Kapitel 40- Die Ruhe vor dem Sturm

Coral schaute mich irritiert an. Wäre ich ein Hund gewesen, hätte ich spätestens jetzt meinen Schwanz eingezogen. Zum Glück war ich kein Hund, dennoch sah ich auch nicht gerade begeistert aus, als ich sie im Türrahmen erblickte. Wir lieferten uns ein spannendes Anstarrduell, wobei ich am Ende knapp verlor. Wie konnte ich ihr überhaupt noch in die Augen sehen, nach all dem was ich ihr vorenthalten hatte? Langsam bewegte sie sich auf mich zu, allerdings registrierte ich ihren neuen Standpunkt erst, als sie genau vor mir stand.
"Mads? Ich glaub das einfach nicht. Du hast Erde gebändigt und das kann doch nur bedeuten..." Sie brach ab und starrte mich fassungslos an. Mein Geheimnis war keins mehr, zumindest nicht für Coral. Wie hatte ich mir auch denken können, dass ich unbemerkt trainieren konnte? Ich setzte eine unschuldige Miene auf, aber eigentlich wäre es dumm diese Beobachtung abzustreiten. Sie hatte es genau gesehen und egal welche Ausrede ich mir zurechtlegte, sie würde sie herrausfinden. Ich stieß einen langen Seufzer aus und wartete darauf, dass sie etwas sagte. "Mads, DU bist... der Avatar?", fragte Coral nach einer Weile ungläubig. Am liebsten hätte ich nicht genickt, damit ich sie in dem Glauben lassen konnte, sie nicht angelogen zu haben. Gelogen hatte ich ja auch nicht, ich hatte lediglich etwas verheimlicht. Nur war es leider genauso schlimm. Also nickte ich doch und kehrte ihr den Rücken zu, sodass ich mein Spiegelbild in der Fensterscheibe sah. Nach diesem Vorfall war mir noch gar nicht aufgefallen, dass sich über die Scheibe Regengüsse ergossen. Die Tropfen klatschten gegen die Fensterscheiben, dunkle Wolken verdeckten nun den Himmel. Meine Großmutter hatte vor ihrem Tod oft gemeint, dass auch der Himmel einen Grund zum Weinen hatte und ich war fest überzeugt, dass er wegen mir weinte. In der Fensterscheibe gab sich auch Szu zu erkennen. Sie legte mir ihre weiche Hand auf die Schulter, doch als ich mich umdrehte war sie nicht da. Stattdessen kam nun Coral etwas näher an mich heran und legte mir ihre Hand auf die Schulter. Irgendwann beschloss ich, auf ihre Aussage zu reagieren.
"Ja, ich bin der nächste Avatar", erwiderte ich tonlos und drehte mich zu ihr um. Ihre Augen blickten mir sanft und aufmerksam entgegen. Sie sah gar nicht böse oder verärgert aus, eher verständnisvoll.
"Warum hast du es uns nicht einfach gesagt?", wollte sie wissen. Jetzt erkannte ich auch, wie verletzt sie wirklich war. Ich hätte es ihnen doch sagen müssen. Welche Gründe hatte ich gehabt, es ihnen zu verschweigen? Ich zögerte zuerst. Coral schien darüber sehr enttäuscht zu sein.
"Ich wollte euch einfach nicht in die ganze Sache mit rein ziehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihr in Gefahr gerieten wärt, wäre zu groß gewesen. Ich wollte einfach nicht, dass euch irgendetwas zustößt und ich wollte euch als Freunde haben, die mich so nehmen wie ich bin und mich nicht mögen, weil ich rein zufällig der Avatar bin", antwortete ich, ohne groß darüber nachgedacht zu haben. Dabei drückte es ziemlich genau das aus, warum ich ihnen die Wahrheit verschwiegen hatte. Auf Corals Gesicht zeichnete sich ein zaghaftes Lächeln ab.
"Du weißt ja gar nicht, wie sehr mich das gerade rührt. Soetwas hat noch nie zuvor jemand zu mir gesagt. Wie auch? Bei meinem Glück hat mir meine Familie nicht einmal die Schulbücher gekauft, die habe ich nämlich selber bezahlt. Und auch in der Vorschule hatte ich nie eine Freundin, die es wirklich ernst mit mir gemeint hat, aber das ist eine andere Geschichte. Ich verstehe sowieso nicht, wie ich dich verdient habe, warum ich überhaupt zu deinem Freundeskreis gehöre, wobei ich doch manchmal so launisch sein kann." Sie schmunzelte und auch ichmusste plötzlich wieder Lächeln.
"Einsicht ist der erste Weg zur Besserung", meinte ich und grinste. Auch sie grinste mich an, bevor sie weiterredete.
"Ganz ehrlich, ich hatte noch nie so gute Freundinnen wie jetzt. Nur, wie konntest du denken, dass wir mit dir befreundet sein würden, aus dem Grund, dass du der Vatar bist? Ist doch vollkommen egal, ob du was Besonderes bist, wir werden Freundinnen bleiben, weil wir einander vertrauen können", erklärte sie. Und dann umarmten wir uns lange, wobei ich mich in Corals Nähe so geboregen fühlte, als wäre sie meine Schwester. Ich hatte mir sowieso schon immer eine Schwester gewünscht. Irgendwann lösten wir uns wieder.
"Echt cool, dass du Erde bändigen kannst. Wie hast du das überhaupt geschafft? Kannst du das nochmal zeigen?", fragte sie mit glänzenden Augen.
"Ich habe es mit ein klein wenig Unterstüzung geschafft", gab ich nun zu und lächelte geheimnisvoll. Ich ging zu den Schalen, verbreitete Erde unter meinen Füßen und kontentrierte mich auf die Konsistenz unter meinen Füßen. Mein Atem ging gleichmäßig und ich schloss die Augen. Keine Minute später regte sich etwas vor meinen Händen. Ich bewegte meine Hand nach Westen und ließ die Energie durch mich hindurchströmen. Zuletzt schoss sie durch meine Fingerspitzen und ich öffnete die Augen. Vor mir schwebte eine dünne Säule aus Erde, die man leicht mit der Hand hätte umfassen können. Coral war begeistert, als ich über meine Schulter blickte und nicht nur sie. Hinter ihr schwebte Szu. Ich ließ die Säule zu Boden fallen und lächelte den beiden zu.
"Coral? Darf ich vorstellen, das ist Szu", stellte ich sie vor und deutete an Coral vorbei. Diese drehte sich verwirrt um und schaute hinter sich. Etwas erschrocken wich sie zurück, bevor sie sich wieder fing.
"Szu, der vorherige Avatar?" Wie erstarrt blieb ihr Blick an Szu hängen. Sie schlug sich die Hand vor den Mund. "Sie haben Madline trainiert. Und, oh. Mein. Gott! Sie stehen gerade leibhaftig vor mir. Ich wollte Sie immer schon kennenlernen", quiekte sie drauflos. Szu wirkte kurz etwas überrascht.
"Nun ja, das mit dem leibhaftig vor dir stehen stimmt nicht so ganz. Ich kann nicht stehen, sonst würde ich durch den Boden fallen. Und dies hier ist nur meine Gestalt als Geist. Ich bin momentan nur in der realen Welt, um den Avatar zu trainieren. Meine Aufgabe jedoch ist jetzt erfüllt und das heißt, dass ich euch jetzt leider verlassen muss", erzählte sie und senkte den Blick.
"Was?" Wie auf Kommando griffen Coral und ich nach Szus Händen, doch wir glitten durch sie hindurch. Coral betrachtete verdutzt ihre Hände.
"Ach ja, Sie sind ja ein Geist", begriff sie und wurde leicht rot. Szus Gestalt begann schon zu flackern. Ich wollte nicht, dass Sie ging, jedenfalls noch nicht jetzt. Aber es gab keine Chance sie zurückzuhalten.
"Bitte geh noch nicht. Du hast mir noch gar nicht alles beigebracht", erinnerte ich sie. Szu schüttelte den Kopf.
"Es tut mir wirklich leid, aber meine Kraft ist aufgebraucht. Ich muss mich nun ausruhen." Ich hörte die Schwäche aus ihrer Stimme heraus und trotzdem wollte ich es nicht wahr haben. Nein, das durfte nicht sein. Ich würde ohne sie doch niemals das Element Luft erlernen. Ihre Hände lösten sich auf, ihre Stimme drang weit entfernt zu mir durch. Das Letzte was sie sagte war: "Wir werden uns bald wiedersehen."
Und mit diesen Worten war sie verschwunden. Meine Hand glitt ins Nichts.

Ein paar Tage später, am Sonntag, waren die Ferien zu Ende und die ganzen Schüler kehrten von ihren erholsamen Ferien zurück. Coral war für mich nun viel mehr als nur eine Freundin. Wir hatten sehr viel in den letzten Tagen miteinander unternommen. Hauptsächlich übten wir im Übungsraum unsere Elemente an den Stoffpuppen. Mit der Erde kam ich nicht groß weiter. Irgendetwas blockierte meiner Verbindung zur Erde. Das Wasser beherrschte ich schon im Schlaf und beim Feuer bändigte ich oft unkontrolliert, also niemals das was ich wollte. Coral half mir ein wenig und ermutigte mich sehr. Als Cat am Sontag die Tür zu unserem Zimmer aufschlug, wirkte sie jedoch nicht gerade erholt und ihre Laune verschlechterte sich noch mehr, als ihr auffiel, dass ihr geliebter Wandspiegel nicht an seinem gewohnten Platz hing. Langsam wandte sie sich uns zu.
"Wo ist mein Wandspiegel?", fragte sie statt einer Begrüßung. "Ihr wisst genau, dass ich ihn von meiner verstorbenen Großmutter bekommen habe", fuhr Cat uns an. Irgendetwas war passiert, was mit ihren Eltern zu tun hatte und was für ihre miese Laune verantwortlich war. Coral redete nicht lange um den heißen Brei herum.
"Ähm naja... es gab da einen kleinen Unfall. Er ist... kaputt", berichtete Coral. Bei den letzten Worten brach ihr die Stimme weg. Ich war ihr jedoch sehr dankbar, dass sie das Reden übernahm, obwohl ich ja für diesen Unfall verantwortlich war. Um Coral ein wenig aus der Situation zu retten, beschloss ich Cat genauere Informationen zu geben.
"Es tut mir so leid, Cat. Ich habe den Spiegel bei einem kleinen Wutanfall zertrümmert. Ich wusste genau, wie viel er dir bedeutet hat. Ich würde wirklich alles tun, um ihn zu reparieren, aber ich weiß nicht wie", sagte ich und ließ schuldbewusst den Kopf hängen. Cats Reaktion konnte ich absoulut nachvollziehen. Coral hielt ihr eine Schachtel mit den Scherben hin, Cat nahm sie fassungslos entgegen und öffnete den Deckel. Danach stellte sie das Kästchen auf ihrem Nachtschrank ab und sah enttäuscht zu Boden. Zuerst schwieg sie, dann ging das Donnerwetter los.
"Den kann man nicht reparieren, Madline. Er war von meiner verstorbenen Großmutter!", wiederholte sie und schlug sich die Hände vor das Gesicht. "Wie konntest du nur? Und warum sind die Scherben überhaupt schwarz? Sieht ja aus, als hättest du die einzelnen Teile auf den Scheiterhaufen geworfen. Was soll das? Ich weiß nicht, wie ich dir das jemals verzeihen kann!"
Ich warf einen vielsagenden Blick zu Coral, diese biss sich auf die Unterlippe. Cats Schmerz war unertragbar. Ich hatte wieder dieses Gefühl, innerlich zerrissen zu sein und das hielt noch den ganzen Tag an. Selbst Kiki und Alice bemerkten später, dass das Verhältnis zwischen mir und Cat bröckelte. Wir sprachen nicht miteinander, sie sah mich auch nicht mehr an, denoch wusste sie, dass mein Blick immer auf ihr lag. Ich konnte mir vorstellen, wie unangenehm das für sie sein musste und aus diesem Grund ließ ich sie in Ruhe.

Am Montag fing die Schule wieder an. Es waren genau neun Tage her, seitdem ich zum ersten Mal mit Szu geübt hatte und nach dem Streit mit Cat breitete sich nun ein unbehagliches Schuldgefühl in mir aus. Ich wusste noch nicht, dass es an diesem Tag noch größer werden würde. Die ersten vier Schulstunden überstand ich gut, schließlich war Coral dort noch bei mir. Nach der Mittagspause jedoch war ich mit Kiki allein. Sonst passte ich immer hervorragend im Lateinunterricht auf, nur dieses Mal nahm ich mir diese Zeit zum Nachdenken. Ich konnte gut verstehen, warum sich Cat so über mich aufregte. Wahrscheinlich wäre ich das in solch einer Situation auch. Ich war eine miese Freundin. Ich hatte nicht nur ihren liebsten Spiegel zerstört, sondern auch verheimlicht, dasss ich der Avatar war. Soetwas sagten sich beste Freundinnen doch immer. Die waren doch dazu da, um sich gegenseitig Geheimnisse zu erzählen. Aber vielleicht war ich auch nur so eine miese Freundin, weil ich noch keine Erfahrungen vorher gemacht hatte. Und das wiederrum lag daran, dass ich als Freundin einfach nicht geeignet war. Ich versank vollkommen in meinen Gedanken und suchte nach Antworten auf meine Probleme. Die ganze Stunde über war ich nur damit beschäftigt. Bis mich ein lauter Knall wieder zurück in die Wirklichkeit holte. Ich schreckte auf und sah mich um. Jeder im Raum schaute sich verdutzt an und auch der Lehrer konnte sich nicht zusammenreimen, woher der laute Knall kam.
"Bitte beruhigt euch alle. Bestimmt ist irgendwo etwas schief gegangen. Fahren wir fort!", lenkte er uns ab, aber in seiner Stimme hörte man einen Hauch von Unsicherheit herraus. Erst als es ein zweites Mal knallte, wussten alle, dass es ernst war. Kiki, die neben mir saß, schaute mich mit angsterfüllten Augen an.
"Bitte beruhigt euch alle! Ihr müsst nicht in Panik geraten. Bitte begebt euch jetzt alle auf dem schnellsten Wege in den Schutzkeller unter der Schule. Geht am Ende des Ganges die Treppe runter und wartet dort!", befahl der Lateinlehrer und die Schüler sprangen entsetzt auf und taten wie geheißen. Während wir uns durch die Tür quetschten, herrschte auf dem Gang schon großer Trubel. Die Schüler drängten sich auf das Ende des Ganges zu, die Oberstufenschüler bewegten sich auf den Hauptausgang zu. Kiki und ich reihten uns in der Menge ein, doch ich hatte nicht vor in den Schutzkeller zu gehen. Ich schlängelte mich durch die Menge hindurch auf den Hauptausgang zu. Irgendwo hinter mir, glaubte ich Corals Rufen gehört zu haben.
"Was hast du denn vor? Lass uns erstmal auf die anderen warten!", schlug Kiki vor, die mir durch die Schülermenge folgte.
"Kiki, geh lieber in den Schutzkeller. Ich muss da raus!", entschied ich und bildete nun hinter den Oberstufenschülern das Schlusslicht. Coral und Cat gesellten sich noch zu uns.
"Ohne uns, machst du gar nichts", berichtigte mich Kiki. Und Cat und Coral nickten bekräftigend. Sie wussten gar nicht, worauf sie sich da einließen. Die Jungs aus Christians Zimmer drängten sich zusätzlich durch die Menge auf uns zu.
"Hat hier jemand Hilfe gesagt?", fragte Drew grinsend.
"Eigentlich nicht", sagte ich trocken und hielt die große Tür auf, damit alle hindurchgehen konnten. Am liebsten hätte ich meine Freunde aufgehalten, doch ich wusste ganz genau, dass es nichts brachte. Dann war es jetzt also so weit. Der Krieg hatte begonnen!


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top