01 - Die Nebel des alten Volkes (1)
Nur langsam kamen die beiden Karren auf dem modrigen Untergrund voran. Je weiter sie der Weg in das dichte Unterholz führte, desto wärmer und feuchter wurde die erdig riechende Luft um sie herum. Ihre Kleidung klebte den Männern und dem Jungen mittlerweile wie nasse Lappen am Körper und der Schweiß rann ihnen in die teils erschöpft, teils genervt dreinblickenden Gesichter. Der schmale Pfad, dem sie folgten, war gerade so breit, dass er befahren werden konnte.
Um sie herum wucherten wilde Hecken und Sträucher. Beindicke, fremdartige Rankenpflanzen versperrten ihnen immer wieder den Weg und mussten von dem starken Hanz Gorke und seinem Begleiter, dem jungen Gekk Bauwer, niedergemäht werden.
Di war froh, dass Gorke und Bauwer, mit ihren großen Schwertern, ihre Gruppe begleiteten. Bislang war es jedoch noch nie notwendig gewesen, dass die beiden Söldner ihre Waffen gegen etwas anderes, als besagte Weghindernisse, erheben mussten. Im Gegensatz zur rasch wachsenden Flora, bestand die Fauna hier unten nämlich größtenteils nur aus kleinen Tierchen, wie Insekten, Fröschen oder ungiftigen Schlangen. Zumindest auf ihrer Route nach ‚Huttes Siedlung', wo sie zwei Wagenladungen Rüben, Karotten und Getreide abliefern würden, hatten sie für gewöhnlich nichts zu befürchten.
Vereinzelt schaukelten die vier Esel, jeweils zwei pro Karren, sie an Bäumen vorbei, die größer waren, als alles was sie von oben, aus Venua, kannten. Wie riesige, hölzerne Spiraltürme schraubte sich jene Giganten in die Lüfte und man konnte ihre Blätterkleider nur erahnen, da die dicken Stämme im dichten, grauen Nebel verschwanden, der wie eine rauchige Decke über ihnen schwebte. Nicht einmal wenn sich Di und die sechs Männer an den Händen genommen hätten, wären sie in der Lage gewesen den Baum auch nur zu einem Fünftel zu umschließen. Das Wurzelwerk erstreckte sich teils auf bis zu hundert Meter um die Stämme herum und ragte stellenweise hoch wie zwei Mann aus dem Boden hervor.
„Welch Ungetüme. Man könnte doch glatt eine ganze Galeere aus einem dieser Dinger fertigen", bemerkte Fitz Grün, der den hinteren Eselskarren steuerte, auf dessen Ladefläche es sich Di bequem gemacht hatte. Sofern man es bequem nennen konnte, wenn man, trotz dicker Wolldecke unter dem Hintern, noch immer jede einzelne Rübe unter sich spürte. Grün war ein älterer Mann aus einem Nachbardorf, mit einem freundlichen, wenn auch etwas runzeligen Gesicht mit sonnengebräunter, lederner Haut, der stets etwas gebeugt ging. Sein langer, grauer Vollbart und die ebenfalls grauen Haare, die links wie rechts aus seinen Ohren, sowie spärlich aus seiner Kopfhaut, sprossen, verliehen ihm genau das Erscheinungsbild eines alten Mannes, der er mit seinen beinahe siebzig Jahren ja auch war.
„Man nennt sie Titanfäuste und mit Schiffen können die Menschen hier unten nichts anfangen, da es kein Meer unter den Nebeln gibt", erklärte ihm Di.
„Menschen", wiederholte Hanz mit einem höhnischen Unterton und spuckte aus.
Gorke war ein kleiner, stämmiger Mann mit rasiertem Schädel, der nicht nur einen grimmigen Blick, sondern auch ein grimmiges Wesen besaß. Di mochte ihn nicht besonders. Viel lieber war ihm da dessen Kamerad Gekk Bauwer, ein dünner, schlaksiger Kerl mit schulterlangem, kastanienfarbenem Haar, der zwar überaus blass und kränklich aussah, sich aber unheimlich schnell bewegen konnte. Gekk brachte ihn immer wieder mit lustigen Geschichten zum Lachen, die er so gut und detailreich erzählen konnte, wie kein Zweiter, den Di kannte. Außerdem hatte er ihm immer mal wieder gezeigt, wie flink und geschickt er mit seinem Schwert umgehen konnte.
„Wenn uns hier jemand überfallen möchte, bringe ich ihn schneller zur Strecke als er ‚LeckmichamArschverdammt' sagen kann", hatte der Söldner ihm versichert, als er, wie auch Hanz, zum ersten Mal mit der Gruppe aufgebrochen war. Letzterer hatte für diese Bemerkung nur ein sarkastisches Glucksen übrig. Seitdem schnitt Gekk Hanz immer wieder fiese Grimassen hinter dessen Rücken und Di musste sich stets zusammenreißen, wenn er nicht laut loslachen wollte.
Zu ihrer Truppe gesellte sich auch der zweite Fuhrmann Donte Draben, ein gut genährter Mann mit rundem Allerweltsgesicht, einer kleinen, aber breiten Nase, einem schmalen Mund und zwei grünen Augen, die stets konzentriert den Blick auf den Weg gerichtet hielten.
Dann war da noch das ‚Spitzkinn', wie Gekk ihren wohl wunderlichsten Begleiter nannte. Spitzkinn, dessen richtiger Name Elisus Hofken lautete, war ein hochrangiger Gesandter des schwarzen Palus, dem Regenten von Venua, der sich ihnen aus irgendeinem Grund, den Di nicht kannte, auf ihrer Reise angeschlossen hatte. Sein namensgebendes, hervorstehendes Kinn sollte dann aber auch schon sein einziger Makel sein. Hofkens Gesicht war so glatt, wie das eines Jünglings, die Augenbrauen fein säuberlich gestutzt, die dünnen, braunen Haare ordentlich zur Seite gekämmt. Spitzkinns Zähne strahlten in einem götterreinen Weiß, wenn er mal wieder sein gekünsteltes Lächeln aufsetzte. Und das tat er oft. Seine feine, rote Kleidung, aus edelstem Stoff gearbeitet, hatte er gegen eine zerrissene, graue Weste eingetauscht, welche Kal Brahmen ihm überreicht hatte.
„Damit Sie nicht so sehr auffallen", hatte dieser zu Spitzkinn gesagt.
Kal Brahmen, zu guter Letzt, leitete ihre Reise. Er war es, der sowohl die Söldner, als auch die Fuhrmänner für ihre Dienste bezahlte.
Mit nacktem Oberkörper saß auf den Steckrüben, mit denen die Ladefläche des Karrens von Donte Draben bis zum Rand befüllt waren. Brust, Bauch und Rücken wurden von einem dichten schwarzen Fell bedeckt, wie das eines Bären und in seinem Gesicht wuchs ein prächtiger, ebenso schwarzer Vollbart.
Trotz seiner kleinen Stupsnase, den roten Wangen, den weichen Gesichtszügen, sowie seiner beinahe schon schmächtigen Gestalt, erkannte man direkt, dass Dieke Brahmen, genannt Di, seines Vaters Sprosses war. Die beinahe leuchtend hellblauen Augen und das struppige, schwarze Haar hatte er mit ihm gemein, was dazu führte, dass ihre Verwandtschaft offensichtlich erschien, wie ihm fremde, wie auch ihm bekannte Menschen immer wieder versicherten. Eines Tages würde er auch so stark und berühmt sein wie sein Vater, das wusste er genau.
Kal Brahmen war nämlich kein gewöhnlicher Mann, sondern der berühmteste Händler von ganz Klupingen. Nicht umsonst hatte der Regent ausgerechnet ihm, mit Elisus Hofken, einen solch wichtigen Mann als Begleitung anvertraut. Zumindest stand dies so auf dem Stück Papier, welches ihnen vor etwa einer Woche von einem offiziellen Boten des Palastes von Venuris zugestellt wurde, mit dem persönlichen Siegel des Regenten versehen. Darin, so erzählte Dis Vater, erwähnte der Regent, dass man sich im Hause Venua keinen vertrauenswürdigeren Begleiter für Hofken vorstellen könne. Natürlich war Kal Brahmen sehr stolz auf diesen Lobgesang. Bescheiden wie er in dieser Hinsicht war, ließ er sich nach außen hin zwar nichts davon anmerken, doch Di wusste, dass ihm diese, in wundervoll geschwungener Handschrift niedergeschriebenen, Worte sehr viel bedeuteten.
Am vorgestrigen Vormittag, wiederum einen Tag vor ihrer Abreise, war Hofken bei ihnen aufgetaucht, hatte sich ausführlich vorgestellt und sich nach der genauen Uhrzeit des Abmarsches erkundigt. Anschließend war der, sehr vornehm und höflich auftretende, zudem stark parfümierte, Mann mitsamt seinem großen Lederbeutel, in dem teuersten und edelsten Gasthaus ihrer Stadt abgestiegen. Als er am nächsten Morgen mit seiner feinen und somit völlig ungeeigneten Kleidung vor ihnen stand, mussten sich die anderen Männer ein Grinsen verkneifen. Einzig Hanz hatte lediglich ein Kopfschütteln für ihn übrig. Das wunderte Di allerdings nicht. Er war sich sicher, dass Hanz Gorke nie lächelte.
Bevor Kal Brahmen sich seinen Ruf erarbeitet und schließlich gar dazu auserkoren wurde, Elisus Hofken in die Nebel zu führen, war er ein einfacher Mann gewesen, der die Rübenfarm seines Vaters betrieb, von dem er sie, nach dessen Tod, übernommen hatte. Bald darauf erkannte er, dass es den Menschen weniger nach Rüben, als viel mehr nach exotischen Früchten gierte und speziell die gut Betuchten viel Geld dafür bezahlten. Viel mehr Geld als für Rüben. Die Baumschätze des, seit dem Krieg mit einem Embargo belegten Kontinents Namun, waren einst ein begehrtes Gut in gewissen Kreisen.
„Warum also nicht andere Wege beschreiten", sagte sich Brahmen damals und entschloss sich letztlich dazu, Handel mit den vier Völkern der ‚Zweitwelt' zu treiben, wie der Untergrund in Venua genannt wurde.
Dies war ebenfalls ein riskantes, manche sprachen gar von einem lebensmüden, Unterfangen. Doch Kal Brahmen ließ sich nicht von den alten Geschichten abschrecken.
„Eine große Torheit schien es zu sein, doch auch die Sehnsucht nach Abenteuer war es, die mich geleitet hatte. Am Ende wurde ich für mein Risiko belohnt", sagte er einst über diese Zeit, als sie sich eines Abends in einer geselligen Runde befanden. Es war jener Abend, bevor er Di zum ersten Mal mit auf die Reise genommen hatte. Seither begleitete er seinen Vater immer wieder. Die aktuelle Reise, war mittlerweile schon seine neunzehnte.
Zu der Zeit als Kal Brahmen noch ein Rübenfarmer war, war die Zweitwelt ein Ort, der von den Venuari gemieden wurde. Der einzig bekannte Zugang in diese fremde ‚Welt unter den Nebeln', wie deren Bewohner sie nannten, lag in den Klupingbergen, an deren Fuße die Stadt Klupingen lag. Ein großes Loch im Stein, dass in die Dunkelheit führte und in den Nebeln mündete. Seit dem berüchtigten ‚Massaker von Klupingen', vor weit über hundert Jahren, wurde der Zugang schwerstens, von Soldaten des Regenten, bewacht. Zu jeder Zeit, an jedem Tag.
Schon lange bevor jenes traurige Ereignis Teil der Geschichte des westlichen Kontinents werden konnte, waren die vier Völker bereits Gefangene in ihrer eigenen Welt gewesen. Die Stadtherren, damals Herrscher über das spätere Venua, duldeten die Töchter und Söhne ehemaliger Verbannter jedoch in ihren Landen, erhofften sich durch die zusätzlichen Arbeitskräfte noch mehr Reichtum. Der Argwohn der eigenen Untertanen gegenüber den ‚Wilden' blieb hingegen bestehen. Angefangen mit kleineren Streitigkeiten und Auseinandersetzungen, steigerte sich das Verhältnis gar bis in gegenseitige Abscheu und Verachtung und gipfelte letztlich in Kayken Mutos Besetzung der Stadt Klupingen.
Die Kampftruppen aus den drei umliegenden Bezirken mussten anrücken, um Klupingen aus dem Griff des Oberhauptes der vier Völker zu befreien. Die wenigen Überlebenden des Kayken wurden öffentlich, unter dem tosenden Applaus der kluping'schen Bevölkerung, hingerichtet. Da ein Krieg in der Heimat des Feindes für die Stadtherren nur mit massiven Verlusten zu führen gewesen wäre, entschlossen sich die oberen Herren schließlich dazu, den Eingang, welcher sich angeblich nicht versiegeln ließe, wieder zu bewachen.
Es kam der Tag, da stand Kal Brahmen mit einem Handwagen voller Rüben vor den verdutzten Eingangswächtern und verlangte Einlass. In all den Jahren hatte niemand je versucht die Zweitwelt zu betreten, weshalb niemand der Wächter wusste, was nun zu tun war. Man entschied sich die Befehlshaber in der entfernten Hauptstadt Venuris zu kontaktieren. Tage später erhielten sie die Nachricht, dass man es dem freien Volk Venuas nicht verbieten könne, man ihnen allerdings davon abraten sollte, die Zweitwelt zu betreten.
„Eine gefühlte Ewigkeit bin ich durch diese unbekannte, bizarre Welt geirrt und auf keine Menschenseele gestoßen, bis ich irgendwann, just als meine Wasservorräte aufgebraucht waren, auf eine Gruppe von vier Männern traf, die an einer Art Teich mit Speeren nach Fröschen jagten. Sie nahmen mich gefangen und führten mich zu ihrem Kayken, dem Anführer der vier Völker. Hätte ich weniger Glück gehabt, wäre ich nicht auf Buranier getroffen und nie bei Pisao gelandet", hatte Kal an besagtem Abend vor Dis erster Abreise seinen Männern erzählt.
Kayken Pisao, Oberhaupt der vier Völker, war ein sehr freundlicher Mann von geselliger Natur und hatte, im Gegensatz zu seinem Vorvorgänger, dem schändlichen Kayken Muto vom Volk der Tesekov, der so viele von seinen Leuten in den Tod schickte, reges Interesse an einem Austausch mit den Erdenläufern.
So nannten sie die Menschen, die von ‚Oben' in ihre Welt kamen.
Di freute sich aber weniger auf das Wiedersehen mit dem Kayken, mehr jedoch auf jenes mit dessen Tochter Suki.
Suki war vermutlich ein wenig älter als Di, der bereits zehn Jahre zählte, aber das war schwer zu sagen. Die Menschen unter den Nebeln kannten keine Zeit, wie etwa Stunden, Tage oder gar Jahre, was auch an dem fehlenden Wechsel von Tag und Nacht lag. Sie nahmen es daher nicht sehr genau mit derartigen Unwichtigkeiten, wie etwa dem eigenen Alter.
Suki besaß langes, feuerrotes Haar, welches bis zu ihren Schenkeln reichte und das jedes Mal wie ein Feuerschweif hinter ihr herwehte, wenn sie sich schnell bewegte. Lächelte sie, so bildeten sich jedes Mal unzählige Grübchen um ihre kleine Stupsnase, was ihm unheimlich gefiel. Auch wenn sie sich oftmals gar nicht sehr mädchenhaft benahm, so glaubte er dennoch, dass ihm genau das so an ihr gefiel. Eigentlich gefiel ihm alles an Suki und alleine der Gedanke daran sie bald wiederzusehen, ließ sein Herz ungewohnt höher schlagen.
Ihre kleine Gruppe kam zum Stehen. Eine kurze Verschnaufpause, die dazu genutzt wurde die Esel mit frischem Wasser zu versorgen und sich selbst in den naheliegenden Sträuchern Erleichterung zu verschaffen. Di wusste, wie sein Vater, mittlerweile genau, aus welchen der kleinen Quellen, an denen sie unterwegs vorbeikamen, man bedenkenlos trinken konnte. Mancherorts war das Wasser lediglich ungenießbar, andernorts konnte man jedoch krank davon werden. Den Fischen in diesen Gewässern schien es hingegen nichts auszumachen. Sie seien immun gegen die Gifte. Auf die Frage nach dem Warum antwortete sein Vater nur, dass alles in der Natur seinen Sinn und Zweck habe.
„Man kann allerdings nicht auf alle Fragen eine Antwort erwarten, Dieke. Auch wenn das oftmals wünschenswert wäre, so müssen wir unseren Wissensdurst doch ein ums andere Mal ungestillt belassen."
Wenn sein Vater dies sagte, dann musste es wohl so sein, dachte sich Di. Einzig der eine Gott wird es wissen und der würde sich wohl kaum um derart unwichtige Fragen eines kleinen Jungen kümmern. Hier unten gab es den einen Gott auch gar nicht. Die vier Völker beteten zu dem alten Volk im Nebel, ihren Ahnen.
„Nicht mehr weit bis zur geteilten Faust", teilte Kal seinen Männern bald darauf lautstark mit, was zu reihenweise erleichtertem Aufatmen führte.
Tatsächlich führte ihr Weg sie bald darauf mitten durch die berühmte letzte Titanfaust vor ‚Huttes Siedlung'. Eine weitere Monstrosität von einem Baum, in dessen Stamm aus irgendeinem Grund ein natürlich gewachsener Durchgang klaffte. Sein Wurzelwerk verhinderte, dass man einen Wagen einfach mal eben schnell um die Faust herumsteuerte. Mochte man nicht viel Zeit und Mühe aufwenden und riskieren mit den Rädern im tiefen Morast stecken zu bleiben, musste man den Weg hindurch wählen. Kal Brahmen hatte seine Wägen eigens so bauen lassen, dass sie gerade so hindurchpassten, auch wenn der dicke Draben sich beinahe mit seiner Fuhre verkeilte, was seine beiden Esel mit lautstarkem Blöken kommentierten.
„Zwei Esel spotten über den Dritten", scherzte Gekk Bauwer, woraufhin Di kurz amüsiert auflachen musste. Draben wurde schnell nervös, wenn ihm etwas misslang oder nicht auf Anhieb klappte. Auch jetzt rutschte er hektisch auf seinem Bock hin und her und wirkte beinahe so hilflos wie ein altes Weib. Hanz Gorke und Dis Vater, der wie auch Spitzkinn vorher von der Ladefläche geklettert war, halfen dem Fuhrmann durch kräftiges Anschieben bei der schließlich doch noch erfolgreichen Durchquerung der Faust.
Schon bald konnte Di auch schon die haushohen Pfähle der Palisade aus dem Nebel auftauchen sehen. Sie umspannten die große Siedlung rundum, einzig unterbrochen von den einzelnen Durchgängen, die stets von Speerträgern bewacht wurden.
Es kam ihm stets so vor, als würde sich das alte Volk über der Siedlung besonders wohlfühlen, denn der, über ihren Köpfen wabernde, Nebel wirkte hier wie ein langsam fließender Bach, beinahe lebendig.
Suki hatte ihm einmal erklärt, dass die meisten ihrer Verstorbenen ihre Nachkommen im Tod nicht verlassen wollen, wenn sie in den Nebel auffuhren und eins mit ihm wurden.
„Unsere Vorfahren wachen über uns und sind daher ständig in Bewegung", waren ihre Worte.
Was wohl passieren würde, wenn noch mehr Menschen sterben? Eine Frage, die sich Di daraufhin gestellt, allerdings nicht laut ausgesprochen, hatte. Würde man dann irgendwann nicht einmal mehr in der Lage sein, seine eigene Hand vor Augen zu sehen, weil der Nebel letztlich alles umschloss? Er fragte sich zudem, wie diese Welt wohl vor den Menschen ausgesehen hatte? Berührten vor langer Zeit einst Sonnenstrahlen den Boden oder lag einfach schon immer dieser bedrückende Grauschleier auf allem? Wie war das noch gleich mit dem ungestillten Wissensdurst?
Die mit langen, geschnitzten Holzspeeren bewaffneten Wächter kannten ihn und seinen Vater und winkten ihre bunte Truppe daher wortlos weiter. Di hatte schon einige der kleinen Dörfer rings um seine Heimatstadt Klupingen besucht, doch keiner dieser Orte war auch nur im Ansatz mit Huttes Siedlung zu vergleichen. Die Behausungen der Buranier bestanden größtenteils aus Titanfaustholz, dicken Ästen und Schilf, zusammengehalten von starken Baumfasern oder dem Harz der Bäume. Viele von ihnen besaßen nicht einmal ein Dach, sondern waren nach oben offen. Regen oder starke Winde gab es hier schließlich nicht, weshalb vier Wände, und somit der Schutz vor ungewollten Blicken, ausreichten. Gebäude aus Stein oder gar befestigte Plätze suchte man vergebens. Alles ruhte auf dem nackten, braunen und platt getretenen Erdboden. Zwischen den Hütten wuchsen wilde Sträucher und andere Pflanzen. Viele der Unterkünfte wurden regelrecht von Rankenpflanzen verschlungen. Etliche Bewohner teilten sich dadurch ihren persönlichen Platz mit dem Grün um sie herum. Sie lebten im Einklang mit den Pflanzen.
Laut schnaubend zogen ihre Esel die Karren durch den weichen, schlammigen Boden voran, während speziell das Spitzkinn, Elisus Hofken, sich nicht an der Siedlung satt sehen konnte. So war es Di bei seinem ersten Mal ebenfalls ergangen, weshalb er das Staunen des Mannes nachvollziehen konnte.
Aber auch er erfreute sich an den für ihn bekannten Dingen.
Zu seiner Rechten erhaschte er einen Blick auf den kleinen Pferch, in dem sich ein alter, ergrauter Mann, etwa zwanzig Hühner samt Hahn hielt. Ein Resultat eines Tauschgeschäfts mit einem der wenigen anderen Händler aus Venua. Auch nach all der Zeit, die seit ihrem letzten Besuch verstrichen war, standen noch immer kleine Kinder um die, für sie, außergewöhnlichen Tiere herum, erschreckten die armen Dinger und kringelten sich anschließend vor Lachen, wenn die Hühner wie wild zu gackern und flattern begannen und ihr Hahn sich daraufhin voller Inbrunst die Seele aus dem Leib krähte. Zumindest ging das Spiel immer so lange, bis sie von dem Besitzer der Tiere verjagt wurden.
Vor einer anderen Hütte war ein langes grünes Seil zwischen zwei hölzernen Pfosten gespannt, an dem etliche Wühlerfelle aufgehängt waren. Wühler, kleine, hamsterartige Tierchen, die unter der Erde lebten, dienten den Buraniern zum einen als Nahrung und deren Felle zum anderen als Einlagen für ihre Holzschuhe oder als Teile ihrer Kleidung. Ihre hölzernen Treter verwendeten die Bewohner aber fast nur, wenn sie das Dorf, beispielsweise zum Jagen, verließen und sich somit in unebenes Gelände, wie etwa die ewigen Bergen, begaben.
Die Menschen kleideten sich generell allesamt sehr spärlich, was Di angesichts des heiß-feuchten, wie steten, Wetters nicht weiter verwunderte. Sie bedeckten ihre Scham mit Lendenschürzen aus Wühlerfell oder Blättern von großen, gummiartigen Pflanzen, die in Wassernähe wuchsen. Während die Männer ihre Oberkörper zur Schau stellten, verdeckten die meisten Frauen noch ihre Brüste mit besagten Stoffen. Doch eben nur die Meisten. Als eine junge, gertenschlanke Frau mit keckem, kurzem Haar an ihnen vorbeizog und Di ihre pfirsichgroßen, blanken Brüste, die mit jedem Schritt den sie tat sanft auf und ab wippten, sah, konnte er beinahe seine Augen nicht mehr von ihr abwenden. Als er anschließend bemerkte, dass Gekk ihn beobachtet hatte und ihm grinsend ein Augenzwinkern zuwarf, spürte er, wie er errötete und richtete seinen Blick verschämt nach unten.
Viele der jüngeren Kinder waren in Jubelgesänge ausgebrochen, als sie ihre Wägen erspähten. Sie liebten seinen Vater, den sie den ‚Kal-Händler' nannten und liefen so lange lärmend neben Dontes Karren her, bis Dis Vater schließlich jedem von ihnen eine Karotte zuwarf.
„Kal! Willkommen, willkommen", hörte Di eine vertraute Stimme rufen und blickte wieder auf.
Fitz Grüns Karren kam, unter kurzem Protest der Esel zum Stehen, ehe auch der vordere Wagen Halt machte. Der Kayken marschierte auf sie zu und hatte zur Begrüßung seine Arme weit ausgebreitet.
Ein großer, hagerer Mann mit Hakennase und sehr dünnen Lippen, die fast unsichtbar erschienen. Seine Haut war, wie die der anderen Buranier, beinahe schneeweiß, sein dünnes Haar aschgrau und hinter seinem Kopf zu einem kurzen Zopf zusammengebunden. Ihm folgte ein riesiger Mann, sein wichtigster und treuester Begleiter. Boko, der Schützer von Leib und Leben des Kayken. Ein grimmig dreinblickender, sehniger Kerl mit langem weißem Bart und buschigen, weißen Augenbrauen, einen ganzen Kopf größer als das Oberhaupt. Man nannte ihn den ‚Kaymo'.
Kal Brahmen sprang wortlos von Drabens Karren herunter und schloss seinen alten Freund herzlich in die Arme. Im Gegensatz zu der seines Vaters, sprossen nur wenige graue Härchen auf der glänzenden Brust des weisen Oberhauptes der vier Völker. Di meinte sich daran erinnern zu können, dass beim letzten Mal noch einige schwarze Strähnchen das Haupthaar von Sukis Vater durchzogen hatten. Wenn dem so war, so war er doch mittlerweile gänzlich ergraut. Immerhin war es schon gut ein halbes Jahr her, dass sie ihn das letzte Mal besucht hatten.
„Und das muss wohl unser kleiner Di sein. Lass dich anschauen. Du wirst immer größer, Junge", sagte er zu ihm, wuschelte dabei mit den kräftigen Händen durch seine schwarzen Haare und fügte an: „Suki ist am großen See. Lauf zu ihr. Sie wird sich sicherlich sehr freuen dich wiederzusehen."
Ein ungewolltes Strahlen legte sich über Dis Gesicht und ohne auch nur ein weiteres Wort hervorzubringen, rannte er los um seine Freundin zu suchen.
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