00 - Prolog (3)
Kassos Herz hämmerte wild gegen seine Brust. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er in weiche Blätter gepackt. Kein klarer Gedanke schien mehr darin zustandezukommen. Den kalten Schweiß auf der Stirn kauerte er am Boden, halb in dem Breibeerstrauch verkrochen und hoffte nur, dass die Mörder seiner beiden Freunde ihn nicht gesehen hatten.
Sie trugen schmutzige, gelbe Gewänder, die um ihre Beine schlackerten und gar ihre Köpfe bedeckten. Die Gesichter hinter farbigen Stoffen verborgen, konnte man nur ihre Augen erkennen. Ihre Füße waren schwarz. Es waren dreizehn. Dreizehn Männer, von denen Sieben dünne, krumme Hölzer mit sich führten. Aus länglichen Behältern, die sie auf dem Rücken trugen, ragten die spitzen Dinger hervor, die seine beiden Freunde getötet hatten. An ihren Gürteln baumelten lange Stäbe, aus einem, wie Fischschuppen glänzenden, Holz oder Stein gefertigt, die sich zur Spitze hin etwas verkrümmten, aber dennoch flach und scheinbar gleichmäßig geformt waren. Zwar sprachen die Angreifer miteinander, doch Kasso verstand nicht, was sie sagten. Erst als er für einen kurzen Moment die Luft anhielt um genauer hinhören zu können, nahm er das Gerede fremder Zungen wahr. Aggressive Laute, rau und laut, manchmal grunzend. Einer der Dreizehn zeigte immer wieder auf die regungslosen Körper von Kufa und Ryko. Nach einigem Hin und Her zwischen ihm und den Anderen, trennten sich ihre Wege. Der eine blieb zurück, seine Begleiter marschierten schnellen Schrittes in Richtung der Hängeseilbrücke. Einige lachten. Ein Lachen, welches so fürchterlich klang, dass es Kasso durch Mark and Bein drang. Sie marschierten in sein Dorf. Was sollte er nur tun? Was konnte er nur tun?
„Großer Felsengott, hilf' mir mit dein Stärke, dein Weisheit, dein Großzügigkeit. Schenk' mir Kraft, schenk' mir Mut! Beschütz' meines Leben Ein und Alles!"
Seine Finger zitterten, seine Knie schlackerten, als er sich langsam vom Boden erhob.
„Großer Felsengott, schenk' mir Kraft", wiederholte er murmelnd seine eigenen Worte.
Still und leise schob er sich näher an den zurückgebliebenen Eindringling heran, der mittlerweile neben Kufas Leiche stand und diese, mit äußerster Vorsicht, mit seiner Fußspitze antippte. Anscheinend hatte er Angst, der Riese könnte plötzlich wieder aufwachen und ihn mit bloßen Händen zermalmen. Kasso wünschte sich, dass dies passieren sollte, doch Kufa war tot. Tote standen nicht einfach auf, sie schlossen ihre Augen und ließen alles zurück. Auch ihn, Kasso.
Jedes Mal wenn der Wind durch die Blätterkleider der Bäume rauschte kam Kasso etwas näher heran. Hinter einem Baumstamm hervorlugend, konnte er beobachten, wie sich der Eindringling neben dem toten Riesen nieder in den Dreck kniete und den Stoff von seinem Kopf, sowie das Tuch von Mund und Nase abnahm. Auch wenn ihm nicht wirklich klar war, was er erwartete hatte, überraschte Kasso das völlig normale Gesicht, welches dahinter zum Vorschein kam. Die Haut des Fremden war von der gleichen Farbe, wie auch die seine und die der anderen Felsenmenschen. Einzig durch den struppigen Haarwuchs inmitten seines Gesichts, in der gleichen nachtschwarzen Farbe wie das wirre, ungepflegte Kopfhaar unterschied er sich von den Felsenmenschen. Deren Männer trugen nämlich keine Gesichtsbehaarung. Hinter den nächsten Baum gehuscht, beobachtete Kasso, wie der Fremde mit seiner linken Hand in Kufas Gesicht herumtastete. Er zog den krummen Stab aus seinem Gürtel, der so glänzte, wie die Schuppen der Fische.
Ein eiskalter Schauer durchfuhr ihn, als er erkannte, dass der fremde Mann Kufa die Zähne aus seinem Mund riss. Das konnte nicht sein.
„Sie sterben in Sonne, fürchten sich vor Tal", rief er sich ins Gedächtnis. Das hatte der Vater seines Vaters immer wieder beteuert. Sie schliefen tagsüber unter den Felsen des roten Ödlands. Aber da saß dieses Ungeheuer nun und packte die entfernten Zähne fein säuberlich in das Tuch, das er vorher über Nase und Mund getragen hatte. Opfergaben für seinen dunklen Gott. Der Fremde wischte das Blut, welches an seinem Stab klebte an Kufas Kleidung ab, rappelte sich wieder hoch und stieg mit einem großen Schritt über den Riesen hinweg, um sich Ryko zuzuwenden.
„Großer Felsengott, schenk' mir Mut!"
Er wusste nicht mehr, wo er den großen Stein aufgesammelt hatte, mit dem er dem Dämon der Nacht anschließend den Schädel zertrümmerte, bevor dieser auch nur begreifen konnte, wie ihm geschah.
Als das Grollen in seinem Kopf langsam wieder klaren Gedanken wich, befand er sich bereits auf der Hängeseilbrücke und somit zurück auf dem Weg in das Dorf. Er fühlte sich wie eine leere Hülle, welche, nur noch ein Ziel vor Augen, immer weiter vorwärts taumelte. Sein Ein und Alles. Seine süße Frau und ihr beider größtes Glück.
Je näher er dem Felsplateau kam, desto lauter wurde das dortige Geschrei. Erst jetzt spürte er einen heißen, pochenden Schmerz unterhalb seiner linken Schulter. Aus seiner Achselhöhle tropfte Blut. Womöglich hatte dieser Dämon ihn verletzt, bevor er ihn töten konnte, doch die Erinnerung daran war weg. In der Ferne sah er, wie eine Frau direkt neben der Brücke schreiend in die Tiefe stürzte und wie ihr Körper nach sekundenlangem Fallen auf einem der Felsvorsprünge aufplatzte, wie eine der überreifen Früchte, die Kufa, in einem viele Jahre entfernten Leben, noch von einem der Obstbäume heruntergeschüttelt hatte. Ein weiteres Mädchen versuchte derweil über die Brücke zu flüchten, verfolgt von einer dieser Kreaturen. Sie geriet ins Straucheln und landete kopfüber auf den hölzernen Brettern. Kasso, der ohnehin bereits schwindelte, als sei er von einem Fieber befallen, bemerkte das Schwanken der Brücke kaum. Als der Dämon ihn erblickte, zog er seinen langen Zahnreißer aus dem Gürtel, sprang über das Mädchen hinweg und rannte ihm entgegen. Die Brücke begann so heftig zu schwanken, dass sich Kasso mit einer Hand an dem dicken Halteseil festklammern musste.
„Großer Felsengott", dachte er nur noch, doch hatte er alle seine Wünsche bereits gesprochen.
Über ihm sangen die Vögel ein Lied in Aufregung und Angst. War das dieser ‚Krieg' von dem die Seemenschen sprachen? Im Takt des Pochens in seinem Kopf, stampfte der Dämon auf ihn zu, hatte bereits weit über seinem Kopf zum Hieb ausgeholt.
Jetzt!
Ruckartig zog Kasso Rykos zerbrochenen, dünnen Jagdspeer hervor, den er sich hinten am Gürtel festgemacht hatte und schleuderte ihn mit aller Kraft auf den herannahenden Dämonen, der einen lauten Schmerzensschrei ausstieß und unkontrolliert nach vorne stürzte. Noch im Fallen versuchte dieser sich an Kassos Bein festzuhalten, doch erreichte er ihn nicht mehr und stürzte in die Tiefe, wo er in dem Grün, aus dicht stehenden Bäumen, verschwand und kurz darauf verstummte.
Das Mädchen, das der Dämon kurz zuvor zu Fall gebracht hatte, kroch Kasso zitternd entgegen. Als er näherkam, bemerkte er, dass sie ihn gar nicht weiter beachtete. Ihr Blick war leer, stur nach vorne gerichtet. Keine Hoffnung, keine Trauer, keine Wut in den Augen. Als hätte man sie ihrer Seele beraubt, kroch sie nur wimmernd weiter und hinterließ eine Spur des Blutes, welches von ihren aufgeschürften Händen und Knien stammte. Er würde auch ihr nicht helfen können, wusste Kasso. Es gab nur noch zwei Personen, auf die er seine Hilfe beschränken konnte.
„Kein Gott", stieß er aus, als er das Plateau erreichte. Ein Stich ins Herz. Ein Donnerschlag aus dem Himmel. Der Felsengott hatte sie im Stich gelassen, sich abgewandt in der schwersten Stunde. Mit ihren Stäben und den fliegenden Spitzen wüteten die Kinder des dunklen Gottes der roten Felswüste unter seinen Leuten.
Er sah Kinder, denen man die Köpfe abgeschlagen hatte, Männer und Frauen, welche sich jammernd in ihrem eigenen Blut krümmten. Einer von Rykos Söhnen lag tot in einer Feuerstelle, während die Flammen langsam seine Beine auffraßen. Beinahe wäre Kasso über den Kopf einer Frau gestolpert. Der Körper dazu fehlte. Seine Blicke huschten über die Leichen und er fürchtete sie zu entdecken, doch er fand sie nicht. Die Dämonen hatten die letzten überlebenden Frauen und Kinder auf der anderen Kliffseite, hinter der die rote Felswüste lag, wie Vieh zusammengetrieben. Ihre Schreie vermischten sich mit dem Lachen der Eindringlinge und den Liedern des Todes, welche die Schwärme der Vögel zum Besten gaben, die wie eine dunkle Wolke über ihrer aller Köpfe kreisten.
Wenn sie nicht tot waren, seine süße Frau und ihr beider größtes Glück, dann waren sie unter den Zusammengetriebenen, und wenn sie dort waren, musste er eingreifen.
Es gab keinen Felsengott mehr, der ihm Mut schenken konnte, also klaubte er einen dicken, brennenden Ast aus der Feuerstelle zu seiner Rechten und ging anschließend zu Boden, während die Welt um ihn herum schwarz wurde.
Wenige Augenblicke später drang wieder Licht in seine Augen. Die Schmerzen waren schlimmer als vorher. Erst jetzt sah er eine der Spitzen, welche in seiner linken Seite steckte. Es brannte wie Feuer. Als kleiner Junge hatte er einmal ein glimmendes Scheit angefasst. Er erinnerte sich daran, wie sehr er geschrieen und geweint hatte. Dieser Schmerz hier war jedoch schlimmer, aber heute weinte er nicht. Er benötigte seine Kraft, seinen Mut, um sie zu retten.
„Kein Gott, kein Gott, nur ich, nur ich", murmelte er, während zwei der Dämonen ihn zu ihren Brüdern schleiften.
Nur etwa zehn Schritte vor den Klippen kamen sie zum Stehen.
Sie hielten seine beiden Arme fest und drückten ihn, nun kniend, zu Boden.
Ein Dritter ging vor ihm in die Hocke. Dieser nahm das braune Tuch von Mund und Nase ab und entblößte ein scheußliches Antlitz. Sein Atem, aus dem Maul voller brauner Stummel, stank so fürchterlich, dass Kasso ihn gar aus einer Armlänge Entfernung riechen konnte.
Seine Nasenspitze fehlte, einzig ein schwarzer Fleck war dort zurückgeblieben. Seine Augen leuchteten so gelb wie sein schmutziges Gewand. Das markanteste in seinem Gesicht waren jedoch zwei schwarze Tränen, die ihm rechts und links aus den Augenwinkeln die Wangen hinunterzulaufen drohten. Dass sie dort reglos verharrten, verwunderte.
Der mit den schwarzen Tränen bohrte seinen Finger in die Verletzung an Kassos linker Schulter und entlockte ihm einen Schmerzensschrei.
Ein Kind antwortete mit Gebrüll, welches aus dem verzweifelten Lärm der anderen Überlebenden an all ihre Ohren drang und somit auch die Aufmerksamkeit des Träners auf sich zog.
„Kein Gott, nur ich, nur Kasso", keuchte er voller Schmerz. Er schmeckte Blut, nachdem er sich in die Zunge gebissen hatte.
Seine Kraft entwich ihm aus Arm und Bein und sein Mut begann ebenfalls zu schwinden.
Er hörte den Träner etwas rufen. Es klang, als stünde dieser weit entfernt in der roten Felswüste oder in dem endlosen See. Ein Rauschen im staubigen Wind oder dem salzigen Wassern.
Es wirkte fast ein wenig beruhigend auf ihn. Wenn er losließ, wenn er sich dem Rauschen hingab, würden die Schmerzen ihn verlassen.
„Nur ich, nur ich, bin der Einz'ge!"
Den Schlag mit der flachen Hand gegen seine linke Wange, nahm er wahr, ohne etwas zu spüren. Langsam öffnete er wieder seine Augen und sah, wie sie den weinenden, kleinen Jungen herbeizerrten, das Gesicht nass von Tränen und Rotz, doch schien er keine Kraft mehr zum Weinen zu haben. Erst jetzt erkannte Kasso, dass es sich bei dem Jungen um sein größtes Glück handelte, seinen Sohn. Dieselben hellbraunen Augen, die gleichen schwarzen Haare. Er war schlicht ein jüngeres Bild seiner selbst.
„Nur ich, nur ich, nur Kasso beschütz' meines Leben Ein und Alles."
Ein letztes Mal spürte er eine Kraft in sich, eine lodernde Flamme die in ihm aufflackerte. Hatte der Felsengott sich doch nicht von ihnen abgewandt? Kasso hievte sich auf sein rechtes Knie hoch, versuchte mit aller Kraft, die noch in ihm steckte, seine beiden Bewacher von sich wegzudrücken, doch als sie ihn erneut zu Boden warfen, verstand er, dass er zu schwach war. Sie verdrehten ihm seine Arme und von einem weiteren Schmerzensschrei begleitet, erstarben Kassos Bemühungen jäh.
Wieder ließ der mit den schwarzen Tränen in den Augenwinkeln seine aggressive Stimme ertönen. Er packte Kasso am Kinn und riss seinen Kopf nach oben, damit dieser ihm direkt in die kalten, gelben Augen blicken konnte. Erstmals verstand er etwas, das aus dem Mund der Dämonen kam. Der Träner fuhr herum und marschierte schnellen Schrittes auf seinen Jungen zu.
„Sohn" lautete das Wort, welches an seine Ohren drang. Das letzte, was er sah, war der oberste Dämon der Nacht, der seinen Sohn, mit einem heftigen Tritt in die Magengrube, Richtung Klippen taumeln ließ, die dieser, von einem letzten japsenden Geräusch begleitet, rücklings hinunterstürzte.
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