4. Dunkle Vorahnungen

Ich nahm meine beste Freundin in den Arm und drückte sie ganz fest an mich. Wahrscheinlich war es am besten, wenn ich zuerst wartete, bis sie sich beruhigt hatte. Ihre Hände zitterten auf meinem Rücken, ich konnte es spüren und das verhieß nichts Gutes. Was auch immer in Cats Vision vorgefallen war, fürchtete sie. Und das machte mir klar, dass es auch mich etwas anging. Langsam löste ich mich aus Cats Armen und fing ihren leicht verwirrten Blick auf, als hätte sie das Gesehene nicht ganz verstanden. Dann wandte sie den Blick wieder von mir ab.
"Was hast du gesehen?", fragte ich sie nun leise. Zugleich machten sich Sorge und Neugier in mir breit. Sie musste erst einmal schlucken, bevor sie mich wieder ansah und zögerte.
"Ich habe nichts Genaues gesehen. Überall auf dem Boden waberte Nebel, aber ich weiß noch, dass es Nacht war und der Mond von oben herabgeschienen hat", erzählte sie und schnappte am Ende des Satzes nach Luft. Ich war kurz davor, sie an den Schultern zu rütteln, damit sie endlich mit der Sprache herausrückte. Doch das brauchte ich zum Glück nicht.
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich wieder mal einen Wald gesehen habe, aber durch den Nebel blieb die Sicht ziemlich verdeckt. Und plözlich stand eine Person auf der Lichtung. Eingehüllt in einem roten Mantel stand sie dort, die Arme gen Himmel gestreckt, als würde die Person auf etwas warten. Ich habe das Gesicht nicht sehen können, er oder sie hat mir ihren Rücken zugewandt. Danach wechselte die Sichtweise. Ich habe alles aus den Augen des Unbekannten gesehen und es fühlte sich tatsächlich so an, als schwebten seine oder ihre Füße über dem Boden, wegen des Nebels. Im Vorbeigehen habe ich das Blut bemerkt, dass an manchen Bäumen klebte. Keine Ahnung von wem es war, doch irgendwie glaube ich, dass es ganz frisch war. Der Wald endete an unserer Schule, sodass der Blick auf der Elemava-Academy lag, bevor..." Cat gerriet ins Stocken. Nervös legte ich eine Hand auf ihre Schulter, um sie zu ermutigen, weiterzusprechen. "Die Person im Kapuzenmantel hatte ein Medaillon bei sich", fuhr sie fort und blickte an mir vorbei, als ginge sie die Bilder einzeln im Kopf durch. "Anscheinend wollte der Unbekannte es los werden. Er oder sie hat es gegen einen Baumstamm geworfen und es ist kaputt gegangen. So endete die Vision", berichtete sie mir und sank seufzend in die Kissen. Nachdenklich starrte sie zur Decke. Im Kopf legte ich mir einige Theorien zurecht, die mir vielleicht die Bedeutung von Cats Vision näher bringen könnten, doch ich fand keinen passenden Zusammenhang.
"Ich kann mir darunter nicht wirklich etwas vorstellen", gab ich zu. "Außerdem kannst du nicht wissen, ob diese Person es negativ auf unsere Schule abgesehen hat. Du hast mir nicht beschrieben, dass die Person irgendetwas Verbotenes getan hat. Vielleicht hat es dich einfach geschockt, dass die Vision so plötzlich gekommen ist. Die rauben dir ja jeden Schlaf. Schlaf jetzt! Ich denke, wie besprechen das morgen nocheinmal, wenn wir beide ausgeruht sind. Im Moment stufe ich das als eine geringere Bedrohung ein, als meinen Schlafmangel, wenn mich Mr. Dole morgen früh in Englisch nach dem letzten Schuljahr abfragt." Mit diesen Worten erhob ich mich, doch sie hielt mich zurück.
"Mads?", wisperte sie ruhig. Ich drehte mich um. "Bleibst du bitte bei mir?"
Wie meine Freundin dort zusammengekauert in ihrem Bett hockte, konnte ich nicht ertragen. Aus diesem Grund nickte ich, obwohl sie es vielleicht nicht sehen konnte. "Natürlich, wenn du möchtest."
Ich stieg zu Cat ins Bett, zog die Bettdecke hoch und meine Freundin kuschelte sich an mich. Noch immer fühlte sie sich kalt an, doch es störte mich nicht im Geringsten, solange sie sich wohl fühlte. Trotzdem vermutete ich, dass die Vision doch etwas ernster war, als ich gesagt hatte. Und während Cat einschlief, lag ich noch lange wach.

*****

Am nächsten Tag hielten Cat und ich uns etwas zurück und sprachen nur wenig miteinander. Vielleicht wollte Cat es erstmal verdauen oder sie war nachdenklich, weil ich ihr nicht geglaubt hatte, dass die Vision etwas Schlechtes verhieß. Sie löffelte zum Frühstück träge ihr Müsli und ich stocherte müde mit der Gabel in meiner Nachspeise herum. Das Verhältnis zwischen Cat und mir schien auch den anderen beiden aufzufallen. Allerdings wollten sie uns wohl nicht darauf ansprechen.
Nach dem Frühstück packten wir oben unsere Taschen und machten uns auf den Weg ins Englischzimmer, wo Mr Dole bereits stocksteif an seinem Schreibtisch saß und sich den Hefter von Joanna, die in der ersten Reihe Platz nahm, genommen hatte, um sich den Stoff des letzten Schuljahres anzusehen, als ob er vergessen hätte, was wir zuletzt behandelten. An der Tafel stand sogar schon die Überschrift für ein neues Thema und ich musste unwillkürlich mit den Augen rollen, als er Joanna den Hefter zurückgab und noch ein paar Sätze mit irgendwelchen mir unbekannten Wörtern ergänzte. Was für ein großartiger Start ins zweite Jahr.
Cat und ich setzten uns trotz der miesen Stimmung wieder nebeneinander in die Wandreihe (die Fensterreihe war leider schon voll). Übrigens fragte mich der Lehrer tatsächlich nocheinmal nach dem Stoff ab und vor lauter Müdigkeit, fing ich an, es gelangweilt herunterzurasseln. Wenigstens wusste ich noch alles.
Als ich mich endlich setzen durfte, wandte sich Cat an mich. "Mag ja sein, dass du mir nicht glauben willst, wenn ich dir sage, dass es sich in der Vision um eine negative Zukunft handelt. Aber ich habe manchmal ein Gefühl, was die Visionen angeht. Was glaubst du, warum der Unbekannte das Medaillon zerstören wollte? Welche Gründe könnte es dafür geben?", wollte Cat von mir wissen. Ihr Blick suchte meinen und es schien, als wollte er mich durchbohren. Deshalb wich ich ihm aus.
"Es könnte viele Gründe geben, aber ich denke, dass sich eines mit ziemlicher Sicherheit feststellen lässt." Neugierig rückte Cat mit ihrem Stuhl etwas zu mir heran. Ich holte tief Luft. "Korrigiere mich bitte, wenn ich falsch liege, aber liegt es nicht eigentlich nah, dass die Person ein Mädchen ist? Roter Mantel, ein Medaillion... Hört sich für mich nach einem Mädchen an", behauptete ich. Cat ging meine Überlegung im Kopf durch und warf einen kurzen forschenden Blick zu Mr Dole, der versuchte, uns die Lyrik etwas näher zu bringen.
"Es muss nicht unbedingt ein Mädchen sein. Auch Jungs können rote Mäntel und Schmuck tragen", meinte sie und ich rang mir ein Lächeln ab, bei der reinen Vorstellung, wie das aussehen würde.
"Naja, wohl eher doch weiblich. Gehen wir also davon aus, dass es sich um eine weibliche Person handelt. Hast du denn die Größe der Person erkannt? Sie könnte ja auch älter sein", schlug ich vor, doch Cat schüttelte den Kopf.
"Ich weiß nicht so recht. Die Person war ziemlich groß, aber für die Größe einer Erwachsenen ist es nicht ausreichend. Sieh uns an! Wir sind auch ungefähr so groß." Mr Doles Räuspern ließ und zusammenschrecken.
"Darf ich erfahren, was die Damen in meinem Unterricht zu bereden haben. Ich hoffe, es hat mit dem Stoff zu tun. Zum Einsteigen benötigen wir die lyrischen Formen. Das ist Wiederholstoff der achten Klasse." Der Typ stand genau vor unserem Tisch und wir hatten ihn nicht bemerkt. Weil ich wusste, dass sich Cat daran bestimmt nicht mehr erinnerte, nannte ich sie ihm: "Zu den lyrischen Formen gehören Parabeln, Kurzgeschichten, Novellen, Märchen, Fabeln, Kalendergeschichten und die Anekdoten", zählte ich auf und der Lehrer nickte anerkennend.
"Nun gut, damit hätten wir die ersten doch schon beisammen. Doch wir möchten noch etwas höher gehen, etwas tiefer ins Thema einsteigen und es nicht nur mit den einfachen lyrischen Kurzformen anreißen", teilte er uns mit und schritt wieder nach vorne zur Tafel.
"Wow, wie hast du dich daran erinnern können? Das ist doch schon ein paar Jahre her", lobte mich Cat. Ich zwinkerte ihr zu.
"Kam mir gar nicht so vor. Also, wo waren wir stehen geblieben? Ah ja, weibliche Person und Alter. Wenn sie ungefähr so alt wie wir ist, also ein Mädchen, könnte sie doch aus unserem Jahrgang stammen", fuhr ich fort. Meine Gedanken fuhren Achterbahn und überschlugen sich. So langsam lockerten wir das Rätsel etwas auf. Cat überlegte.
"In unserem Jahrgang ist mir noch kein Mädchen verdächtig aufgefallen. Und die anderen Jahrgänge kenne ich nicht so gut, wenn es um die Mädchen geht." Sie dachte bestimmt an Drew und Sebastian, die Freunde von Coral und Kiki. Coral und Drew waren allerdings keine Freunde. Sie waren durchaus mehr als das.
In diesem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
"Nein, warte", rief ich etwas laut, sodass sich die Schüler eine Bank vor uns hektisch umdrehten. Ich schenkte ihnen ein kurzes Lächeln und sie drehten sich etwas ratlos um. "Was, wenn die Person gar nicht an diese Schule geht, sondern auf eine andere, aber hier her gekommen ist? So, wie ein Austauschschüler", fasste ich zusammen. "Wieso taucht die Person genau dann auf, wenn es einen Schüleraustausch gibt?" Cats Gesicht erhellte sich und sie ging im Kopf meine Theorie durch. "Madline, du bist ein Genie!"

Nach Englisch hatten wir Biologie mit Mrs Finkle. Sie war eigentlich ganz in Ordnung, was denn Charakter anging, aber sie mochte es nicht, wenn sich in ihrem Unterricht keiner meldete oder wenn wir nicht vorankamen. Vielleicht waren wir auch etwas abgelenkt gewesen, was das Zimmer betraf. Es war nämlich das einzige Zimmer, in dem die Bänke hintereinander ein Stück höher standen, sodass man sich keine Gedanken machen musste, ob der Vordermann zu groß war. Man konnte einfach über ihn hinwegsehen.
Danach brach die große Pause an und da ich nicht wirklich großen Hunger hatte, suchte ich Christian auf. Im Erdgeschoss ging ein kleiner Seitengang vom Hauptgang ab, der zu einer Tür führte. Dann ging es eine Treppe hinunter, bei der ich höllisch aufpassen musste, dass ich mir nicht den Kopf an der Decke stieß. Außerdem hing hier nur eine einzige, winzige Lampe, die die Treppe nur spärlich beleuchtete. Auf den schmalen Treppenstufen durfte man keinen falschen Schritt machen.
Ich stieg die Stufen vorsichtig hinab und lief den beleuchteten Gang entlang. Wie immer war es hier unten kalt und ich spürte, wie sich auf meinen Armen eine Gänsehaut ausbreitete. Im Vorbeigehen betrachtete ich die vielen Türen, die seltsamerweise alle offen standen.
Hier unten befand sich der Leichenkeller. Beim Kampf, der letztes Schuljahr vor der Schule stattgefunden hatte, waren viele Schüler und Lehrer ums Leben gekommen und hier her gebracht worden. Mit der Zeit hatte man sie wohl beerdigt. Noch während ich das dachte, setzte mein Herz eine Sekunde lang aus. Christian! Die Schulleitung wusste nicht, dass er noch lebte. Ich hatte darüber kein Wort verloren, denn ich glaubte, dass die Schulleiterin nicht so schnell vergessen würde, welches Chaos dieser Junge angerichtet hatte. Sie hätten nicht verstanden, warum es mir so wichtig war, dass er lebte. Sie konnten ihm seine Taten im Auftrag des Schattenherren sicher nicht verzeihen, auch wenn er mich beschützt hatte. Was, wenn auch er fort war, wenn er unter der Erde lag. Ich beschleunigte meine Schritte, fühlte die aufsteigende Angst. Nein, das durfte nicht sein! Die Tür mit der Nummer 047 stand weit offen und diese Nummer gehörte zu seinem Raum. Mein Herz begann zu klopfen wie ein Presslufthammer. Ich rannte den Gang entlang, direkt auf seine Tür zu und für einen Moment war mein erster Gedanke: Er ist weg! Vor der offenen Tür kam ich atemlos zum Stehen, stützte mich am Türrahmen ab und wagte einen Blick in den Raum. Die Angst wich von mir, aber meine Sorgen blieben. Christian lag auf dem großen Tisch in der Mitte, die lange Deckenlampe war eingeschaltet. Neben seinem Tisch stand ein Hocker und die Schränke standen offen, als hätte man nach etwas bestimmtem gesucht. Dieses Mal lag eine Decke über ihm, die seinen ganzen Körper, bis auf den Kopf bedeckte. Mir blieb keine Zeit genauer darüber nachzudenken, warum Christian (nicht wie alle anderen), noch hier lag, denn plötzlich vernahm ich Schritte vom Gang. Hastig drehte ich mich zu Christians Tisch um und ergriff seine Hand. Sie war eiskalt.
"Komm schon", bat ich und hoffte, dass es schnell ging. Die Schritte kamen immer näher und ich wollte hier unten nicht entdeckt werden. Nun drangen auch leise Stimmen an mein Ohr. Was beredeten die da nur? Endlich machte sich das vertraute Ziehen in meinem Arm breit. Christian zog mich aus der realen Welt in die Zwischenwelt. Wie lange hatte ich darauf warten müssen ihn wieder zu sehen? Fasst drei Monate! Und jetzt war es wieder so weit. Mein letzter Gedanke, bevor ich in die Zwischenwelt gesogen wurde, galt jedoch nicht Christian. Irgendjemand musste mitbekommen haben, dass er noch lebte. Wie ließ es sich sonst erklären?

Als ich die Augen aufschlug, stand ich wiedermal vor weißen Wänden. Tatsächlich war die einzige Farbe dieser Welt weiß und nur Christian hatte nicht diese Farbe angenommen. Er trug hier seine normalen farbigen Alltagsklamotten, ebenso wie ich. Deswegen hätte ich ihn auch gleich sehen müssen. Ich drehte mich einmal um und sah über meine Schulter, doch er war nirgends zu sehen. Wäre es klug nach ihm zu rufen? Etwas unschlüssig ging ich ein paar Schritte weit, doch er tauchte auch jetzt nicht in meinem Blickfeld auf.
"Christian?", versuchte ich es leise, aus Angst, dass hier doch noch jemand herumlungern könnte. Jemand, der nicht Christian hieß und von dessen Existenz ich nicht die leiseste Ahnung hatte.
"Christian?", rief ich etwas energischer. Keine Antwort. Hektisch sah ich mich nocheinmal um. Nichts. Unwillkürlich musste ich schlucken. "Das ist nicht witzig. Ehrlich", sprach ich eher zu mir, als zu ihm. Langsam konnte ich diese Stille und die Einsamkeit nicht mehr ertragen. Für Christian war es sicher eine Qual. Hier vier Monate ganz allein herumzulungern, ohne sich an die anderen Farben oder den Geschmack von Schokolade zu erinnern, wäre unerträglich. Allerdings hatte mir Christian schon mitgeteilt, dass sich sein Körper irgendwie den Bedingungen der Zwischenwelt anpasste und er dadurch nie Hunger bekam. Diese Welt war außergewöhnlich.
"Ich weiß", antwortete eine ruhige Stimme auf meine Frage. Augenblicklich fiel mir ein Stein vom Herzen. Er war noch hier.
"Verdammt, wo warst du? Tu das bitte nie wieder!", ermahnte ich ihn, ohne mich umzudrehen. Er legte mir sanft eine Hand auf die Schulter. Etwas zu sanft. Schon merkwürdig, was die Zeit, die man hier verbrachte, ausmachen konnte.
"Versprochen! Ich war nur vor dem Tor zur Welt der Toten. Du kannst es nicht sehen und alle die es gerade berühren auch nicht", erwiderte er. Auffälligerweise schwang ein Ton von Mitleid in seiner Stimme mit.
"Heißt das etwa, dass wir nicht allein sind? Ok, das ist mir neu", entgegnete ich und legte meine Hand auf die seine, die auf meiner Schulter ruhte. Sie fühlte sich seltsam dünn an. So kraftlos! Und außerdem fühlte ich mich unwohl, bei dem Gedanken, dass wir gerade von anderen untoten Geschöpfen beobachtet wurden.
Ich schob seine Hand weg und drehte mich langsam zu ihm um, damit ich ihn ansehen konnte. Als ich ihn schließlich zu Gesicht bekam, zuckte ich unwillkürlich zusammen, denn an seinem Aussehen hatte sich etwas verändert, sodass mir die brenzlige Lage der Situation langsam bewusst wurde.

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