kayken, er tut das mit dem Segen der Kumari."

Kopfschüttelnd erhob sich Boste und spuckte, laut hörbar, aus: „Dieser Mann kommt hierher zu uns", regelrecht drohend deutete er mit seinem dicken Zeigefinger auf Spitzkinn, „er genießt die Gastfreundschaft unseres Kayken und will uns im Gegenzug verspotten?"

Auch er sprach nun direkt zu den Anwesenden auf dem großen Platz: „Ich frage euch, habt ihr vergessen was war? Seid ihr so naiv zu glauben, dass uns die Erdenläufer einfach die Freiheit schenken wollen? Die Vorfahren dieser Händler, waren es, die unsere Ahnen gejagt und ermordet haben. Sie haben unsere Brüder und Schwestern abgeschlachtet und ihnen die letzten Flammen verwehrt. Marschiert ruhig durch den Eingang, aber wundert euch anschließend nicht, wenn euch diese Barbaren die Haut abziehen."

Spitzkinn erhob nun seine Stimme und versuchte gegen das Donnern anzukommen. Erst als der Kayken zu dessen Rechten beschwichtigend die Arme hob, verstummte die aufgebrachte Menge nach und nach, und auch der Gesandte kam zu Wort.

„Ich kann Euch versichern, werter Herr, dass auf das Wort unseres Regenten Verlass ist. Sofern ich mir der Zustimmung der vier Völker gewiss sein kann, werde ich ihm diese Nachricht überbringen. Gewiss werden im Nachhinein noch gewisse Sicherheiten zum Thema kleinerer Verhandlungen werden, doch das wird dann eine Sache zwischen Kayken Pisao und Palu Venua sein. Ich weiß, dass ich heute nicht jeden Einzelnen überzeugen kann. Wichtig ist, dass die Mehrheit von euch mir ihr Vertrauen schenkt. In unser aller Adern fließt rotes Blut. Einem möglichen Feind wird es egal sein, ob er das Blut auf venuarischem Boden oder unter den Nebeln des alten Volkes vergießen wird. Ein Angriff auf Venua, wird auch ein Angriff auf euch sein. Lasst uns gemeinsam unsere Heimat verteidigen. Wie die Brüder und Schwestern, die wir im Grunde genommen sind."

Der Kayken sprach nun zu seinem Kaysu, bevor dieser auf Spitzkinn antworten konnte: „Ich verstehe deine Sorgen. Auch ich habe zurückgeblickt und mich daran erinnert, was zwischen unseren Völkern gewesen war. Aber wir sollten nicht zurückblicken, sondern nur nach vorne schauen. Es herrscht Frieden in der Welt der Erdenläufer. Der Ausbruch eines Krieges ist derzeit unwahrscheinlich. Die Öffnung des Zuganges bringt uns letztendlich nur Vorteile. Auch eine Ausbildung unserer Männer hat für Jene ihrer Vorzüge. Sie lernen die Welt kennen, erhalten Zugang zu Bildung und die Freiheit anschließend aus ihrem Leben zu machen, was immer sie sich wünschen. In erster Linie sollten wir an unsere Kinder denken und heute den Grundstein für eine bessere Zukunft für sie legen."

„Ich pisse auf die verlogenen Worte dieses widerlichen Schwindlers. Wenn er glaubt wir seien allesamt Karmirys, denen er den Kopf verdrehen kann, liegt er falsch. Ich vertrete hiermit die Meinung der Tesekov und werde davon nicht abrücken", schleuderte Boste, mit bebender Stimme, in Richtung des Podests zurück. Anschließend nahm er wieder Platz und verschränkte die Arme. Seine zehn Leibgardisten nickten einander zustimmend.

Nun erhob sich der kleine Kaysu Ulutur, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte: „Die Lubyra stehen hinter ihrem Kayken. Die Vergangenheit ist nur noch dazu da, um aus ihr zu lernen und aus dem Gelernten sollten wir unsere bestmögliche Zukunft formen. Das wir diese nicht von der Meinung der Tesekov abhängig machen sollten, hat uns der gute, alte Kayken Muto gelehrt, der dafür verantwortlich war, dass wir hier und heute überhaupt über ein Angebot bezüglich der Öffnung des Zugangs diskutieren dürfen. Der Nebel ist hier, ebenso wie all unser Glück. Doch die wahre Freiheit liegt jenseits von Barrieren und somit jenseits unserer Welt. Mit ihr können wir unser Glück mehren. Die Lubyra unterstützen in dieser Angelegenheit den Kayken."

Der Jubel im buranischen Volk kam zurück, nachdem Ulutur gesprochen hatte. Kaysu Boste warf dem kleinen Mann einen verachtenden Blick zu. Di konnte genau erkennen, wie Spitzkinn wieder seine strahlend weißen Zähne zeigte. Die Rückmeldung aus der Masse war für ihn ein Erfolg, da scherte es ihn auch nicht, dass Boste ihn einen ‚widerlichen Schwindler' genannt hatte.

Der Regent hatte ihn mit dem Auftrag hierher geschickt die beiden Welten zu einen und es sah wohl ganz danach aus, als sei ihm dies gelungen.

Seit hunderten von Jahren empfanden Venua und die Zweitwelt nichts als Gleichgültigkeit, Ablehnung oder Hass gegenüber den jeweils Anderen und nun wollte Regent Palu Venua, der Sohn des berühmten roten Palus, die beiden Welten vereinen. Frieden schließen.

Das Erste, was er zu tun gedachte, wenn sich der Zugang öffnen sollte, war Suki seine Welt zu zeigen. Anfangen würde er mit den Klupingbergen, dann sollte seine Heimatstadt Klupingen folgen. Er würde mit ihr an den Moteem reisen, den großen Fluss, der die Mittlande von den Westlanden trennte. Und wenn sie diesem folgten, würde ihre Reise sie ans Meer führen. Was sie wohl zu dem ‚unendlich großen See' sagen würde, den sie sich nie so recht vorzustellen vermochte?

„Hör auf mich zu verscheissern", hatte sie ihm gesagt, als er ihr das erste Mal über den Ozean erzählte. Oh, sie käme nicht mehr so schnell aus dem Staunen heraus, da war er sich sicher.

Just in diesem Moment, sah er, wie Suki ihrem Vater etwas ins Ohr flüsterte, was diesen ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Sanft strich Kayken Pisao seiner Tochter über die rechte Wange und wandte sich erneut den versammelten Menschen zu. Erneut breitete er seine Arme aus und binnen weniger Sekunden verstummte das Volk auch schon wieder.

„Im Antlitz unserer Ahnen treffe ich somit folgende Entscheidung: Die vier Völker nehmen das Angebot der Erdenläufer an. Dies besiegele ich mit meinem Blut, vor den tausend Augen des alten und des gegenwärtigen Volkes."

Boko reichte dem Kayken eine steinerne Speerspitze, mit der dieser sich seine linke Handfläche einritzte. Seine blutende Hand reckte er daraufhin entschlossen gen Nebel.

Der kurz zuvor erneut ausgebrochene Jubel verstummte schnell wieder, als das Blut des Kayken auf den Erdboden tropfte. Erst verstand Di nicht so recht, was geschehen war, doch als der Hauptmann der Leibgarde plötzlich seinen Arm um Suki legte, sie Richtung Boden drückte und mit ihr fluchtartig das Podest verließ, realisierte er was soeben passiert, welches Detail ihm entgangen war. Dieses dünne, spitze, rotverfärbte Ding. Auch Spitzkinn eilte panisch zu der Treppe, nur runter von diesem Präsentierteller. Der Kayken indes stürzte von dem Podest und landete, von einem dumpfen Schlag begleitet, auf dem braunen, matschigen Boden. Regungslos blieb sein Körper liegen. Die hölzerne, vierzackige Krone landete vor den Füßen Kaysu Uluturs. Aufgebracht stürzten sich die Leibgarden Komos und Bostes auf einen blutenden Mann, der aus der Menschenmenge herausgestürmt war, den Di allerdings nicht recht erkennen konnte. Ein wildes, ohrenbetäubendes Geschrei folgte auf die kurze Stille und in Panik stoben plötzlich die Menschenmassen auseinander. Wie wilde Tiere stießen und schubsten sie sich gegenseitig beiseite und begruben die Schwachen unter sich. Ein Kind, welches direkt neben Dontes Karren stand, fing laut an zu weinen. Es blieb keine Zeit, das soeben Gesehene vernünftig einzuordnen. Seine einzig präsenten Gedanken waren nun bei Suki und seinem Vater.

Di sprang über die Seitenwand des Eselkarrens und versuchte sich durch die flüchtende Menschenmenge zu schieben. Ein Ellbogen erwischte ihn an der Schläfe und schon taumelte er wie ein, vom Wind getragenes Blatt, unkontrolliert durch den panischen Menschenstrom. Einmal, zweimal konnte er sich gerade noch so auf den Beinen halten, bis ihn plötzlich Hanz Gorke am Arm packte und zurück zu dem Karren zog. Als Di versuchte sich aus seinem Klammergriff zu befreien, eilte auch Gekk Bauwer an seine Seite, packte ihn an der Schulter und rief ihm zu: „Wir müssen von hier verschwinden. Schnell!"

„Suki! Mein Vater! Wir müssen ihnen helfen", stammelte Di panisch.

Der Nebel schoss auf sie herab. Das alte Volk war wild. Das alte Volk war zornig.

„Dein Vater ist tot, Junge. Dein Vater ist tot."

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