Kapitel 37- Zerbrochen

Am nächsten Tag konnte ich das Training gar nicht erwarten, denn letzte Nacht schweiften meine Gedanken immer zu ein und der selben Frage: Welches Element würde Szu mir als nächstes beibringen? Lange hatte ich mich im Bett rumgewälzt bis die Müdigkeit über mich hergefallen war. An diesem Morgen sprang ich schon aus dem Bett vor Freude. Cat seufzte von ihrem Bett aus. Verwundert drehte ich mich zu ihr um. Obwohl ihre Augen noch geschlossen wirkten, wusste sie, dass ich sie beobachtete.
"Erzähl mir bloß nicht, dass du nach der Absage deiner Eltern glücklich bist. Oder bist du etwa froh mich los zu sein?" Ich brauchte einen Moment bis ich kapierte, was sie sagte. Heute würde Cat abreisen, um die Ferien bei ihren Eltern zu verbringen und nicht nur Cat... Ich führte mich hier auf, wie ein hüpfendes Kaninchen, das eine Extraportion Salatblätter bekommen hatte, während Cat die nächste Woche weg sein würde. Sie hatte recht. An diesem Tag war es nicht sehr angemessen meine Freude zu zeigen, vorallem weil jeder hier mit seinen Eltern und einigen Schwierigkeiten beim Thema Familie zu kämpfen hatte, bis auf Kiki natürlich, die auch ohne ihre Mutter wunschlos glücklich war. Sofort beruhigte ich mich wieder und räusperte mich. Mir war soeben etwas aufgefallen. Ich verbrachte den Tag ja bei Szu, weil ich mir die Chance, die anderen Elemente zu trainieren nicht entgehen lassen wollte, aber wie würde ich dann Zeit finden, mich von Cat zu verabschieden? Ich biss mir auf die Unterlippe und senkte den Blick. Als Cats Freundin musste ich dabei sein, um sie zu verabschieden, doch ich musste auch meinen Plichten als Avatar nachgehen. Das war der Nachteil, wenn man die Auserwählte war.
"Ähmm Cat, ich habe heute einiges zu tun", fing ich an und blickte schuldbewusst zur Geheimtür in der Wand. "Ich werde heute den ganzen Tag keine Zeit haben und werde mich deshalb nicht von dir verabscheiden können." Der letzte Teil rutschte mir einfach so schnell raus. Cat setzte sich in ihrem Bett langsam auf und rieb sich die Augen, damit sie mich ansehen konnte. Ihr Gesicht schien ein wenig bleich geworden zu sein, doch sonst wirkte sie nicht traurig oder etwas anderes in der Art, wie ich es erwartet hatte.
"Das ist kein Problem für mich, aber ich habe das Gefühl, dass du mir etwas wichtiges vorenthältst", vermutete sie. Wenn sie wüsste, dass mir gerade das Herz stehen blieb. Freundinnen verschwiegen sich generell nichts. Das Band, das unsere Freundschaft verknüpfte, drohte gerade zu zerreißen. Ich spürte es und ich wusste, dass mein Geheimnis bei Cat sicher war und trotzdem wollte ich es ihr noch nicht sagen.
"Nein, tue ich nicht", log ich glaubhaft. Dafür hätte ich mir am liebsten in den Hintern getreten, doch leider bin ich nicht so beweglich. Cat nickte nur und sank wieder in die Kopfkissen.
"Was auch immer es ist, wenn du es für dich behalten willst, möchte ich dich zu nichts zwingen." Mit diesen Worten blieb sie ihm Bett liegen und auch die anderen Mädchen hatten nicht wirklich Lust aufzustehen. Aus diesem Grund ging ich auch allein frühstücken.

Nach dem Frühstück ging ich durch den Geheimgang zum Übungsraum. Szu schwebte wieder neben dem Kasten und betätigte die letzten Schalter. Ich setzte mich derweil auf die ausgelegten Matten und grüßte sie. Sie begrüßte mich nicht wirklich zurück. Ich vernahm nur ein leises "Hmmm", dann widmete sich meine Vorgängerin weiter den Vorbereitungen. Ich sah mich im Raum um. An den Fenstern waren viele Kerzen in einer Reihe aufgestellt. Wahrscheinlich würden wir heute das Feuer trainieren. Szu gesellte sich schließlich zu mir und zwinkerte mir sanft zu.
"Wie du sicher schon bemerkt hast, widmen wir uns heute dem Feuerbändigen. Wie du ja weißt, ist das Feuer das komplette Gegenteil des Wassers, weshalb es für dich sehr schwierig sein wird, es unter Kontrolle zu bekommen. Wie gestern fangen wir zuerst mit dem Wissensbereich an. Die Feuerbändiger sind am Tag gestärkt und in der Nacht geschwächt, aus dem Grund, dass in der Nacht der Mond scheint, aus dem die Wasserbändiger ihre Energie ziehen. Feuerbändiger jedoch, ziehen ihre Energie aus der Sonne. Bei einer Sonnenfinsternis haben Feuerbändiger einen starken Kräfteverlust, der noch bis zur Nacht anhalten kann. Dafür bekommen sie zusätzliche Kraft, wenn sich ein Meteorit der Erde nähert. Um richtig Feuer bändigen zu können, muss man die richtige Atmung anwenden. Sonst kann es ganz leicht passieren, dass du mit deinem Element Schäden anrichtest. Was ganz wichtig ist, das Element Feuer kann nicht unter Wasser eingesetzt werden und bei Regen wird die Energie des Feuers geschwächt. Der erste Feuerbändiger war übrigens der Drache. Es gibt auch andere Bändigerarten für das Feuer, zum Beispiel das Blitzebändigen, sehr wirkungsvoll, wenn dein Gegner gerade im Wasser steht. Natürlich kann man auch die Temperatur bestimmen und es an Orten sehr heiß werden lassen. Und schließlich gibt es noch die ganz speziellen Feuerbändiger, die die Macht besitzen Lava zu bändigen", erklärte sie mir. Aufmerksam lauschte ich ihrer Erzählung. Als sie vom Lavabändigen erzählte, musste ich automatisch an Drew denken. Der Kerl war inzwischen aus dem Krankenflügel raus und sollte sich noch ein Weilchen mit den Krücken herumschlagen bis es seinem Beim wieder besser ging. Das hörte Coral natürlich nur zu gern. Allerdings versuchte sie, sich die Freude nicht anmerken zu lassen, ohne Erfolg. Szu brachte mir noch viele andere Dinge bei, die wir danach trainierten. Sie hatte recht behalten, was die Sache von vorhin anging, denn das Feuerbändigen als Wasserbändigerin fiel mir nicht gerade leicht. Die Geschichte mit der Atmung hörte sich echt leichter an, als sie in Wirklichkeit war. Irgendwann hatte ich den Dreh dann raus und ließ eine richtige Flamme in meiner Hand erscheinen. Ich konnte es nicht fassen, es war immerhin das erste Mal, dass ich kontrolliert ein anderes Element als mein Urelement Wasser einsetzte. Dies war sozusagen der "handfeste" Beweis, dass ich der Avatar war. Schritt für Schritt tastete ich mich voran und wurde immer besser. Am Nachmittag beendete Szu das Training und ich ging erschöpft, aber auch stolz ins Zimmer zurück. Coral war nicht da und die anderen Mädchen, die die Ferien bei ihren Eltern verbrachten, mussten schon gegangen sein, weswegen ich es mir auf meinem Bett bequem machte und in meinem neuen Buch las. Die Wasserflasche stand in dieser Zeit nicht einmal still. Ich las und las bis irgendwann die Tür geöffnet wurde und Liz im Türrahmen erschien. Ich sah von meinem Buch auf und hielt inne.
"Hey Madline, es ist ein Brief für dich angekommen, den ich dir gleich vorbeibringen wollte", agitierte sie und kam zu mir ans Bett. Mein Blick fiel auf den Briefumschlag. Sie überreichte ihn mir lächelnd und war kurz darauf wieder aus dem Zimmer verschwunden. Ich betastete den Briefumschlag. Er fühlte sich leicht rau unter meinen Fingern an, fast so wie ein Schleifpapier. Der Umschlag musste schon einige Jahre in einem Fach im Arbeitszimmer gelegen haben. Vorsichtig öffnete ich den Umschlag und zog ein Briefpapier heruas. Dabei fiel zugleich noch ein Foto heraus. Ich nahm es und begutachtete die Fotografie. Dad hatte einen Arm auf Mums Schultern gelegt und beide lächelten mir fröhlich zu. Die zwei saßen gemeinsam auf dem roten Sofa im Wohnzimmer. Bei genauerem Hinsehen fiel mir Mums blasses Gesicht auf, doch sonst wirkte alles normal. Also hatten sich Mum und Dad nicht gestritten, so zumindest sah es für mich nun aus. Was gäbe ich nur dafür her jetzt bei ihnen zu sein? Ich schnappte mir das Briefpapier und klappte es auf.

Liebe Madline,
Hier ist nun also der geforderte Beweis, dass es uns auch gut geht. In letzter Zeit hast du dich sehr besorgt am Telefon angehört, da wollten wir Dir beweisen, dass alles in bester Ordnung ist. Dein Vater und ich, wir müssen in der nächsten Zeit oft sehr lange arbeiten und werden deswegen auch nicht viel Zeit für dich haben. Wir versprechen Dir, dass Du uns sobald wie möglich besuchen kannst. In den Sommerferien werden wir es ganz sicher nicht ohne Dich aushalten. Wir sind bereits dabei den perfekten Familienurlaub zu planen. Hast Du Dich eingelebt? Gefällt es Dir auf dem Internat? Bitte lass uns wissen, wenn du etwas brauchst. Wir lieben Dich.
Liebe Grüße senden Dir Papa und Mama

Ein Lächeln huschte über meine Lippen, auch wenn der Brief nicht wirklich lang war. Die Sache mit dem Familienurlaub hörte sich super an und ich freute mich riesig auf die Sommerferien, die ich hoffentlich noch erleben würde. Falls ich von einem finsteren Schattenherren besiegt werden würde, dann... aber nein, ich musste einfach Vertrauen haben und zwar nicht nur in mich. Allerdings stand in dem Brief nicht ein einziges Wort darüber, dass es Mum im Moment nicht sehr gut ging, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Wieso verschwiegen mir meine Eltern etwas, das für mich vielleicht sehr wichtig war? Klar, wir hatten uns in letzter Zeit nicht so richtig gut verstanden, aber wenn es um das Wohl meiner Mutter ging, zögerte ich nicht ihr zu helfen. Wenn man mir nur sagen würde, was sie so blass machte. Die Antwort würde mich sogar mehr beruhigen, als das Unwissen. Doch das sie mich mal wieder im Unwissen gelassen hatten, machte mich auf einmal richtig wütend. Ich konnte nicht sagen, woher diese aufkeimende Wut so plötzlich kam. Aber was ich sagen konnte: Ich hatte das Recht zu wissen, was mit Mum los war! Und es schien, als wüsste Dad über alles Bescheid und erwähnte nicht mal ein Wort mir gegenüber. Was hielt ihn auf es mir zu sagen? Ich wollte endlich wissen was los war und es machte mich so wütend, dass meine Eltern mal wieder dachten, sie könnten mir etwas verschweigen. Mir war es egal, ob sie mich damit nur nicht beunruhigen wollten, doch ihr Schweigen tat genau das, mich beunruhigen. Ich stand auf und atmete schneller. Ich war unfähig etwas gegen meine Wut zu tun. Mit einem Ruck drehte ich mich zur Seite. Die Wut durchströmte meinen Körper, sie floss in meine Arme und Beine, bis runter zu den Füßen. Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich in mir aus und einen Augenblick später schoss ein pfeilschneller Energieblitz aus meinen Fingerspitzen auf Cats Wandspiegel zu. Nur eine Sekunde später hielt ich mir schützend die Arme über den Kopf, um nicht von irgendwelchen umherfliegenden Glassplittern getroffen zu werden. Der Spiegel zerbrach in tausend Stücke. Einige Splitter streiften meine Arme oder gruben sich tief in meine Haut. Ein Schmerzensschrei entfuhr meiner Kehle, er ließ sich nicht aufhalten. Auf meinem Arm glitt eine warme Flüssigkeit hinab und tropfte vom Ellenbogen aus, auf den dunkelblauen Fußboden. Ich war mir sicher, zu wissen, was es war. Der Splitterregen dauerte lange an. Mir kam es vor, wie eine Ewigkeit, als die letzten Splitter auf mich herabregneten und klirrend zu Boden fielen. Ich keuchte und hatte Mühe mich aufzurichten. Neben mir auf dem Boden lagen die vielen Splitter des Spiegels. Einige Teile waren schwarz. Ein übler Geruch breitete sich im Zimmer aus, aber ich hatte nicht die Kraft das Fenster zu öffnen. Die Sicht wurde mir sowieso schon von Qualm versperrt. Mir wurde klar, was ich gerade getan hatte und diese Erkenntnis zwang mich in die Knie. Ich hatte Cats Spiegel zerstört. Den, den sie von ihrer verstorbenen Großmutter geschenkt bekam. Und eben diese hatte Cat das Elementbändigen vererbt und war für sie immer wie eine zweite Mutter gewesen. Dieser Spiegel bedeutete Cat sehr viel und wenn sie wüsste, was ich damit angestellt hatte, würde es ihr das Herz brechen. Ich wusste nicht, wie ich das wieder in Ordnung bringen könnte oder ob ich ihn reparieren konnte, wenn ich es versuchen würde. Die Augen weit aufgerissen, stieg ich über die einzelnen Glassplitter hinweg. Manche umgab ein geheimnisvoller Schimmer, der nach dem zweiten Blick allerdings erlosch. Vielleicht spiegelte sich auch nur die Sonne in den ganzen Scherben, aber ein Blick durch den Qualm ließ mich erahnen, dass es nicht die Sonne war, die die Splitter glänzen ließ. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich mir das alles nur eingebildet hatte. Ich betrachtete das Splittermeer zu meinen Füßen und entdeckte erneut das Schimmern. Nein, das hatte ich mir nicht eingebildet. Diese Scherben schimmerten tatsächlich, doch das Leuchten zog sich in jeder Scherbe zurück, bevor ich es genauer betrachten konnte. Überall um mich herum erlosch das Schimmern, bis nur noch ein schwaches Licht von einer einzigen Glasscherbe ausging. Ich hob sie auf und sah mich darin. Oder etwa nicht? Mir blickte ein Mädchen entgegen. Es sah mir in gewisser Weise ähnlich, doch irgendwie auch nicht. Ihre Augen glühten gefährlich auf und loderten wie das Feuer, das sie umgab. Ja, sie stand im Feuer, so wie ich damals. Ihre Klamotten waren zerissen und an einigen Stellen sogar verkohlt. Ihre Wunden schienen das Mädchen überhaupt nicht zu interessieren. Die roten Haare fielen ihr auf die Schultern und brannten wie der Rest ihres Körpers. Mit einem Aufschrei fiel mir die Scherbe aus der Hand und hinterließ einen blutigen Schnitt. Ich hielt mir die Hand. Sie brannte, wie ein Grillhänchen über dem Feuer. Mein Blick wanderte zum Spiegel. Das Gold am Rahmen des Spiegels blätterte ab, sodass der Rahmen eine schwarze Farbe annahm. Zu allem Übel wurde mir auch noch schwindelig. Ich taumelte nach hinten und fiel auf mein Bett. In diesem Moment ging die Zimmertür auf und Coral stürmte herein. Durch den Qualm konnte ich nur schlecht ihre Konturen ausmachen.
"Was...?", drang ihre schockierte Stimme zu mir durch. Der letzte Gedanke, den ich fasste war: Ich war wie der Wandspiegel, sowohl äußerlich, als auch innerlich zerbrochen. Zerbrochen, das Wort hallte in meinem Kopf wider. Dann breitete sich Schwärze vor meinen Augen aus.

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