00 - Prolog (2)
Kufa hatte derweil mit seinen riesigen Händen den Stamm eines jungen Baumes umfasst und mit kraftvollen Bewegungen einige reife Früchte heruntergeschüttelt, die er einsammelte und in einen der beiden noch leeren Bottiche warf. Die meisten anderen Dorfbewohner mussten die Bäume hinaufklettern oder sich mit den wenigen überreifen Früchten zufriedengeben, die sie mit Mühe deren Kronen entlocken konnten.
Die Sträucher und Obstbäume boten ihnen ausreichend und vielfältig Nüsse, Beeren und Früchte, wie etwa die grünen, mehligen ‚Götterbeeren', die so süß schmeckten und die die Kinder am liebsten aßen. Oder etwa die handflächengroßen, roten ‚Felsenherzen', deren Schale so hart war, dass man sie zuerst mit einem Stein aufknacken musste, um an das wässrige Fruchtfleisch zu gelangen. Zu Kassos Lieblingen zählten hingegen die kleinen, etwa daumengroßen, orange-goldenen ‚Sonnenscheinfänger'. Die Meisten nannten sie allerdings nur ‚Lächler'. Das rührte daher, dass die Früchte so sauer waren, dass sie selbst den ernstesten Männern, bei rohem Verzehr, ein Lächeln ins Gesicht zauberten. Für gewöhnlich wurde jedoch nur ihr Saft, mit Wasser verdünnt, getrunken. Das Lächler-Wasser war ein Wundermittel gegen Schwermut und Traurigkeit und wurde am Liebsten dann verzehrt, wenn einer aus ihrer Mitte für immer die Augen schloss und sich somit auf die Reise in die fernen Länder über den Wolken begab, von wo aus ihre Alten manchmal als Sterne auf ihre Welt herabblickten.
Aus den alten Geschichten wusste Kasso, dass die ‚Seemenschen', die auf ihren hölzernen Riesenfischen an Land kamen, einst ganz verrückt nach den Lächlern gewesen waren, was den Felsenmenschen reihenweise gute Tauschgeschäfte eingebracht hatte. So bauten ihnen zum Dank einst blasshäutige Menschen, die dem endlosen See entstammten, die riesige Hängeseilbrücke, die vom Felsplateau hinunter in das Tal führte. Zuvor mussten ihre Alten stets einen gefährlichen, schmalen, in die Felsen gehauenen, Pfad benutzen, der den Unvorsichtigen und Gebrechlichen manchmal zum Verhängnis wurde.
Irgendwann jedoch kehrten die Seemenschen nicht mehr wieder. Einige von ihnen sollen erzählt haben, dass sie gegen andere Seemenschen kämpften und zum Ziel hatten, jene Anderen, die sie zutiefst verachteten, zu töten. Sie benutzten ein seltsames Wort dafür, welches lautete ‚Krieg'.
Jedes Mal, wenn Kasso diese Geschichte hörte, dachte er darüber nach, ob denn die Seemenschen keinen Gott, wie den Felsengott besaßen, der über sie wachte, der sie mit Wertschätzung und Glück belohnte.
Glückliche Menschen konnten unmöglich an ‚Krieg' interessiert sein. Im Streben nach Glück, was eines jeden Ziel sein musste, waren Zorn und Hass doch die denkbar schlechtesten Dinge, die man auf dem Weg dahin säen konnte.
Aber was wusste Kasso schon über andere Menschen und Götter? Er kannte nur Quad, nur den heiligen Berg und das Tal. Er kannte den endlosen See und dessen Sande und er kannte die rote Felswüste, in der die Dämonen der Nacht hausten. Er kannte die Menschen seines Dorfes, fast zweihundert Männer, Frauen und Kinder, doch hatte er nie einen Seemenschen oder einen Königsmenschen kennengelernt.
Nachdem er sieben Vögel erlegt hatte, watete Ryko vorsichtig einige Schritte in das seichte Wasser am Ufer, seinen Speer im Anschlag. Wachsam streiften seine Blicke mehrere Herzschläge hintereinander über die glatte Oberfläche, als wenige Meter entfernt ein Kräuseln einen Fisch ankündigte. Manchmal warf Ryko einige zermalmte Nussstückchen aus, um die schwimmenden Schuppentiere anzulocken, doch heute war ihm nicht nach einem schnellen Fang zumute. Ryko genoss es manchmal geduldig auf seine Beute zu warten, wie ein wildes Tier, wie ein echter Jäger.
Kasso hingegen konnte Tieren nichts zuleide tun. Er konnte sie essen, wenngleich er es nicht gerne tat, doch sie selbst erlegen? Einem anderen Lebewesen das Leben nehmen? Er hatte es nie versucht und war auch nicht erpicht darauf es zu tun. Beeren, Nüsse und Früchte hingegen fühlten nichts, wenn er sie pflückte und das war gut so. Er nahm den Bottich, den er bereits halbvoll mit roten, gelben und violetten Beeren, sowie Nüssen, mit und ohne Schale, befüllt hatte und wandte sich mit halb flüsternder Stimme an Kufa: „Geh' uns 'n paar von Breibeer'n pflücken."
In diesem Moment sauste Rykos Speer durch die Luft, drang in das Wasser ein und verfehlte sein Ziel um eine gute Handbreit. Kufa begann lauthals zu lachen, als er sah wie der Fisch sich mit wilden, schlängelnden Bewegungen in Richtung des tiefen, dunklen Wassers der Seemitte zurückzog. Ryko hatte verärgert die Lippen zusammengepresst und kehrte knietief in das Wasser zurück, um seinen Speer zurückzuholen.
„König von Jäger erlegt nur Luft und Wasser. Kleine Myja hätt' es nich' besser machen können", witzelte Kufa.
„Kufa sein Tochter wär' damit viel besser als ihr Vater Fischfreund", blaffte Ryko zurück, der immer leicht gereizt reagierte, wenn man ihn verspottete.
Und wieder einmal entbrannte die, bereits unzählige Male geführte, Diskussion um die Frage, ob es richtig sei, Fische und Vögel zu verspeisen. Mittlerweile konnte Kasso es sich nicht mehr anhören, weshalb er sich freute, bereits einige Schritte außer Hörweite, zu den Sträuchern mit den Breibeeren geschlendert zu sein, um diese in aller Ruhe pflücken zu können. Aus besagten Beeren, sowie anderen Zutaten, konnte man einen schmackhaften Brei zubereiten. Seine süße Frau beherrschte diese Kunst, wie niemand sonst im Dorf und sein Sohn, ihr beider größtes Glück, und er selbst, konnten nahezu nie genug davon bekommen.
Entfernte Stimmen kündigten weitere Bewohner ihres Dorfes an. Zwei junge Burschen, die Söhne des Ziegenflüsterer, gesellten sich zu ihnen, grüßten sie herzlich und begannen, etwas abseits der, immer noch streitenden, Kufa und Ryko, ihre Wasserbehälter aufzufüllen.
Weit oben über seinem Kopf, so bemerkte Kasso, kamen auch weitere der Federträger, laut kreischend, angeflogen und nahmen derweil in den hohen Baumkronen Platz. Sie beobachteten die Felsenmenschen unter ihnen auch weiterhin kritisch und konnten es allem Anschein nach kaum erwarten, dass diese ihnen endlich wieder den See und das Tal überließen.
„Wird noch dauern", flüsterte Kasso leise vor sich hin und begann die Beeren in seinen, erst zur Hälfte gefüllten, Bottich zu werfen.
Immer mehr ihrer gefiederten Freunde und deren Vettern fanden sich derweil ebenso auf den unzähligen langen Fingern der riesigen, grünen Obstbäume ein. Weiße und Schwarze, Vögel so blau wie der Himmel über ihnen, andere so grün wie die Farne, die rund um den See wuchsen. Wiederum andere trugen Federn am Leib, die in allen Farben leuchteten. Ihr Flügelschlagen und Rufen erfüllte die Luft und ließ sogar die beiden Streithähne Kufa und Ryko verstummen. Die beiden Jungen des Ziegenflüsterers hatten ebenfalls innegehalten und ihre Blicke fasziniert in die Lüfte gewandt, sich neugierig umblickend. Noch nie zuvor hatte Kasso eine solche Versammlung von derart vielen Luftbewohnern beobachtet und bis eben wusste er auch nicht, dass sie in der Lage waren einen solchen Lärm mit ihren Liedern zu veranstalten. Man hätte glatt annehmen können, dass sich sämtliche Bewohner der Lüfte Quads zur gleichen Zeit im Tal des Felsengottes versammeln wollten. Das Gedränge auf den Ästen war dementsprechend groß. Vereinzelt bogen sich die etwas Schmächtigeren unter ihnen, durch das auf ihnen lastende Gewicht, gefährlich Richtung Boden und drohten damit, jeden Augenblick abzubrechen. Einige Blätter tanzten lustig, ob des aufgebrachten Geflatters, durch die Lüfte und rieselten zu Füßen der schweigenden Felsenmenschen, die nicht so recht verstanden, mit welchem Vorhaben sich die Tierchen hier und jetzt zusammenfanden. Hörte man genau hin, so wirkten sie aufgeregt. Doch falls dies stimmte, stellte sich die Frage, was genau sie nur so aufregte?
Und kaum hatte sich Kasso leise diese Frage gestellt, da verstummte, auf einen Schlag, das ganze Tal. Nicht einmal das Blätterrauschen im Wind war mehr zu vernehmen. Tausende Augen starrten die Fünf nun schweigend aus den Bäumen an. Ein leichter Schauer lief Kasso über den Rücken. Erst jetzt bemerkte er, dass er seinen Bottich versehentlich umgestoßen und der Inhalt sich über den weichen Erdboden verteilt hatte. Kufa wandte seine Augen von den Baumkronen ab, suchte kurz nach seinem Freund Kasso und warf diesem, begleitet von einer schulterzuckenden Geste, einen fragenden Blick zu. Niemand wagte auch nur ein Wort zu sprechen, bis die bedrückende Stille durch ein sehr kurzes, röchelndes Geräusch durchbrochen wurde.
Ryko fiel auf die Knie und lenkte damit alle Aufmerksamkeit auf sich. Überrascht fuhr der Riese herum, wandte sich seinem dürren Freund zu.
Was war passiert? Selbst aus der Ferne konnte Kasso erkennen, wie das Schafswollwams, welches Ryko, nach seiner kleinen Runde unter Wasser, wieder angelegt hatte, sich langsam rot verfärbte. Das Gesicht zu einer ungläubigen Fratze entstellt, tastete er nach etwas langem, Spitzem, das aus seinem Hals ragte. Noch ehe Kufa ihm zur Seite eilen konnte, kippte der Jäger vornüber und vergrub sein Gesicht in dem schlammigen Uferboden.
Plötzlich brach ein lärmender Sturm über den Felsenmenschen los, als die Vögel über ihnen aufgeregt mit ihren Flügeln zu schlagen begannen und sich laut kreischend in die Lüfte erhoben, als hätten auch sie erst jetzt realisiert, was geschehen war. Die beiden Ziegenburschen taten es den Vögeln gleich. Sie ließen ihre Wasserbehälter fallen und ergriffen aufgeregt die Flucht zurück in Richtung der Hängeseilbrücke, die sie wieder in das Dorf führen sollte. Kufa hingegen stieß einen lauten, markerschütternden Schrei aus. Entsetzt wiegte er den Körper seines toten Freundes in seinen Armen. Gerade als Kasso sich aus seiner Schockstarre lösen konnte und ebenfalls zu seinem Freund eilen wollte, war es Kufa, der von einem weiteren spitzen Ding getroffen wurde, welches seinen linken Oberarm durchbohrte. Kasso verlor vor Schreck das Gleichgewicht und landete rücklings in dem Breibeerstrauch hinter ihm.
Kufas schmerzerfülltes Stöhnes, während er die Spitze aus seinem Arm zu ziehen versuchte, vermischte sich mit lautem Geschrei, welches sich rasch aus der Ferne näherte. Menschliches Geschrei. Als er sich wieder auf seinen Hintern hochgehievt hatte, konnte Kasso sie sehen. Ein Dutzend verhüllter Gestalten, die, aus dem Unterholz kommend, direkt auf Kufa zustürmten. Der Riese hatte sich mittlerweile, unter Schmerzen, wieder auf die Beine gezwungen und seine massive Schultertrage zur Hand genommen, um den unbekannten Eindringlingen, mit ausgebreiteten Armen, zu signalisieren, dass er sich ihnen zum Kampf stellen würde. Ein ungleicher Kampf, wie sich herausstellen sollte. Nur wenige Augenblicke später drangen etliche weitere Spitzen in dessen Bauch und Brust. Eine weitere durchbohrte seinen rechten Oberschenkel.
Gefolgt von einem dumpfen, lauten Aufprall, kippte der Riese rückwärts zu Boden und lag schließlich regungslos, alle Viere von sich gestreckt, neben seinem Freund Ryko, der den Boden unter sich ebenso rot eingefärbt hatte, wie sein Wams.
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