6. Albtraum

Allmählich begann im Internat wieder der tägliche Trubel am Morgen. In den Ferien war es auf den Gängen leise gewesen. Das lauteste Geräusch, was ich gehört hatte, waren die Absätze der Sekretärin, wenn sie mit ihren riesigen Ordnern und einem klimpernden Schlüssel durch die Gänge huschte, um zur Bibliothek zu gelangen. Die Dame, die für die Bibliothek zuständig war, arbeitete nicht in den Ferien, weshalb sich jeder Schüler eine Vollmacht und den Schlüssel von der Sekretärin geben lassen musste, bevor er die Schülerabteilung betreten durfte.
Die Schule sah aus, wie ein großes, altes, verlassenes Wohnhaus. Schüler liefen einem nur selten über den Weg, da die meisten ihre Ferien bei ihren Eltern verbrachten und in der Mensa wurde maximal geflüstert. Zu diesen Zeiten erschreckte man sich umso mehr, wenn mal ein Teller auf dem Boden landete, doch ich fühlte, wie sehr ich die anderen Mädchen vermisst hatte. Diese Schule war zu meinem zweiten Zuhause geworden und meine Zimmermitbewohnerinnen zu der besten Familie, die man sich wünschen konnte.

Am Donnerstagmorgen fühlte ich mich so, als wäre ich in der Nacht zwanzig Mal aus dem Bett gefallen. Vielleicht lag es an dem Alptraum, der sich Nacht für Nacht durch mein Unterbewusstsein fraß und mir die Nerven raubte.
Immer wieder sah ich Christian mit dem Rücken zu mir in einer dichten, weißen Nebelwolke direkt vor dem Tor zur Welt der Toten stehen. Selbst aus der Ferne erkannte ich seinen Willen. Er wollte es beenden. Das sah ich ihm an, als er mit den Fingerkuppen leicht und geschmeidig über die Rillen in der Klinke fuhr.
Just in diesem Moment gab das Tor nach und eine Frau mit stechenden, grünen Augen und haselnussbraunen Haaren, die ihr bis zur Taille reichten, schwebte anmutig aus dem Tor heraus. Ihre einladende Geste und die schmalen blutroten Lippen, die sich zu einem herablassenden Lächeln verzogen, verhießen nichts Gutes. Meine Beine bewegten sich von selbst, ohne dass ich ihnen den Befehl erteilen musste, auf die beiden zuzurennen. Ich streckte die Hand nach Christian aus, als könnte ich ihn so aus der Ferne greifen.
Sie setzte Zwang gegen ihn ein. Anders konnte ich mir nicht erklären, warum er die Hand, die sie ihm nun entgegenstreckte, annahm.
In meinem Kopf dröhnte es laut, was in mir ungeheure Kopfschmerzen entfachte. Am liebsten hätte ich laut geschrien, aber meine Lippen klebten aufeinander und in meiner Kehle hatte sich schon ein dicker Kloß gebildet. Wissend, dass ich bereits an mein Limit gegangen war, versuchte ich meine Schritte zu beschleunigen, bis ich das Gefühl hatte, dass sie vom Boden abhoben. Ich kam ihnen kein Stück näher, als würde ich die ganze Zeit auf der Stelle laufen.

Zögernd starrte Christian an der Frau vorbei und blickte in die Dunkelheit, die sich in riesigen, schwarzen, klebrigen Wolken aus dem Tor lösten und das Weiß und den Nebel der Zwischenwelt in sich aufnahmen. Die Frau griff mit ihrer freien Hand in die Dunkelheit hinter dem Tor und zog ein langes, scharfes Messer heraus, dass sie vor Christian gelassen in der Luft kreisen ließ. Die Wolken teilten sich und verschluckten den weißen, wabernden Nebel.
Meine Beine schienen aus Wackelpudding zu bestehen, aber ich gab nicht auf. Mein Atem rasselte und ich keuchte, als ich beinahe über meine eigenen Füße gestolpert wäre. Die Kraft verließ mich.
Die Frau, die ich nun als die Hüterin des Totenportals identifizierte, zog ihn an sich. Beklommen und unwissend ließ er es geschehen. Seine Augen starrten leer und ohne jedes Lebenszeichen geradeaus. Sie setzte das lange Messer an seiner Kehle an und bohrte ihm die schwarfe Spitze mitten in den Hals.
Ich hörte auf zu atmen und erstarrte, als sich die roten Tropfen mit der schwarzen Konsistenz der dunklen Wolken vermischten und Christian zu Boden sank. Die Wolken entzogen ihm die Lebenskraft und er tat seinen letzten Atemzug. Während die Wolken ihn mit sich durch das Tor zogen und die Stelle seines Todes durch die roten Blutlachen zurückblieb, öffnete sich plötzlich ein Schlund vor mir. Ohne zu wissen, was ich tat, sprang ich und schrie, so laut es der Kloß in meiner Kehle zuließ. Das Letzte, was ich hörte, war ihr machthungriges Lachen, ein Lachen, das meine Gedanken in Beschlag nahm und tausendfach in meinem Kopf schallte.

Kiki und Coral rüttelten mich hektisch an den Schultern.
"Mads, beruhige dich! Du hattest einen Alptraum", vernahm ich Corals Stimme von weit her. Atemlos schnappte ich nach Luft und atmete stoßweise. Vorsichtig blinzelte ich, als sich meine Augen mit Tränen füllten. "Nein", spuckte ich das Wort aus. "Nein! Er ist tot. Ich habe es gesehen", krächzte ich und merkte selbst, wie meine Stimme zum Ende hin immer leiser wurde.
"Madline, ist alles in Ordnung?", fragte Kiki. Ich blinzelte sie über meine Tränen hinweg an. Sie wirkte besorgt und musterte mich schockiert, als hätte sie Ötzi im Eis gefunden. Vergessen war unsere kleine Auseinandersetzung am schwarzen Brett.
"In diesem Zustand kannst du unmöglich zur Schule gehen. Ich hole eine Heilerin und melde es im Sekretäriat", beschloss Coral. Blind griff ich nach ihrem Handgelenk. "Nein, nein tu das nicht. Sie wissen noch nichts von Christian. Und glaubt mir doch, sie wird ihn töten!"
Kiki und Coral wechselten einen skeptischen Blick. Ihnen war klar, dass ich nicht die Schulleitung meinte.
"Wer denn?", wollte Kiki wissen und setzte sich auf mein Bett, als erwartete sie eine lange Geschichte. Ihr Blick glitt suchend zu meiner linken Hand. Langsam drückte sie zu, als würde mir das helfen, aber dann bemerkte ich, dass sie einen Heilprozess anwendete, um mich zu beruhigen. Ich krampfte meine Hand in ihre und sie hielt kurz inne. Die Wärme, die meinen Körper bis eben noch durchflutet hatte, wich zurück.
"Diese Frau, sie hat... da war das Messer und dann... die Blutsflecken und die schwarze Wolke und... Diese Hexe... hat versucht, ihn mit sich durch das Tor zu ziehen." Ich holte tief Luft.
"Unsinn, die Hüterin des Totenportals mag dir vielleicht unheimlich vorgekommen sein, aber sie hat die Aufgabe, den Toten beim Übergang in das Totenreich zu helfen. Sie ist garantiert nicht böse, das weiß selbst ich", erzählte Coral stolz und zwinkerte Kiki zu. "Und außerdem wäre Christian gar nicht erst zu dumm, sich auf die Hüterin einzulassen, wenn sie tatsächlich irgendwas im Schilde führen würde."
"Versteht ihr nicht? Er... er war wie hypnotisiert von ihr. Sie hat Zwang eingesetzt!", behauptete ich, eher benommen. Dann stutzte ich. "Cat, ich muss mit Cat reden! Wo ist sie?" Ich löste den Schraubstockgriff von Corals Handgelenk, was sie kurz aufatmen ließ, und wischte mir die Tränen aus den Augenwinkeln. Wenn Cat hier wäre, säße sie jetzt auf meinem Bett, um mich zu trösten. Mein Blick wanderte zu ihrem ordentlich gemachten Bett. Blitzschnell setzte ich mich auf.
"Sie ist nicht hier. Sie war schon weg, bevor du uns geweckt hast", teilte mir Kiki mit.
"Was? Ich brauche sie. Jetzt! Wenn Christian sterben wird, hat sie es todsicher in einer ihrer Visionen gesehen." Coral neben mir seufzte, stieß sich vom Bett ab und ging hinüber zu den pastellfarbenen Vorhängen. Mit einem Ruck zog sie sie auf und warf einen Blick hinaus. Es regnete in Strömen. Die Hitze der letzten Tage war nun einem bewölkten Himmel gewichen.
"Denkt jemand, dass sie sich wahrscheinlich draußen aufhält. Nein? Na bitte, ich nämlich auch nicht!"
"Außerdem weißt du ganz genau, dass Cat ihre Visionen noch nicht genau steuern kann und sie oft nur die sieht, die ihr die Zukunft innerhalb eines Monats zeigen", warf Kiki ein. Natürlich hatte sie Recht, aber das änderte nichts daran, dass wir nicht wussten, wo sie steckte.
"Ich würde trotzdem gerne mal wissen, wo sie jetzt ist. Ich meine... es ist kurz nach halb sieben", entgegnete ich und Kiki nickte zustimmend.

Plötzlich ging die Tür auf und Cat stürmte hinein, die Augen geweitet und in einen blauen Regencape gekleidet. Ihre Füße steckten in schwarzen Gummistiefeln und ein paar Wassertropfen tropften aus ihrem Haar auf den Boden. Die Lippen aufeinandergepresst, eilte sie ins Bad und legte ihre nassen Sachen auf die warme Heizung. Sie war also doch draußen gwesen.
"Cat, wo warst du?", begrüßte ich sie unhöflich, weshalb ich wohl keine Antwort bekam. Also fragte ich sie anders. "Alles in Ordnung?"
"Ja, alles bestens", stieß sie aus und zog sich ihre durchweichten Socken aus, um sie gleich danach auf die Fensterbank zu pfeffern.
"Was hast du denn getrieben?", fragte nun auch Coral, hob die nassen Socken mit den Fingerspitzen hoch und trug sie ins Bad. Cat ließ sich auf das Bett fallen und blieb für einen Moment mit geschlossenen Augen so liegen. Ihre Augenlider zuckten leicht.
"Cat", versuchte es nun auch Kiki. Aus ihrer Stimme war ein leicht genervter Unterton herauszuhören.
"Können wir mal das Fenster aufmachen. Hier drin ist es stickig." Sofort war mir klar, dass sie damit nur vom eigentlichen Thema ablenken wollte, was bedeutete, dass es wahrscheinlich etwas sein musste, das wir nicht wissen sollten.
Coral erschien in der Badezimmertür, rollte mit den Augen und räusperte sich. Alle anwesenden Blicke waren auf Cat gerichtet.
"Ich war trainieren, wenn ihr es wissen wollt", berichtete sie hastig, doch mich konnte sie damit nicht überzeugen und auch Kiki schüttelte misstrauisch den Kopf. Und als sich unsere Blicke begegneten, dachten wir beide das Selbe: Hier steckt mehr dahinter.

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