5. Zwei Probleme

Vor lauter Entsetzen war ich sprachlos. Ich wusste nicht, was ich zu seinem jetzigen Zustand sagen sollte. Sein Körper sah nicht nur durchsichtig aus. Als ich seine Hand in meine legte, fühlte es sich auch wirklich so an.
"Oh mein Gott", brachte ich leise heraus und meine Stimme versagte. Mit der anderen Hand fuhr Christian sich nervös durch die Haare. Es sah ganz so aus, als hätte er genau gewusst, dass ich so reagieren würde. Entsetzt schaute ich auf, doch er wich meinem Blick aus.
"Wie lange ist das schon so?", stellte ich die Frage, die mir auf der Zunge lag. Zuerst seufzte er und nach einer Minute, in der ich seine Hand genauer betrachtet hatte und dachte, er würde überhaupt nichts mehr sagen, erzählte er es mir doch.
"Der erste Monat, in dem du noch da warst, verlief ganz normal, nur musste ich mich eben ersteinmal zurechtfinden. Als du dich vor den Ferien verabschiedet hast, fing das Kribbeln an und mit der Zeit sind hier noch einige andere untote Personen aufgetaucht, die eine durchsichtige Haut besaßen. Sie haben mir klar gemacht, dass mich irgendwann das gleiche Schicksal treffen wird. Die meisten von ihnen existieren schon nicht mehr. Tatsächlich hat es nicht lange gedauert, ich schätze mal es waren zwei Wochen, da hat sich das Kribbeln auf meiner Haut verstärkt und sie ist blasser geworden. Danach wurde es immer schlimmer. Ich höre auf zu existieren, verstehst du?" Meine Lippen bebten, als er das sagte und es bestätigte meine Vermutung. Ich wollte nur nicht daran glauben, dass es gerade wirklich passierte. Seine Hand glitt aus meiner und aufeinmal überkam mich das dringende Bedürfnis, ihn zu umarmen.
"Ich habe wirklich geglaubt, wir hätten noch etwas Zeit", verteidigte ich mich. "Wie lange wird es noch dauern, was meinst du?" Sein Blick glitt erneut in die Ferne und daraus interpretierte ich, dass er es längst wusste. Ungeduldig starrte ich ihn an. Er wandte sich um.
"Der Prozess dauert nicht länger als ein halbes Jahr. Vier von sechs Monaten sind vergangen", klärte er mich auf. Am liebsten hätte ich mich wie ein dreijähriges Kind benommen und losgeheult, aber das erlaubte ich mir jetzt einfach nicht. Nicht vor ihm, wo wir doch in aller Ruhe geglaubt hatten, dass wir tatsächlich einen Ausweg finden könnten. Aber ich musste nun der Wahrheit ins Gesicht sehen, denn es gab keine Chance mehr ihn zu retten. Dennoch blieb ich ihm gegenüber optimistisch.
"Wir können das noch schaffen. Es ist noch nicht zu spät." Ich würde einfach hoffen müssen, dass er diese Lüge schluckte, dass er mir abkaufte, dass sich bereits eine Lösung in Aussicht befand. Aber es tat es nicht und schüttelte den Kopf.
"Du solltest mir diesen Abschied nicht noch schwerer machen, als er sowieso schon ist. Mach dir keine Hoffnung, wenn du es sowieso nicht schaffen kannst. Du solltest endlich loslassen und akzeptieren, dass mein Tod schon vorher besiegelt worden war. Du kannst es abhaken. Ehrlich." Seine Augen unterstrichen sein Bedauern und seine Miene glich nicht mehr der geheimnisvollen, kalten Maske, die ich damals kennen lernte. In seinem Blick verbarg sich außerdem Reue und dass er diese Reue empfand, machte es für mich nur noch schwerer ihn gehen zu lassen.
"Ich möchte, dass du nicht mehr wiederkommst. Du hast getan was du konntest und ich nehme es dir nicht übel, wenn du es sein lässt", fügte er noch hinzu und versuchte sich an einem Lächeln. Etwas benommen sah ich ihn an und kapierte erst gar nicht, was er von mir wollte, als er mein Gesicht langsam in seine Hände nahm. Ich bemerkte das Glänzen in seinen Augen und beugte mich etwas vor. Und dann berührten seine Lippen die meinen und ich ließ es einfach geschehen, ließ mich von meinen Gefühlen leiten. Wärme schoss in meinen Körper und ich erwiderte den Kuss. Dort standen wir nun eng beisammen und mir war es egal, wer uns gerade zusah. Dieser Moment gehörte ganz allein uns und den durfte niemand für sich in Anspruch nehmen. Abgesehen von einem gewißen Flackern. Er drückte mich fest an sich.
"Ich kann nicht Lebe wohl sagen", flüsterte ich, als er kurz von meinen Lippen abließ.
"Dann tu es auch nicht!", erwiderte er und ignorierte das Flackern, dass mich vollkommen einhüllte.
"Ich liebe dich", entgegnete ich und schmiegte mich ein letztes Mal erneut an ihn.
"Und ich dich a..." Seine Stimme brach ab und ich wurde von kräftiger Hand zurück in die Wirklichkeit gezogen. In die kalte, schreckliche Wirklichkeit.

Wie schon vor drei Monaten gaben meine Beine unter mir nach und ich glitt, ohne Christians Hand loszulassen, zu Boden. Ich konnte und wollte einfach nicht glauben, dass das der Abschied sein sollte. Er hatte mir das Leben gerettet und ich versprach ihm ebenso, seines zu retten. Warum nur musste ich so lange warten? Ich hätte mich früher auf die Suche nach der einzigen Möglichkeit begeben sollen, die ihm noch blieb. Auch wenn es unmöglich schien, musste es einen Ausweg geben. Ich gab ihm mein Wort und ich würde nicht aufgeben, es weiter zu versuchen. Anstatt hier nur herumzusitzen, konnte ich eingreifen.
Entschlossen stand ich auf und blinzelte, um mich zu sammeln. Es war so einfach. Tatsächlich kannte ich noch eine Möglichkeit, die mir bisher noch nie in den Sinn gekommen war. Oder, die ich vorher noch nie in Betracht gezogen hatte, da ich mich damit wieder einmal selbst in Gefahr brachte. Wenn ich es geschickt anstellte, würde ich eine Antwort bekommen.
Niemand kannte sich mit dem Ritual und den Mythen der Schatten besser aus, als die Schatten selbst und da ich sie hinter dem Wald unserer Schule eigenhändig vernichtet hatte, kamen nur die zwölf Ratsmitglieder im hohen Rat der Schatten in Frage. Sie wussten über den Plan des Schattenherrn Bescheid, so glaubte ich jedenfalls. Und wenn ich mich nicht täuschte, waren sie diejenigen gewesen, die ich als letztes gesehen hatte, nachdem ich das Schattenreich zu Fall brachte. Wenn jemand eine Antwort für mich hatte, dann waren sie es. Es reichte schon aus, wenn sie mir erzählten, mit was Christian getötet worden war.
Christian war ein Geist. Es brauchte besondere Mittel um ihn zu töten, soviel wusste ich bereits. Aber ich konnte den Schatten nicht geradewegs in die Arme laufen und um die Elemente kontrolliert anzuwenden, brauchte ich noch sehr viel Übung. Vor allem was die Luft anging. Bis ich wirklich alles einigermäßen auf die Reihe bekam, würde es mindestens noch andethalb Monate brauchen. Ich musste es irgendwie beschleunigen.
Die Kälte holte mich zurück in die Realität. Ich musste hier weg. Niemand durfte sich ohne Erlaubnis hier unten aufhalten. Warum sonst stand an der Tür oben im Gang seit neustem ein "Nicht betreten"- Schild? Die Schulleitung würde doch wohl nichts ahnen.
Schnellen Schrittes lief ich zur Tür, stellte mir in Gedanken vor, wie mein Körper mit der Luft verschmolz und trat mitten durch die dicke Tür. So langsam hatte ich echt Übung mit meiner Vorstellungskraft. Ich lief den langen Gang entlang, stieg die Treppen hinauf und öffnete vorsichtig die Tür. Im Seitengang war niemand zu sehen, wie auch sonst nie, aber ich hielt es immer für nötig, auf Nummer sicher zu gehen.
Leise schloss ich hinter mir die Tür und trat auf den Hauptgang zu. Einige Schüler liefen zielstrebig an mir vorbei. Niemand beobachtete, wie ich aus dem Seitengang trat und meinen Weg fortsetzte. Die Mittagspause war bestimmt gleich vorbei und ich musste noch meine Tasche aus dem Biologieraum holen, die ich in der Eile dort vergessen hatte. Der Fahrstuhl funktionierte ja leider nicht, also lief ich seufzend auf die Treppe zu.
In diesem Moment vernahm ich ein Fluchen zwischen dem Stimmengewirr und erkannte sofort, von wem es kam. Kiki! Wieso fluchte sie? Sie hatte stets gute Laune und ärgerte sich sonst nie über irgendwas. Und wenn doch, behielt sie es wohl im Stillen für sich.
Ich sah mich um und entdeckte sie am schwarzen Brett. Sogleich meldeten sich sämtliche Alarmglocken bei mir. Musste ich sie etwa schon wieder darüber belehren, dass der Schüleraustausch nicht für unseren Jahrgang gestattet war? Mein Blick glitt zu dem Gegenstand in ihrer Hand und ich erkannte ihn sofort. Befestigt an einem Wollfaden hing er vom schwarzen Brett herunter. Eilig bahnte ich mir zwischen den Schülern einen Weg hindurch. Ich dachte wirklich, sie hätte es eingesehen und wiedermal ergriff die Naivität von mir Besitz. Das konnte ja wohl nicht wahr sein.
"Kiki, ich habe doch gesagt, dass sich auch im nächsten Jahr eine Chance bieten könnte", rief ich ihr laut zu. Meine Freundin drehte langsam den Kopf und erstarrte, als sie mich erblickte.
"Mads.... ich... ich kann das erklären", stammelte sie und ließ die Hand mit dem Kuli sinken. Ihr Blick wirkte wie auch gestern Abend, glasig. Kiki benahm sich sowieso seltsam, seitdem die Direktorin den Schüleraustausch angesprochen hatte. Klar war es ihr Traum, doch ging Kiki tatsächlich so weit, dass sie... eine Regel brach?
"Ich bin nicht sauer", antwortete ich, als ich vor ihr stand. "Wieso auch? Ich will dir das nicht ausreden, es ist schließlich dein Traum." Kiki stieß hörbar die Luft aus, als hätte sie nur darauf gewartet, dass ich es aussprach.
"Ich weiß", erwiderte sie und für einen Moment wirkte sie ziemlich erleichtert das zu hören.
"Warum tust du das? Du weißt, dass es noch so viele Chancen geben wird", versuchte ich es nocheinmal. Kiki warf einen Blick auf den Zettel am schwarzen Brett. Ich sah ihren fehlgeschlagenen Versuch, sich in die Liste einzutragen und grinste, als ich bemerkte, dass die letzten Namen nicht deutlich dort geschrieben standen. Wahrscheinlich hatte der Kuli den Geist aufgegeben. Kein Wunder!
"Ich hätte es fast getan", berichtete Kiki und blickte auf den Kuli in ihrer Hand. "Aber der hier hat mich davon abgehalten. Er funktioniert nicht mehr", bestätigte sie meine Vermutung. Mir entfuhr ein Seufzen.
"Cat hatte gestern Nacht eine Vision", gab ich schließlich zu, obwohl Cat und ich uns wahrscheinlich beide einig gewesen waren, es den anderen vorerst nicht zu erzählen, um sie nicht zusätzlich zu belasten. Sofort wechselte Kikis Miene von verzweifelt in besorgt.
"Was hat sie denn gesehen?", fragte sie sofort, wobei ich deutlich den neugierigen Unterton heraushörte. Kurzfristig war ich unschlüssig, ob ich es ihr erzählen sollte. Vielleicht glaubte sie, ich wollte sie damit abhalten, sich in die Liste einzutragen. Doch ich konnte es ihr sowieso nicht verschweigen.
"Wir glauben, dass es ein Austauschschüler auf unser Internat abgesehen hat. Eher eine Austauschschülerin. Leider wissen wir noch nichts genaues über die Identität dieses Spions. Wir haben also keinen weiteren Hinweis. Wenn du gehst, sind unsere Chancen eingeschränkt, den Spion in unseren Reihen zu stellen", erklärte ich ihr und betonte dabei noch einmal, wie sehr wir sie bei den Ermittlungen brauchten. Für einen kurzem Moment glaubte ich ernsthaft, sie würde es mir nicht abnehmen. Etwas skeptisch betrachtete sie mich, als wollte sie sicher gehen, dass ich keine Tabletten genommen hatte.
"Woher willst du denn wissen, dass die Person eine Austauschschülerin ist?", fragte sie und hob misstrauisch eine Augenbraue.
"Schon seltsam, dass gerade jetzt diese Vision kommt, wo doch keiner aus unserer Schule jemals verdächtig aufgefallen ist. Sie... oder er war ungefähr so groß wie wir. Da liegt es doch nahe, dass die Person erst letztens hier her gekommen ist", agierte ich.
"Aber sicher bist du dir nicht."
"Kiki, ich will dich nicht davon abhalten, dich für den Austausch zu bewerben, wenn du das denkst. Ich möchte dich nur warnen", versicherte ich ihr und versuchte, in ihren Augen einen Funken Besorgnis zu lesen, doch da war nichts dergleichen. Stand Kikis Entscheidung etwa fest?
"Du kannst mich nicht abhalten, denn die Anmeldefrist läuft schon in fünf Tagen ab. Und ich kann gut auf mich selbst aufpassen", entgegnete sie. Mit diesen Worten nahm sie einem Schüler, der sich gerade in die Liste eintragen wollte, seinen Stift ab und trug sich selbst ein. Unhöflich drückte sie dem verwirrten Schüler den Stift in die Hand und drängte sich an mir vorbei. Warum verstand sie nicht, dass meine Sorgen vielleicht begründet waren? Sie hatte sich verändert, so viel stand fest.
Ich warf einen Blick auf die Liste, auf der nun krackelig Kikis Name stand und verkniff mir einen erneuten Seufzer. Dann machte ich mich auf den Weg zum Biologiezimmer.

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