35. Unschuldiges Blut
Um mich herum war das Chaos ausgebrochen. Ich hörte abwechselndes Kreischen und Knallen, ich sah Lichter vor meinem inneren Auge aufblitzen und erlöschen und ich spürte meinen Kopf in einem gleichbleibenden Takt gegen etwas Hartes schlagen, als würde ich immerzu gegen eine Wand rennen, meine pochende Schädeldecke ignorierend.
Mit einem kraftlosen Stöhnen öffnete ich die Augen. Die Zimmerdecke über mir schien hin und her zu tanzen, sodass mir ganz schwindelig wurde. Sofort verspürte ich den Drang, mich zu übergeben, doch es war nur ein gequältes Husten, das meinem trockenen Hals entfuhr.
Ich blinzelte heftig, damit sich meine Augen an die Dunkelheit und das flackernde Licht gewöhnen konnten. Dann fiel mein Blick endlich auf das besorgte Gesicht über mir. Christian! Er hatte mich wahrscheinlich im Gang gefunden, nachdem... nachdem ich angegriffen wurde. Die Erinnerungen stürzten auf mich ein wie ein Wasserfall, sodass ich Mühe hatte, sie zu ordnen. Ich war der Spur des Schattens gefolgt, hatte versucht, ihn mit meinem Feuer zu bezwingen und verloren, als er mir seine Schattenklinge in den Bauch gerammt hatte.
Unwillkürlich ließ ich meine Hand zu der Stelle wandern, an der sich das Loch in meinem Kleid befand, doch abgesehen von einer feinen Narbe aus Schorf, war dort nichts. Kein Blut, kein Schmerz, als hätte die Begegnung mit dem Schatten niemals stattgefunden. Doch das hatte sie. Ich hatte es eindeutig gespürt. Wie ich diesen schmerzfreien Tod gestorben war. Und diese Leere danach.
Alles was ich jetzt noch spürte, waren Christians starke Arme unter meinen Kniekehlen und meinem Rücken, die mich mit jedem weiteren Schritt an sich pressten. Als hätte er Angst, mich zu verlieren, wenn er den Griff auch nur eine Sekunde lockerte.
"Christian?", wisperte ich fragend, wie um mich zu vergewissern, dass tatsächlich er es war, der mich durch die Gegend trug.
"Ja, ich bin hier."
"Wo sind wir?"
"Immer noch im Krankenflügel."
Ich ließ meinen Blick müde umherschweifen. Im Licht der aufflackernden Silvesterknaller erkannte ich die Umrisse der Glastür im Krankenflügel, auf die Christian nun zusteuerte und drückte seine Hand.
"Ich weiß, dass du mir nicht glauben wirst, aber mir fehlt nichts. Ich bin nicht verletzt, sondern nur ein bisschen benommen. Das heißt, du kannst mich runterlassen", forderte ich ihn auf und merkte zeitgleich, dass ich die Wahrheit sagte. Diese Leere in mir ließ keinen Platz für Schmerzen, nur für die Müdigkeit.
Doch Christian tat nichts der gleichen und stieß mit einem Luftstoß die Glastür auf, bevor er auf das Büro der Heilerinnen zurannte. Auch die nächste Tür knallte gegen die Wand, als Christian in den Raum hastete und aprupt stoppte. Als ich den Kopf wandte, wusste ich auch warum. Vor uns stand Grace, welche die Heilerin vor sich gewaltsam an den Schultern gepackt hatte und uns nun mit einer Mischung aus Panik und Verzweiflung ansah. Dabei fiel mir auf, dass sie an der Schläfe über ihrem rechten Auge eine blutige Platzwunde trug und rund um ihren Hals ein dunkelblauer Abdruck prangte... als hätte sie jemand gewürgt.
Sie ließ die Heilerin los und schob eine Haarpartie über die Platzwunde, doch es war zu spät. Christian und ich hatten ihren Zustand bereits bemerkt. Und da war noch etwas. An ihren Haarspitzen klebte etwas Schwarzes, das im fahlen Licht der Deckenlampe glänzte: Schattenessenz.
"Um Sie kümmere ich mich später!", sagte die Heilerin an Grace gewandt und warf ihr, zusätzlich zu einer Verbandsrolle, einen warnenden Blick zu, sollte sie es je wieder wagen, handgreiflich zu werden. Dann befahl sie Christian, ihr zu folgen und führte uns in einen Behandlungsraum, wo mich Christian endlich auf einer Liege absetzte. Die Heilerin nahm auf einem Stuhl neben der Liege Platz und bat Christian, ihr zu erzählen was passiert war.
Er erzählte, wie er mich am Ende des Ganges gefunden hatte, während der Schatten sich über meinen bewusstlosen Körper beugte, und wie er ihn mit Feuerbällen davon gejagt hatte. Dass dies nicht die Wahrheit war, wusste ich sofort. Hätte er mit angesehen, wie ich zu Boden gegangen war, wäre mir das aufgefallen. Doch außer mir und dem Schatten war niemand im Gang gewesen. Er konnte mich erst entdeckt haben, nachdem der Schatten verschwunden war. Aber warum log er deswegen?
Die Heilerin untersuchte die Narbe, die vom Einschnitt des Schwertes geblieben war und ließ behutsam ihre mit Wasser ummantelten Hand über die Stichstelle gleiten. Als sie mich fragte, ob ich Beschwerden hätte, schüttelte ich wahrheitsgemäß mit dem Kopf, was sie mit einem zustimmenden Kopfnicken quittierte.
"Dein Körper ist vollkommen gesund. Ich kann zumindest keine auffälligen Befunde feststellen. Allerdings frage ich mich dann, warum Sie beide", sie wandte sich nun auch Christian zu, "es für nötig halten, mir meinen Silvesterabend zu ruinieren."
Christian wollte zu einer empörten Antwort ansetzen, doch die Heilerin winkte bereits ab. "Ich würde das Ganze als lächerlichen Streich abtun, hätte diese australische Austauschschülerin unabhängig von ihnen nicht genau aus dem gleichen Grund mein Büro betreten. Sie meinte ebenfalls, dass sich ein Schatten in der Akademie herumtreibt und wollte, dass ich ihre Wunden schnellstens behandle." Sie machte eine kurze Pause und seufzte gedehnt. "Ich werde wohl erst einmal die Schulleitung informieren müssen", fügte sie hinzu und richtete sich auf. "Ihr seid entlassen."
Doch Christian, der seltsamerweise noch seine Jacke trug, obwohl es im Behandlungsraum angenehm warm war, packte die Heilerin grob am Arm. "Der Schatten hat in dieser Nacht nicht nur einmal zugeschlagen. Er hatte noch jemand anderen auf dem Gewissen", sagte er und sein besorgter Blick dabei jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Mir war bereits bewusst, von wem er sprach, bevor er seinen Namen laut nannte.
"Bevor Sie die Schulleitung alarmieren, schicken Sie eine Heilerin in das Krankenzimmer von Cyan Satahari", forderte er sie auf. Die Heilerin erstarrte für einen Moment. Dann befreite sie sich mit einem entschlossenen Blick aus seinem Griff, nickte aber leicht, bevor sie das Krankenzimmer verließ. Dabei wäre sie fast mit Grace zusammengestoßen, die vor der geschlossenen Zimmertür gewartet hatte. Die Heilerin stoppte. "Was Sie heute getan haben, wird ein Nachspiel haben", sagte sie leise, aber laut genug, dass auch Christian und ich sie verstehen konnten. Dann rauschte sie davon.
Christian betrachtete mich einen Augenblick lang nachdenklich, als ich mich langsam von der Liege erhob. Ich las die Besorgnis in seinen Augen und trat auf ihn zu, um seine Hand zu nehmen.
"Mach dir bitte keine Sorgen um mich. Es ist nichts passiert."
"Danach sah es aber nicht aus", sagte er bitter, ließ aber zu, dass ich seine Hand zur Beruhigung drückte.
Eigentlich hatte ich ihn fragen wollen, was er wirklich gesehen hatte, als er mich im Gang fand, doch als mir bewusst wurde, dass uns Grace noch immer vom Türrahmen aus beobachtete, schluckte ich die Frage hinunter. Ihre Wunden schrien förmlich nach Antworten.
"Wie ist das passiert?", wollte ich wissen, wobei ich mich um einen harten Tonfall bemühte, und deutete auf die Würgemale. Ich spürte, wie sich Christian neben mir anspannte. Durch seine Verbindung zu Grace wusste er vielleicht bereits mehr als ich.
Grace schnaubte herausfordernd. "Das geht euch nichts an", schoss sie zurück. Als sie ihre Hand hob, um sich zu versichern, dass die Haarsträhne noch die Platzwunde verdeckte, bemerkte ich allerdings, dass sie zitterte.
"Ich denke sehr wohl, dass mich das etwas angeht", entgegnete ich und machte einen Schritt auf sie zu. "Wir beide sind die einzigen, die den Schatten in dieser Nacht gesehen haben. Ich gehe davon aus, dass du neugierig bist, wie meine Begegnung mit ihm abgelaufen ist, sonst hättest du uns nicht durch die Tür hindurch belauscht. Ich werde dir die Wahrheit verraten, wenn du mir deine erzählst."
Grace presste die Lippen aufeinander, scheinbar erbost darüber, dass ich ihre Absichten enthüllt hatte. Doch dann brach sie das Schweigen.
"Ich habe den Schatten gespürt, als ich die Treppe nach unten gegangen bin, um mir das Feuerwerk anzusehen. Ich hatte meinen menschlichen Körper für eine Weile verlassen, damit er mir für den heutigen Abend zur Verfügung steht."
Durch meine Hand lief ein warmes Kribbeln, als Grace den Satz beendet hatte. Es ging von Christians Hand aus, weshalb ich ihm einen schnellen Seitenblick zuwarf. Er erkannte das Fragezeichen darin und nickte kaum merklich. Das Kribbeln sollte ein Zeichen für mich sein, an dem ich erkannte, ob Grace die Wahrheit sprach.
"Am Treppenabsatz im Erdgeschoss bin ich stehen geblieben, weil sich etwas in der Dunkelheit bewegt hat. Ich bin in den Gang gegangen, um nachzusehen. Kurz darauf kam der Schatten seitlich auf mich zugeschossen und hat mich gegen die Wand geschleudert. Daher die Platzwunde", erklärte sie und schob die Haare endlich zur Seite, damit wir einen Blick auf die Wunde erhaschen konnten, aus der noch immer Blut sickerte, dass ihre wunderschönen mondscheinblonden Haare rötlich färbte. Christian sandte erneut einen Schwall Wärme durch seine Hand.
"Dann hat er mich an der Kehle gepackt, mich von den Füßen gehoben und mir gesagt, dass er mich töten wird, wenn ich jemandem erzähle, dass ich ihn in dieser Nacht gesehen habe. Ich habe es versprochen und daraufhin ist er die Treppe hochgegangen."
Ich wartete auf ein Zeichen von Christian, doch bevor das bestätigende Kribbeln erfolgte, lachte Grace amüsiert auf. "Christian muss sich nicht die Mühe machen, dir durch irgendwelche Signale mitzuteilen, ob ich die Wahrheit sage. Du weißt doch insgeheim selbst, dass es stimmt."
Gern hätte ich ihr widersprochen, aber sie hatte recht. Ihre Antworten ließen sehr viel Freiraum zur Interpretation, aber sie waren korrekt. Also wurde es Zeit, die richtigen Fragen zu stellen.
"War das das Einzige, was der Schatten wollte?"
Grace' Mundwinkel kräuselten sich. "Ja", erwiderte sie, wie aus der Pistole geschossen. Meine Fingerspitzen kribbelten warm.
"Warum bist du dem Schatten in den Gang gefolgt?", fragte Christian hinter mir.
"Ich wollte ihn davon abhalten, jemanden zu töten." Wieder kribbelte es in meinen Fingerspitzen. Doch diese Antwort bewies überhaupt nichts. Grace könnte dem Schatten auch als Komplizin befohlen haben, niemanden umzubringen, da es ihre Pläne zerstören würde. Ich musste etwas anderes fragen. Etwas, aus dem sich klar erkennen ließ, in welcher Beziehung Grace zu dem Schatten stand. Und die Frage durfte keinerlei Möglichkeiten zum Ausschweifen bieten.
"Eine noch", bat ich, was Grace ein Augenrollen entlockte.
"Du wirst nichts finden, was mich als Spion entlarvt", entgegnete Grace und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Wortwahl allein war schon auffallend unspezifisch. Sie hätte direkt sagen können, dass sie nicht der Spion war. Doch dann hätte Christian aus diesen Worten sofort entnehmen können, ob sie log oder nicht. Sie vermied diese Aussage also gekonnt, um Christians Lügendetektor zu umgehen. Das allein machte sie bereits verdächtig. Dennoch benötigte ich diese letzte Frage, um mir sicher zu sein.
Mein Blick bohrte sich in ihren. "Wie lange kennst du den Schatten schon?"
Grace stockte und setzte einen Atemzug aus. Auch Christian schien für eine Sekunde den Atem anzuhalten.
"Ich kenne diesen Schatten nicht!", zischte Grace und stellte sich aufrecht hin. Gleich darauf biss sie sich auf die Lippe. Sie war mitten in die Falle getappt, die ich ihr gestellt hatte. Meine Frage war darauf ausgelegt gewesen, eine Zeitspanne zu nennen. Grace hatte sie über das Wort kennen umgehen wollen, da ich nicht genau definiert hatte, ab welchem Zeitpunkt man behaupten konnte, eine Person zu kennen. Dabei hatte sie eine direkte Aussage benutzt, die Christian sofort als richtig oder falsch identifizieren konnte.
"Gelogen", berichtete Christian gelassen und zog triumphierend eine Augenbraue hoch.
Grace schnaubte. "Deine Fähigkeit ist lückenhaft, Christian!", beschuldigte sie ihn und zwang sich offenbar selbst zur Beruhigung.
Auf meinen Lippen breitete sich ein Lächeln aus. "So wie deine Erzählung", gab ich zurück. "Wir können leicht testen, ob du die Wahrheit sprichst oder nicht. Sag uns einfach, wie lange du den Schatten kennst", forderte ich sie auf und warf ihr einen erwartungsvollen Blick zu. Die Information über den Schüleraustausch war vor einem halben Jahr öffentlich gemacht worden. Der Schatten war das erste Mal vor zwei Monaten aufgetaucht, als ich Lizzy und Cyan in der Besenkammer erwischt hatte. Es könnte natürlich sein, dass der Schatten vor jenem Abend schon einmal auf Grace getroffen war, aber eine Bekanntschaft vor diesem Zeitpunkt könnte sie als Spionin entlarven.
"Das werde ich nicht", stellte Grace aufgebracht fest. Dann zwang sie sich zur Ruhe. "Ich kann euch nicht sagen, ob ich der Spion bin oder nicht. Das müsst ihr selbst herausfinden." Ihr Blick traf meinen und er wirkte beinahe flehend, bevor sie sich umdrehte und den Behandlungsraum verließ.
Christian und ich blieben zurück. Er raufte sich die Haare und stützte sich mit den Unterarmen gegen die Wand. "Ich dachte wirklich, du hättest sie. Die Antwort auf unsere Frage. Ich dachte, wir hätten endlich den Beweis, dass sie der Spion ist", sagte Christian frustriert und seufzte tonlos.
"Aber den haben wir doch fast", stutzte ich und näherte mich Christian von der Seite. "Sie hat es quasi zugegeben. Du hast es doch selbst gespürt durch deine Geisterfähigkeiten, also lass dich nicht von ihrer Schauspielkunst ablenken", mahnte ich ihn. Aber Christian schüttelte heftig mit dem Kopf.
"Ich dachte auch, dass wir sie entlarvt hätten. Aber sie sagte zum Schluss, dass sie uns nicht sagen kann, ob sie der Spion ist oder nicht." Er machte eine kurze Pause. "Da hat sie die Wahrheit gesagt."
"Na und? Das heißt doch nur, dass sie es uns nicht sagen will", meinte ich verärgert. "Sie will dich manipulieren, merkst du das nicht?"
"Ja, das dachte ich auch zuerst. Aber sie hat absichtlich kann gesagt, nicht will und meine Fähigkeit reagiert auf jedes Wort. Grace wusste das und hat es ausgenutzt, um mir damit etwas mitzuteilen." Er stieß sich von der Wand ab und machte eine Pause, um mir Zeit zu geben, über das nachzudenken, was er gesagt hatte.
"Dass sie wirklich nicht dazu in der Lage ist, es uns zu sagen", murmelte ich schließlich langsam, woraufhin Christian bestätigend nickte.
"Sie hat dir wahrheitsgemäß gesagt, wie ihre Begegnung mit dem Schatten abgelaufen ist und sie hat der Heilerin sofort erzählt, dass in der Akademie ein Schatten frei herumläuft. Hätte sie jemandem ernsthaft schaden wollen, dann hätte sie das nicht getan", argumentierte er. "Deshalb... glaube ich nicht, dass sie böse Absichten hat."
"Ihre Erzählung war lückenhaft und der Heilerin von diesem Schatten zu erzählen, könnte auch ein Alibi gewesen sein, damit ihr niemand nachsagen kann, sie hätte nichts unternommen, um ihn aufzuhalten. Außerdem sagte sie, sie könne uns nicht sagen, ob sie der Spion ist oder nicht, was keine der beiden Möglichkeiten ausschließt", hielt ich dagegen. Mein Blick glitt zurück zur Tür, wie um mich zu versichern, dass sie wirklich nicht mehr im Rahmen lehnte und uns belauschte. Tatsächlich ging mir jedoch ihr flehender Blick nicht aus dem Kopf, den sie mir zugeworfen hatte, kurz bevor sie gegangen war.
"Möglicherweise hast du recht und sie ist es wirklich nicht", gab ich zu bedenken und ließ mich erschöpft auf den Stuhl neben der Liege sinken. "Aber selbst, wenn sie es nicht ist, dann hat sie trotzdem etwas zu verbergen, dass uns bei den Ermittlungen von Vorteil sein könnte. Jedenfalls scheint sie mehr zu wissen, als sie zugibt", erinnerte ich ihn. "Du hast doch eine Verbindung zu ihr. Warum kannst du nicht einfach ihre Gedanken lesen, so wie sie deine liest?"
Christian presste die Lippen aufeinander. "Weil sie mich ihre Gedanken nicht lesen lässt", gab er zu und wich meinem Blick aus.
Ich lachte gezwungen auf. "Und das reicht dir nicht als Indiz dafür, dass sie uns etwas verschweigt?", fragte ich ungläubig und warf die Arme in die Luft. "Sie mag vielleicht nicht der Spion sein, aber sie könnte mit ihm zusammenarbeiten und das macht sie mindestens genauso gefährlich wie den Spion selbst. Und ich bin mir hundertprozentig sicher, dass sie seine Pläne kennt. Ich bin dafür, dass wir sie im Auge behalten. Vielleicht führt sie uns direkt zum echten Spion."
Christian schlug die Arme über dem Kopf zusammen. "Okay", stimmte er schließlich zu. "Wir werden herausfinden, wieviel sie weiß, damit du endlich Ruhe gibst." Daraufhin lehnte ich mich zufrieden in meinem Stuhl zurück. Er blieb jedoch in der Mitte des Raumes stehen, was mich verwundert eine Augenbraue heben ließ. Dann tastete er nach etwas, das er unter seiner Jacke verborgen hielt. Deswegen also, hatte er sie nicht ausgezogen, obwohl es im Zimmer unerträglich warm war.
Als er den Gegenstand unter der Jacke hervorzog, erstarrte ich. Es war das Schwert, das der Schatten in meinem Körper versenkt hatte, kurz bevor ich bewusstlos wurde. Das Schwert, von dem ich ausgegangen war, dass es mein Tod sein würde.
"Wieso hast du das?", fragte ich lauter als beabsichtigt und konnte nicht verhindern, dass meine Stimme dabei leicht zitterte. Am liebsten wäre ich auf meinem Stuhl zurückgewichen, denn schon ein einziger Blick auf das Schwert ließ mir das Blut in den Adern gefrieren, als wäre die Temperatur im Behandlungsraum in den Minus-Bereich gesunken.
Christian wendete das Schwert geschickt auf seinen Handballen, bevor er antwortete: "Als ich den Krankenflügel betrat, lagst du bereits bewusstlos am Boden und der Schatten war nirgends zu sehen. Für einen kurzen Moment glaubte ich, er hätte dich dort zum Sterben zurückgelassen und wäre zum wiederholten Male entkommen, doch noch bevor ich dich erreichen konnte, kam er aus Cyans Krankenzimmer gestolpert. Und dieses Kurzschwert", Christian packte die Waffe am Knauf und hielt sie vor seinen Körper, damit ich sie genauer betrachten konnte, "hielt er dabei in seiner Hand." Er ließ seinen Blick über die nachtschwarze Schneide gleiten, deren Spitze in ein dunkles Rot getaucht war. Ich schluckte schwer. Mit dieser Klinge war heute Nacht das Blut eines Unschuldigen vergossen worden.
Kurz wandte ich den Blick ab, unfähig etwas zu sagen, weil ich mich für diesen gewaltsamen Akt verantwortlich fühlte. Ich wusste sofort, dass der Schatten es auf Cyan abgesehen hatte, aber es war mir nicht gelungen, ihn von seinem Plan abzuhalten. Ich hatte zugelassen, dass er zuerst mich und anschließend Cyan in die Finsternis stürzte, weil ich zu schwach gewesen war. Wieder einmal.
"Es ist das gleiche Schwert", murmelte ich leise, da Christian noch immer nicht wusste, was vor seinem Eintreffen im Krankenflügel wirklich passiert war. "Cyan war noch nicht tot. Es bestand eine winzige Chance, dass er sich erholen und ein Detail über den Angriff am Tag des Winterballs offenbaren könnte. Womöglich hat er den Angreifer anders als Lizzy sogar gesehen und hätte die Identität des Spions aufdecken können, wenn er aus dem Koma erwacht wäre. Als ich den Schatten unweit seines Behandlungsraums einholte, war mir sofort klar, dass er vorhatte, Cyan zum Schweigen zu bringen, damit dieses Detail gemeinsam mit ihm sterben würde."
Ich fing Christians besorgten Blick auf, als er sich mir gegenüber auf die Krankenliege setzte, konnte ihm aber nicht standhalten, als ich fortfuhr. "In der Dunkelheit war ich ihm schutzlos ausgeliefert. Ich brauchte meine Flammen zur Verteidigung, während er von der Finsternis um sich herum Gebrauch nehmen konnte. Und als ich meinen Schild nicht länger halten konnte, zog er das Schwert und..."
Ich stoppte, als meine Hand unwillkürlich zu der Stelle glitt, an der mich die Schwertspitze des Schattens getroffen hatte. Da war kein Schmerz, nur ein dumpfes Pochen, welches mir bestätigte, dass die Begegnung mit dem Feind real gewesen war. Und dass ich dem Tod nur knapp entronnen sein konnte.
"Es wirkte, als würde er den tödlichen Schlag ausführen wollen und trotzdem hast du seinen Angriff mit dem Schwert ohne bleibende Schäden überstanden, während Cyan mit seinem Leben bezahlen musste", sprach Christian aus, wovor ich zurückgeschreckt war. Nachdenklich drehte er das Kurzschwert ein weiteres Mal in seinen Handflächen, wobei Cyans Blut Spuren auf Christians makellosen Händen hinterließ. Dabei fiel mir auf, dass es kein Blut hätte sein sollen, dass dieser Klinge anhaftete.
"Da war diese Flüssigkeit", rief ich und sprang hastig vom Stuhl auf, als mir der Grund für meine Unversehrtheit klar wurde. "Kurz bevor er mir das Schwert in den Bauch rammte, überzog der Schatten die Schneide mit einer silbrigen Substanz. Es muss irgendeine Art Gift gewesen sein, um zu verhindern, dass ich durch den Schwerthieb sterbe und der Avatar-Zyklus von Neuem einsetzt."
Mir musste die Verzweiflung deutlich ins Gesicht geschrieben stehen. Zurecht, denn die Schatten waren Meister der Gifte und viele ihrer Tinkturen waren nicht einmal namentlich in den Aufzeichnungen der Elementbändiger aufgelistet, sodass ich mit Sicherheit erst von der Wirkung dieses Giftes erfahren würde, wenn sie eintraf. Doch jegliche Verzweiflung in meinem Gesicht war nichts gegen den panischen Ausdruck, der sich nun auf Christians Gesicht ausbreitete. Er hielt den Blick auf das Schwert gesenkt, wich meinem absichtlich aus. Denn das, was er so eben herausgefunden hatte, würde nicht zu meiner Beruhigung beitragen.
Ich wartete darauf, dass er sich erklärte, doch als Antwort hielt er mir das Schwert entgegen, dass er so ausgiebig analysiert hatte. Ich zögerte, es entgegen zu nehmen, also beugte ich mich herunter und kniff die Augen zusammen, als ich erkannte, was Christian mir zeigen wollte. Auf der schwarzen Schneide stand in winzigen hauchdünnen Lettern eine weiße Inschrift, die zuvor halb von Cyans Blut verdeckt gewesen war. Eine Inschrift auf Latein.
Christian bemerkte anscheinend, dass ich Schwierigkeiten hatte, die Buchstaben zu übersetzen, weshalb er die Lettern mit dem Finger nachfuhr, während er vorlas: "Der Fluch wird nicht mehr bestehen und die Waffe wird solange unter der Erde liegen, bis eine Person mit reinem Herzen Gebrauch von ihr verlangt."
Sein Blick suchte meinen, während ich mich kraftlos auf meinen Stuhl zurücksinken ließ. Diese Worte... Es waren meine.
Vor einem knappen Jahr hatte ich den Schattenclan neben der Ruine im angrenzenden Waldgebiet vernichtet. Ich war zuvor vom Gift des Schattenherrn in den Avatar-Zustand gezwungen worden, während Christian sich einen Kampf mit dem obersten Schatten geliefert hatte, um Zeit zu gewinnen, sodass ich mich von der Wirkung des Giftes losreißen konnte. Er hatte mir das Leben gerettet und seins dafür gegeben, als er durch die Waffe des Schattenherrn tödlich verletzt worden war. Doch es war keine gewöhnliche Waffe, sondern ein Kurzschwert, das der Schattenherr zuvor mit einem weiteren Gift versehen hatte. Als ich aus dem Avatarzustand erwacht war, konnte ich Christian nicht mehr helfen, doch die Waffe des Schattenherrn konnte ich an mich bringen und neutralisieren, indem ich die Worte aussprach, die nun die Schneide des Schwertes zierten. Der Fluch wird nicht mehr bestehen und die Waffe wird solange unter der Erde liegen, bis eine Person mit reinem Herzen Gebrauch von ihr verlangt.
Das Kurzschwert, mit dem der Schatten Cyan und mich heute angegriffen hatte, war die selbe Waffe, durch die Christian damals seinen Nahtod erfahren hatte, bevor ich sie vermeintlich unter der Erde eingeschlossen hatte. Der Schattenspion hatte sich die Fähigkeit des Schwertes, den Gegner im Kampf zu vergiften, zu Nutze machen wollen und musste sie irgendwie am Schattentempel ausgegraben haben. Damit würde sich auch das Motiv des Angreifers erklären. Rache für die Mitglieder des Clans, die ich ohne Gnade ausgelöscht hatte.
Blieb nur noch die Frage zu klären, wie der Schatten an die Waffe gelangt war. Immerhin hatte ich nicht umsonst die Bedingung gestellt, dass derjenige, der das Schwert ausgraben konnte, ein reines Herz besitzen musste. Und ein Schatten, der auf Rache sinnte, zählte definitiv nicht dazu, was bedeutete, dass es ihm jemand anderes beschaffen haben musste. Da wir es offenbar mit zwei Spionen zu tun hatten, wäre es möglich, dass der Partner des Schattens dazu im Stande war, die Waffe zurück an die Oberfläche zu holen. Aber auch das schien mir ziemlich unwahrscheinlich.
Christian beobachtete mich dabei, wie ich mir mit den Händen die Schläfen massierte, als ich versuchte, die vielen Fragen zu klären, die mir durch den Kopf schwirrten. Wir waren den Spionen in dieser Nacht ein Stückchen näher gekommen. Wir kannten das Motiv des Schattens und hatten ihm seine Waffe abnehmen können. Dennoch konnte ich mir noch immer nicht erklären, wie das ganze mit den Austauschschülern zusammenhing und inwiefern sich diese Rache äußern würde. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass uns nicht mehr viel Zeit bleiben würde, es herauszufinden.
"Ich nehme an, du bist zu dem gleichen Schluss gekommen wie ich", meldete sich Christian wieder zu Wort. Die Stille war ihm anscheinend genauso bedrückend vorgekommen wie mir. "Was werden wir mit diesen Informationen anfangen?"
Kurz war ich gewillt, ihm ehrlich zu antworten und zu sagen, dass ich es auch nicht wusste. Dann atmete ich tief durch und ließ meinen Blick zur Tür schweifen. "Erst einmal behalten wir Grace im Auge. Ich will genau wissen, wo und wann sie sich herum treibt. Insbesondere die Möglichkeit, ihren Menschenkörper zu verlassen, verleiht ihr uns gegenüber einen bedeutenden Vorteil und ich zweifle nicht daran, dass sie ihn für ihre eigenen Ziele einzusetzen weiß."
Christian zog die Augenbrauen zusammen. "Ich nehme an, diese Aufgabe fällt mir zu, da ich durch den Seelenbund an sie gebunden bin und ihre Lügen erkennen kann."
Ich neigte leicht den Kopf. "Ich weiß, dass du dabei ein schlechtes Gewissen hast, weil noch immer die Möglichkeit besteht, dass sie unschuldig ist. Aber wir müssen jeden als potenziellen Täter in Betracht ziehen, bevor es zu weiteren Morden kommt", erinnerte ich ihn.
Christian sah von meinen Plänen nicht begeistert aus, sagte aber nichts, als ich noch hinzufügte: "Von dem Schwert darf sie nichts erfahren. Verschließe deine Gedanken vor ihr. Wenn sie versucht, in deinen Kopf einzudringen, versuch sie irgendwie abzuwehren. Wir dürfen nichts riskieren, bevor es keine Beweise für ihre Unschuld gibt."
"Und was passiert mit dem Schwert?", warf Christian ein. Ich zögerte kurz. Es wäre sicherlich das Beste, wenn ich es an einen sicheren Ort bringen würde. Immerhin hatte der Spion auch eine Möglichkeit gefunden, das Hexenbrett wieder in seinen Besitz zu bringen und das durfte uns mit dem Schwert nicht noch einmal passieren. Zumal uns die Waffe eventuell noch zu einigen Erkenntnissen verhelfen könnte. Doch der Blick auf das blutige Schwert schnürte mir die Kehle zu. Ich konnte es nicht einmal ansehen, geschweige denn berühren.
"Können wir es gemeinsam irgendwo verstecken, wo es niemand findet?", bat ich ihn mit einem flehenden Blick, in der Hoffnung, er würde verstehen, warum ich diese Aufgabe ungern allein übernehmen wollte. Christian nickte verständnisvoll und erhob sich von der Krankenliege. Er steuerte auf den großen weißen Schrank an der Wand zu und riss die Holztüren auf. Darin lag ein Stapel Decken in verschiedenen Farben. Christian wählte eine dunkle Decke aus und sagte: "Ich möchte nicht unbedingt mit einer blutbeschmierten Waffe am Tatort erwischt werden." Dann wickelte er das Kurzschwert behutsam in den Stoff ein und ließ es unter seiner Jacke verschwinden. Meiner Ansicht nach war es bereits auffällig genug, wie sich die Jacke über seiner Brust wölbte, doch ich vermied es, dies zu kommentieren.
Dazu wäre ich ohnehin nicht gekommen, da in diesem Moment ein spitzer Aufschrei auf dem Gang zu hören war. Christian und ich tauschten alarmierte Blicke. Keine Sekunde später waren wir beide an der Tür und richteten unseren Blick auf die Person, die den Schrei ausgestoßen hatte. Lizzy hatte ihre zitternden Hände in den Türrahmen von Cyans Krankenzimmer gekrallt, den Blick auf die Gräueltat gerichtet, die Cyan angetan wurde. Ihr Oberkörper wippte im Takt ihrer Schluchzer, während sie kraftlos auf die Knie fiel.
Als ich Anstalten machte, auf sie zuzugehen, hielt Christian mich am Arm zurück. Ich warf ihm über die Schulter einen fragenden Blick zu.
"Es wäre besser, wenn du nicht dorthin gehst", riet er mir mit ernster Stimme. "Das was Lizzy in diesem Moment sieht, sollte niemals jemand in seinem Leben erblicken müssen."
Als wir kurz darauf den Krankenflügel verließen, war ich nicht zu Lizzy gegangen, um sie zu trösten. Allein der Schock, der sich auf Christians Gesicht abgezeichnet hatte, war Hinweis genug, wie qualvoll Cyan in dieser Silvesternacht gestorben war. In dieser Nacht des Neuanfangs hatte er sein Ende gefunden.
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