31. Der Winterball

Hinweis: Dieses Kapitel könnte eventuell lang sein ^^

Eric war ein ausgezeichneter Tänzer. In seinen Armen fühlte ich mich nicht ganz so sehr wie der Trampel, der ich früher einmal gewesen war und irgendwie tat ich auch nicht so viele Fehlschritte wie ich anfangs befürchtet hatte. Das lag jedoch bestimmt nur daran, dass Eric mir zwischen jedem zweiten Takt zuflüsterte, wo ich meinen Fuß hinsetzen sollte.

Doch nachdem ich zwei Durchgänge des Grundschrittes getanzt hatte, schwebten meine Füße schon wie von selbst über das Parkett. Und als ich Erics verblüfftes Strahlen bemerkte, konnte ich nicht anders, als es zu erwidern. Und so tanzten wir. Tanzten und vergaßen die starrenden Schüler, die uns beneidete Blicke zuwarfen, wenn wir an ihnen vorbeiglitten. Tanzten und vergaßen uns selbst in einem Moment, den wir sicher nie vergessen würden.

Nur einmal wanderte mein Blick über Erics Schulter zu Christian und Grace. Sofort ärgerte ich mich über Grace aufrechte Haltung und die Tatsache, dass sie mit den Tanzschritten offenbar viel besser zurecht kam, als ich. Aber ich brauchte nicht eifersüchtig zu sein, denn es war die richtige Entscheidung gewesen, Eric zuzusagen. Eric, der mich frei heraus gefragt hatte und der mir leid getan hätte, wenn ich mich für Christian anstatt für ihn entschieden hätte. So glaubte ich jedenfalls.

Als das Lied endete, ertönte tosender Beifall. Doch ich nahm ihn nur am Rande wahr, denn als ich Erics Lächeln erwiderte, verlor ich mich in dem Ozean seiner wunderschönen blauen Augen. Einen Moment lang starrten wir einander an, unfähig irgendetwas zu sagen, weil es für das, was wir zu sagen hätten, keine Worte gab. Und als ich den Applaus und unsere Umgebung vollständig ausgeblendet hatte, bemerkte ich, dass Erics Lippen den meinen immer näher gekommen waren. Es dauerte einen Moment, bis ich realisierte, was er beabsichtigte zu tun.

"Danke für den unglaublichen Tanz", sagte ich hastig und zog Eric ohne nachzudenken in eine schnelle Umarmung. Ich merkte allerdings, dass er kurz zögerte, bevor er sie erwiderte.

"Gern geschehen", antwortete seine weiche Stimme schließlich direkt neben meinem Ohr. Einen Moment lang standen wir eng beieinander, doch die Magie, die mich eben noch eingelullt hatte, war verflogen. Ich hätte es ihm sagen müssen. Dass ich mit Christian zusammen war. So aber hatte ich ihm offensichtlich falsche Hoffnungen gemacht und dass es beinahe zu einem Kuss gekommen wäre, hatte ich ebenfalls zu verantworten.

Ich warf einen vorsichtigen Blick zu Christian und betete, dass er dieses kleine Schauspiel nicht mitangesehen hatte. Zum Glück stand er mit dem Rücken zu mir, sodass ich mir ein erleichtertes Ausatmen nicht verkneifen konnte. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was geschehen wäre, wenn Christian uns beobachtet hätte. Sicherlich wäre ich gar nicht erst zum Zug gekommen, das Missverständnis aufzuklären und die Konversation wäre schlimmstenfalls in einem Duell ausgeartet.

Als ich mich von Eric löste, wirkte dieser etwas unsicher, doch sein Lächeln blieb standhaft. Vielleicht war ihm nicht aufgefallen, dass ich versucht hatte, ihn von seinem Vorhaben abzulenken und das, obwohl ich ihm dies nicht deutlicher hätte zeigen können. Dieser Gedanke ließ mich innerlich aufseufzen. Ich sah schon, dass sich dieses Problem nur mit einem Geständnis lösen ließ. Ich musste nur den richtigen Moment abpassen, um ihm die Wahrheit über meine Beziehung mit Christian zu erzählen, denn ich wollte ihn wirklich nicht verletzen.

Eric reichte mir seinen Arm und ich hakte mich bei ihm ein, während wir die Tanzfläche verließen. Als wir unseren Tisch erreichten, wurden wir mit einem weiteren Applaus beehrt, der dafür sorgte, dass sich noch mehr Augenpaare an uns hefteten, als ohnehin schon. Ich spürte, wie ich rot anlief, als ich Kiki bis über beide Ohren grinsen sah.

"Das war großartig", lobte mich Alice und Coral nickte bekräftigend.

"Von wegen du kannst nicht tanzen. Ihr seid geradezu über die Tanzfläche geschwebt!"

Bescheiden strich ich mir eine lose Haarsträhne hinter das Ohr und entgegnete: "Ich denke, es ist Eric, dem der Applaus gebührt. Ohne ihn hätte ich auf der Tanzfläche nicht einen einzigen Tanzschritt zu Stande gebracht. Und er kann wirklich ausgezeichnet führen."

Ich nickte in Erics Richtung und zwang mich zu einem aufrichtigen Lächeln. Bevor Eric jedoch etwas erwidern konnte, war Drew aufgestanden und klopfte meinem Tanzpartner kumpelhaft auf die Schulter. "Sah echt stabil aus, Bro!"

Einen Moment lang herrschte Schweigen an unserem Tisch, dann prusteten Kiki und Coral leise los, sodass nur ich es über den Lärm im Saal hinweg hören konnte.

"Ich schätze mal, dass ist Drews Art zu zeigen, dass er anerkennt, wie gut Eric im Gegensatz zu ihm tanzen kann", flüsterte Kiki und Coral nickte bestätigend, als könnte sie dieser Aussage nur zustimmen. "Damit will er aber eigentlich sagen, dass er selbstverständlich besser tanzen kann", entgegnete Coral und zwinkerte mir zu.

"Kann er das denn tatsächlich?", fragte Kiki grinsend.
"Hmm, besser als Eric kann er es sicherlich nicht. Aber ich wette, dass er besser tanzt, als Sebastian", behauptete Coral.
"Ach ja? Das denke ich nicht. Sebastian schlägt Drew doch um Längen", war sich Kiki sicher.

Eine Sekunde lang schwiegen sie. Dann wandten sie sich an mich. "Was meinst du, Mads?", fragten beide gleichzeitig. Ihre Blicke deuteten mir, ja nichts Falsches zu sagen. Da ich weder wusste, wie Sebastian tanzte, noch wie es mit Drews Tanzkünsten aussah, blieb ich neutral. "Ich denke, dass sie beide gut tanzen können." Und nach einem kurzen Zögern fügte ich hinzu: "Aber wenn ihr es wirklich herausfinden wollt, könntet ihr ja..."

"...wetten", unterbrach mich Coral laut und blickte Kiki herausfordernd an. "Falls Kiki sich das traut."

"...den Partner tauschen", vollendete ich meinen Satz nachträglich und seufzte tief.

"Na klar traue ich mich. Um was wetten wir?", wollte Kiki wissen und während sich meine beiden Freundinnen über die Wettschulden stritten, hatte Eric seine scheinbar irritierende Konversation mit Drew beendet und sich wieder neben mich gesetzt. Dabei lehnte er sich ein Stück zu mir herüber und murmelte leise: "Ich glaube, ich werde mich an die Sitten der Amerikaner nie gewöhnen." Und als ich keine Sekunde später zu meinen streitenden Freundinnen hinübersah, konnte ich mir fast denken, was er meinte.

Nach zwei Stunden hatte ich mich immer noch nicht getraut, Eric die Wahrheit zu sagen. Gute Gelegenheiten hatte es jedoch zur Genüge gegeben. Zum Beispiel bei den Paartänzen, in denen ich hoffnungslos versucht hatte, Eric nicht auf die Füße zu treten oder am Buffet, als wir für den Hauptgang angestanden hatten. Doch irgendwie wusste ich nicht so recht, wie ich es ihm am besten beibringen sollte, da ich nicht nur befürchtete, Eric verletzen zu können, sondern auch, ihn als Freund zu verlieren. Denn mit jemandem befreundet zu sein, bedeutete mir sehr viel.

Während meine Freundinnen und ihre Begleiter zu einem ruhigen Song über das Parkett schwebten, saß ich mit Eric allein am Tisch. Wir hatten zu Beginn der Ballade die Tanzfläche verlassen und seitdem redete Eric munter auf mich ein.

"Du solltest es dir nicht zum Vorwurf machen, dass du die Tanzschritte nicht beherrschst. Du warst super heute und es gibt sicher weniger talentierte Tänzerinnen", meinte er gerade mit einem Augenzwinkern.

"Hmm", äußerte ich mich nur und starrte abwesend aus dem Fenster. Draußen herrschte die Nacht und hatte sich wie ein dunkler Teppich über den Verbotenen Wald gelegt. Der Vollmond war aufgegangen und beleuchtete die Tannen im südlichen Teil des Geländes. Ich wusste nicht wieso, doch wenn ich den Mond anblickte, erkannte ich durch die Schatten der Krater immer ein Gesicht. Ein halb lächelndes Gesicht. Und obwohl mir gerade überhaupt nicht nach Lächeln zu Mute war, konnte ich den Blick nicht von diesem weißen Angesicht lösen. Vielleicht fühlte ich mich nur so vom Mond angezogen, weil er es war, der mir meine Kräfte verlieh.

Eric schien meine Abwesenheit falsch zu interpretieren und legte mir fürsorglich eine Hand auf die Schulter. "Hey, was ziehst du denn für ein Gesicht? Tanzen lernen kann man überall und wenn man es gut kann, macht es wirklich Spaß."

Ich wandte den Blick vom Fenster ab und ließ ihn zu Eric wandern. Dann holte ich tief Luft und schob seine Hand zaghaft von meiner Schulter. "Eric...", sagte ich zögerlich, weil mir tausende Wörter im Kopf umherschwirrten, die niemals das ausgedrückt hätten, was ich eigentlich sagen wollte. Erics Augen wurden groß und seine Miene wirkte auf einmal sehr beschämt.

"Oh, verstehe... das war nicht wirklich aufmunternd oder? Tut mir leid", entschuldigte er sich. Ich schüttelte leicht den Kopf.

"Nein, das ist es nicht", ließ ich ihn wissen und faltete meine Hände verlegen um ein Saftglas. "Es ist nur..." In diesem Moment hätte ich mir ein liebsten mit der Hand ins Gesicht geschlagen, so genervt war ich, mir wieder selbst im Weg zu stehen. Warum konnte ich nicht einfach sagen, was ich dachte? Schnell nahm ich den Faden wieder auf.

"Ich wollte nur sagen... Der Tanz vorhin war wundervoll. Ich hätte niemals gedacht, das ich dazu im Stande bin, einen richtigen Walzer zu tanzen, ohne es vorher geübt zu haben. Das habe ich dir zu verdanken."

Eric lächelte sein charmantes Lächeln, mit dem er einfach nur umwerfend aussah. "Gern geschehen", erwiderte er und blickte mich abwartend an, als ahnte er schon, dass noch etwas kommen würde. Doch bevor ich den Mund zu einem Aber öffnen konnte, traten Coral, Drew, Kiki und Sebastian an unseren Tisch und ließen sich (zumindest Coral und Drew) mit einem Ächzen auf ihren Stühlen nieder. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass das Lied geendet hatte. Nun hielt ich dem Wunsch stand, meinen Kopf auf die Tischplatte zu donnern. Meine Freundinnen kamen immer zu den unpassendsten Momenten zurück. Wie damals, als wir im ersten Schuljahr die Strafarbeit für eine heimliche Party verrichten mussten und Christian mich fast geküsst hätte, wenn Coral nicht in diesem Moment aufgetaucht wäre.

"Oh Gott, ich bin am verdursten", meldete sich Coral sogleich zu Wort, nahm ihr Glas zur Hand und warf einen Blick hinein. Dann ließ sie ihren Blick zu Drew schweifen. "Mann Drew, das war ein Wink mit dem Zaunsfahl."

Drew wandte sich zu Coral um. "Was?"
"Du sollst mir was zu trinken holen!"
"Aber warum denn? Du hast doch selbst zwei Füße."
"Du übrigens auch. Das habe ich bemerkt, nachdem du mir drei Mal auf meinen eigenen getreten bist!"

Drew rollte mit den Augen und erhob sich mit einem Seufzen. "Jungs, steht auf meinem Rücken ein B für Butler?", fragte er, woraufhin er schlagartig grinsen musste. "Kommt wenigstens jemand mit?"

"Wieso? Schaffst du es etwa nicht alleine?", neckte ihn Coral und erwiderte sein Grinsen.

Erics Blick war an mir hängen geblieben. Er hatte beobachtet, wie ich das leere Saftglas in meinen Händen gedreht hatte.
"Ich komme mit. Dann kann ich uns beiden einen Saft mitbringen", antwortete er an mich gewandt. Sebastian stand ebenfalls auf und keine Sekunde später war meine Chance verstrichen, Eric mein Geständnis zu erzählen.

"Mädels, das war echt ein schlechter Zeitpunkt", sagte ich aufgebracht. Die Musik war wieder leiser geworden, sodass wir uns nun in normaler Lautstärke unterhalten konnten.

"Warum? Gings bei euch etwa heiß her?", fragten Coral und Kiki gleichzeitig.

"Nein!", wiedersprach ich sofort. "Aber... Eric hat vorhin nach dem Eröffnungstanz mitten auf der Tanzfläche versucht, mich zu küssen."
Kikis und Corals Augen weiteten sich schlagartig.

"Das hat er nicht", meinte Kiki entsetzt.

"Doch", entgegnete ich und seufzte tief. "Ich habe ihn in letzter Sekunde davon abgehalten. Aber Christian hätte es fast gesehen, wenn er nicht mit dem Rücken zu uns gestanden hätte. Ich fühle mich so schuldbewusst deswegen."

"Weiß Eric etwa nicht, dass du mit Christian zusammen bist?", wollte Coral wissen.

Ich senkte den Blick. "Das ist es ja gerade. Ich habe es ihm noch nicht gesagt."

"WAS?", empörten sich Coral und Kiki wie aus einem Munde.

"Ich war gerade dabei, es ihm zu sagen, bevor ihr gekommen seid. Aber irgendwie finde ich nicht die richtigen Worte", gestand ich und blickte über meine Schulter zum Buffet, wo die drei Jungs sich in eine lange Schlange eingereiht hatten. Offensichtlich waren auch die anderen Schüler vom vielen Tanzen durstig geworden.

"Du musst es ihm einfach ins Gesicht sagen. Ist doch egal, ob du ihn verletzt", fand Coral und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. "Seht ihr? Problem gelöst!" Ich war kurz davor, Coral mitzuteilen, dass es mir nicht egal war, ob Eric von meinen Worten verletzt wurde, doch Kiki sprang schon für mich ein.

"Nein, so wird sie es ihm garantiert nicht sagen. Mads, du musst einfach einen passenden Moment abwarten", schlug sie vor. Erneut war ich kurz davor zu sagen, dass ich das bereits versucht hatte, als Coral sich an Kiki wandte.

"Sie wird es so machen, wie ich es gesagt habe. So ist es am besten."
"Dein Vorschlag ist blöd. Das verletzt ihn nur."
"Vielleicht hat er es ja verdient. Madline wollte nicht von ihm geküsst werden."
"Jetzt komm mal wieder runter, das war nur ein Missverständnis. Er ist voll nett."

Und während sich meine Freundinnen mal wieder ein Wortgefecht lieferten, schweifte mein Blick zum Tisch von Christian. Er saß ganz allein an der Tischecke. Seine Tischnachbarn waren offensichtlich auf der Tanzfläche oder am Buffet. Nur Grace Abwesenheit konnte ich mir nicht erklären. Er sah aus, als bräuchte er Gesellschaft, das verriet mir mein Bauchgefühl. Und vielleicht war es sogar gar nicht so schlecht, zuerst mit Christian statt mit Eric zu reden. Wenn das Missverständnis zwischen mir und Christian geklärt war, war es für mich eventuell leichter, das mit Eric zu klären. Und ich sollte nicht weiter warten bis Christian auf mich zutrat, denn ihn traf nicht so viel Schuld, wie ich versucht hatte, mir einzureden. Ich musste auch einmal den ersten Schritt machen und ich würde garantiert nicht auf meinem Stolz sitzen bleiben und auf ihn warten, wenn ich den Mut hatte, das Problem selbst zu lösen.

"Eure Vorschläge sind lieb gemeint, Mädels. Aber ich glaube ich hole mir lieber Unterstützung von einer dritten Meinung", verkündete ich und erhob mich von meinem Stuhl.

"Doch nicht etwa von Christian", sagte Coral, die meinem Blick offensichtlich gefolgt war. "Der sollte doch wohl eher zu dir angekrochen kommen, als umgekehrt", beharrte sie. Doch ich schüttelte nur den Kopf.

"Ich muss jetzt einfach mal meinem Bauchgefühl vertrauen", erklärte ich, drehte mich um, ließ meine verdutzen Freundinnen zurück und steuerte auf Christian zu. Woher ich auf einmal den ganzen Mut nahm, wusste ich nicht genau. Ich wusste nur, dass es kein Zurück mehr gab.
Zumindest in dem Moment, als ich unsicher vor Christians Tisch stand. Er blickte sofort auf, als ich keine Anstalten machte, irgendetwas zu sagen. Also räusperte ich mich.

"Können wir reden?", fragte ich vorsichtig und wartete gar nicht erst darauf, dass mich Christian zum Setzen aufforderte. Er sollte ruhig sehen, dass ich es ernst meinte. Also ließ ich mich auf dem leeren Stuhl ihm gegenüber nider.

"Ja", schob Christian hastig hinterher, reichlich verspätet. Irgendwie kam mir diese Situation so seltsam vor, dass ich mich erst einmal einen Moment sammeln musste, bevor ich das Gespräch beginnen konnte.

"Du bist mit Grace auf den Ball gegangen", stellte ich fest, um den Grundstein für diese Konversation zu legen. Ich wüsste nicht, wie ich es besser hätte tun sollen. Christian hob eine Augenbraue, als wäre er erstaunt darüber, dass ich ihn direkt darauf ansprach.

"Überrascht dich das? Du bist schließlich mit Eric hier." Als er das sagte, erkannte ich das dies der falsche Ansatz für unser Gespräch gewesen war. Aber das sollte mich wohl weniger kümmern, als die Tatsache, dass er recht hatte. Vor ihm würde ich das allerdings nicht zugeben.

"Ich bin mit Eric zum Ball erschienen, weil du deine Partnerin offensichtlich schon in Grace gefunden hattest", erinnerte ich ihn und konnte meinen eifersüchtigen Unterton nicht verbergen. Christians Mundwinkel zuckten leicht. Bevor ich mich fragen konnte, was das nun wieder bedeuten sollte, zeichnete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht ab. Zumindest war es das, was ich glaubte zu sehen. Vielleicht stand ich aber auch einer Illusion gegenüber, die sich gerade über mich lustig machte. Falls dies jedoch nicht der Fall war, würde ich nun gern den Zeitpunkt nutzen, um mich angemessen bei Christian zu revanchieren. Ich hatte jedwede Reaktion von ihm erwartet, nur diese nicht. Sie zeigte deutlich Belustigung.

"Du musst wohl gerade denken, dass ich ziemlich bescheuert bin, was?", vermutete er und hielt sein Grinsen aufrecht, als hätte er gerade einen Witz erzählt. Das brachte das Fass in mir zum Überlaufen.

"Ehrlich gesagt, ist das genau das, was ich denke", fuhr ich ihn an. "Du Bastard, machst du dich gerade über mich lustig, weil ich Schuldgefühle deswegen habe, Eric statt dir zugesagt zu haben? DU hast mich überhaupt nicht gefragt, was mich sehr verletzt hat, da ich erwartet habe, du würdest es vielleicht tun. Stehst du in Wahrheit auf Grace und warst nur zu feige mir davon zu erzählen? Bist du deswegen so amüsiert, weil ich versuche, ein Missverständnis zu lösen, das für dich überhaupt keins ist?", regte ich mich auf, was sicherlich einige Blicke auf mich zog, aber das war mir in diesem Moment egal. Bevor ich mich jedoch weiter über Christians Belustigung aufregen konnte, nahm Christian meine geballte Faust und öffnete sie, sodass sie nun in seiner eigenen Hand ruhte, die nebenbei bemerkt, eine wundervoll beruhigende Wärme austrahlte. Ich war kurz davor, sie ihm zu entziehen, hätten nicht seine folgenden Worte das Interesse in mir erweckt.

"Ich wusste, dass du so reagieren würdest. Ich war wirklich ein Bastard. Aber bevor du mich weiter mit irgendwelchen Schimpfwörtern verfluchst, gib mir die Möglichkeit, zu erklären, warum alles so gekommen ist, wie es nun ist", bat er mich und in seinen Augen stand nun eine Ernsthaftigkeit, die ich in den letzten Minuten schrecklich vermisst hatte. Diese Ernsthaftigkeit war es auch, die mich davon abhielt, den Tisch zu verlassen und Christian gleich mit. Also blickte ich ihn nur abwartend an und forderte ihn stumm zum Reden auf.

"Ich wollte dich tatsächlich fragen", gestand er nun langsam und wandte beschämt den Blick ab. "Ich hatte nur nicht den Mut dazu, durch die Verbindung, die ich nun mit Grace habe. Ich dachte, du würdest es nicht verstehen, wenn ich dir davon erzähle und mich abweisen, nicht nur was den Ball betrifft." Ich runzelte die Stirn. Woher wusste er denn, dass ich über die Verbindung zwischen ihm und Grace Bescheid wusste? Am liebsten hätte ich ihn das sofort gefragt, doch ich wollte ihn nur ungern unterbrechen, da ich ihm eine Chance geben wollte. Er zögerte kurz, bevor er fortfuhr.

"Ich hatte Grace um Rat gebeten, wie ich es dir am besten beibringen soll, dass ich nun eine Verbindung zu ihr habe, die ich mit dir niemals haben werde. Sie hat mich öfter besucht, als ich noch im Krankenflügel gelegen habe und mir erzählt, wie es ist ein richtiger Geist zu sein. Sie hat mir ihre Fähigkeiten gezeigt und wir haben uns auch gut verstanden. Aber ich habe in ihr nie mehr gesehen, als eine gute Freundin. Ich bin nicht dem Tod entkommen, um mit dir Schluss zu machen, Madline. Ich habe mir in diesem halben Jahr nichts sehnlicher gewünscht, als dich wieder in meinen Armen zu halten."

Ich merkte, wie meine Gesichtszüge weicher wurden, als Christian dies so offen sagte, doch ich konnte ihm noch nicht vergeben. "Das hat doch überhaupt nichts mit dem Ball zu tun", wiedersprach ich hart. Christian schüttelte den Kopf und seufzte, bevor er den Faden wieder aufnahm.

"Grace und ich wollten uns in Ruhe beraten, also sind wir in das Zimmer von meinen Kumpels und mir gegangen, da die anderen offensichtlich gerade anderweitig beschäftigt waren. Grace hatte mir einige Möglichkeiten vorgeschlagen. Ich könnte dir einen Brief schreiben, statt dich direkt zu fragen oder die Details, was unsere Verbindung angeht, auslassen. Aber ich kann nicht gut schreiben. Ich wollte es richtig machen und dich anzulügen, wollte ich mir nicht wieder angewöhnen." An dieser Stelle fühlte er sich sichtlich unbehaglich, was ich sehr gut nachvollziehen konnte.

"Dann fragte sie mich plötzlich, ob ich nicht mit ihr auf den Ball gehen will, statt mit dir. Der plötzliche Themenwechsel kam mir sofort verdächtig vor, allerdings wusste ich nicht, wie ich dieses Gefühl einzuordnen hatte. Sie versuchte mich zu überreden, wobei ich sie des öfteren daran erinnert habe, dass ich mit dir auf den Ball gehen will. Dieses Gespräch kennst du ja."

Erschrocken darüber, dass Christian herausgefunden hatte, wie ich vor der Zimmertür gestanden und das Gespräch zwischen ihm und Grace belauscht hatte, lief ich schlagartig tomatenrot an. "Wo.. woher wusstest du das?", fragte ich peinlich berührt.

"Ich wusste es zuerst nicht. Grace hat irgendwann ihren Abschied vorgegeben, mitten im Gespräch, damit du uns allein lässt. Und es hat ja auch funktioniert. Ich muss mindestens so verwundert ausgesehen haben, wie du jetzt. Sie berichtete mir, dass du das Gespräch belauscht hast, ab dem Zeitpunkt, zu dem sie selbst mich fragte, ob ich sie nicht begleiten könnte. Und sie setzte mich außerdem darüber in Kenntnis, dass du aus lauter Wut, Eric zugesagt hast, der gerade auf dem Weg zu seinem Zimmer war. Grace hatte Eric vor unserem Gespräch zu dieser neuen Vertrauensschülerin namens Amber geschickt, da sie ja auch für die Verwaltung der Post zuständig ist und ihm Informationen bezüglich eines Paketes mitgegeben, das ihn erwarten sollte. Dass er in genau diesem Moment den Feuerbändigertrakt betreten hat, war beinahe Zufall ", berichtete mir Christian und behielt sein Saftglas im Auge. Genauso, wie ich es vorhin neben Eric getan hatte.

"Beinahe?", bohrte ich nach.

"Sie hat dich so lange unterhalten, bis er aufgetaucht ist", erklärte Christian und schüttelte den Kopf, als könnte er nicht glauben, das Grace' Improvisation so gut funktioniert hatte. Ich konnte es auch nicht. Es war ja kaum zu fassen, was er da sagte. Das würde bedeuten, dass Grace spontan einen Plan entwickelt hatte, damit Christian und ich nicht zusammen auf den Ball gehen konnten. Dieser Plan war ja noch hinterlistiger, als ich geglaubt hatte. Aber woher wusste Grace, dass ich das Zimmer nicht betreten und den Plan ruinieren würde? Hatte sie etwa auf meine Schuldgefühle gesetzt, dem Gespräch gelauscht zu haben? Denn die hätten mich sicherlich am allerwenigsten aufgehalten. Ich konnte jedenfalls nicht verhindern, dass der Gedanke an Grace das Blut in meinen Adern zum Kochen brachte.

"Das hat sie gemacht, damit du sie als Tanzpartnerin wählst oder?", sagte ich und bemühte mich um einen normalen Tonfall, was mir eindeutig misslang. Christian schien dies bemerkt zu haben.

"Nicht ganz. Ich bin mir sicher, dass dies einer der Vorteile war, der ihr Plan für sie bereit gehalten hat. Sie informierte mich darüber, dass sie diesen Gespräch nur geführt hätte, da Eric ihr erzählt habe, dass er dich unbedingt auf den Ball einladen will. Er befürchtete allerdings, ebenso wie ich, dass du Nein sagen würdest. Allerdings aus dem Grund, dass wir beide zusammen sind."

Augenblicklich wurde ich wieder hellhörig. Eric hatte also die ganze Zeit über gewusst, dass ich mit Christian zusammen war und mich dennoch geküsst? Und ich hatte mich noch schuldig gefühlt, weil ich ihm meine Beziehung mit Christian vorenthalten hatte.

"Aber wenn ich das richtig verstanden habe, dann wusste Eric nichts von diesem Plan oder?", hakte ich nach und warf nebenbei einen Blick zum Buffet, wo die Jungs sich gerade den Saft einschenkten. Sie hatten offensichtlich ziemlich lange für ihr Getränk angestanden, denn Drews Miene wirkte, zumindest von weitem, leicht gereizt.

"Nein, Eric hatte mit dem Ganzen nichts zu tun", gab Christian zu. Auf seinem Gesicht erschien ein nachdenklicher Ausdruck. "Ich wollte trotzdem nicht, dass du mit ihm tanzt, weil ich Angst hatte, du könntest... naja..." Er kratzte sich verlegen am Kopf.

"Gefühle für ihn entwickeln und mit dir Schluss machen?", half ich ihm aus, blieb aber skeptisch.

"Ja", antwortete Christian verlegen. "Ich denke nicht, dass du mir diesen Gedanken verübeln kannst." Ich überlegte kurz. Wenn ich so darüber nachdachte, dann konnte ich das tatsächlich nicht. Eric war charmant, attraktiv und witzig, alles in Allem: ein Gott. Allein die Tatsache, wie ihn alle Mädchen angestarrt hatten, als wir miteinander den Eröffnungstanz tanzten, ließ darauf schließen, dass er den absoluten Mädchenschwarm darstellte. Und somit offensichtlich einen Konkurrenten für jeden Jungen.

"Ich habe überlegt, ob ich dich aufklären soll", fuhr Christian fort,"aber du warst Grace' Meinung nach sehr sauer auf mich, als du von unserer Verbindung erfahren hast. Da dachte ich, du würdest ein Gespräch mit mir ablehnen, da ich dir die Sache mit der Verbindung verheimlicht habe. Aber Eric hat ja nichts gemacht, weswegen ich mir Sorgen machen müsste oder?", wollte er teils misstrauisch, teils hoffnungsvoll wissen. Ich biss mir auf die Unterlippe. Was sollte ich jetzt nur sagen? Ich wich Christians Blick aus und behielt Eric im Auge, der gerade mit Drew und Sebastian an unseren Tisch zurückkehrte und mich wahrscheinlich gleich bei Christian entdecken würde.

"Wenn er etwas Derartiges versuchen würde, hätte ich ihn abgewiesen", versicherte ich Christian und räusperte mich. "Erzähl mir lieber, woher Grace wusste, dass ich vor der Tür stehe und das Gespräch mitverfolgt habe!", befahl ich etwas zu grob. Ich musste ja irgendwie vom Thema ablenken.

"Sie kann durch Wände sehen. Das ist eine ihrer Fähigkeiten, wenn sie ihre Geistergestalt annimmt. Sie hatte während unseres Gespräches ihren Menschenkörper verlassen, damit sie heute Abend länger in ihrem Normalzustand verweilen konnte. Aber wie du siehst, war es nicht lange genug. Sie ist schon gegangen, um ihren Menschenkörper in den Ruhezustand zu versetzen."

Glücklicherweise, fügte ich gedanklich hinzu. Eigentlich müsste ich erfreut darüber sein, dass sich dieses Problem nun nur als ein großes Missverständnis entpuppt hatte, aber meine Wut auf Grace machte es mir fast unmöglich, irgendwelche positiven Gefühle zu entwickeln. Außerdem wunderte es mich, dass Christian überhaupt keinen Zorn über Grace Verhalten empfand. Also fragte ich: "Bist du denn gar nicht sauer auf Grace, nach allem was passiert ist? Sie wollte uns eindeutig auseinander treiben und du hast es auch noch zugelassen!"

"Ich weiß, ich weiß", murmelte Christian unbehaglich. "Aber sie tat es hauptsächlich, um Eric einen Gefallen zu tun. Und wenn du ehrlich bist, musst du dir selbst eingestehen, dass wir niemals jemand anderem zugesagt hätten, da wir beide zusammen sind." Nun, das stimmte zwar, aber ich war mir sicher, dass Grace den Plan nicht entworfen hatte, um Eric zu helfen, sondern eher für ihre eigenen Zwecke. Und es störte mich, dass Christian so gutgläubig war, dies nicht zu erkennen. Trotzdem konnte ich ihm nicht länger böse sein. Er hatte den Fehler begangen, nicht auf mein Verständnis zu vertrauen, doch ich war mir sicher, dass dies ein Fehler war, der auch mir hätte unterlaufen sein können. Und letztenendes war ich doch irgendwie froh darüber, dass ich mich zusammengerissen und das Gespräch mit ihm gesucht hatte.

"Jetzt können wir es sowieso nicht mehr ändern", sagte ich mit einem Seufzen. "Es wäre wohl nicht so gekommen, wenn wir unsere eigenen Bedürfnisse und unseren Stolz nicht hinten angestellt hätten."

Christian ließ von seinem Glas ab. "Naja, Tanzen können wir doch immer noch", meinte er mit einem Augenzwinkern. Ich lächelte zaghaft und wollte bereits ein Ja erwidern, doch als mein Blick zu Eric wanderte, bemerkte ich, dass er Christian und mich beobachtet hatte und zudem nicht wirklich glücklich wirkte. Was sollte ich jetzt tun? Konnte ich Eric einfach so stehen lassen?

Allerdings blieb mir keine Zeit, um eine schnelle Entscheidung zu treffen, denn in diesem Moment ging ein halbes Raunen durch den Saal und als ich mich umdrehte, bemerkte ich, dass die meisten Schüler mit offenen Mündern und bewundernder Miene zur Eingangstür blickten. Ich folgte ihrem Beispiel und wandte den Blick ebenfalls Richtung Eingang. Dort stand jemand. Jemanden, den ich fast nicht erkannt hätte. Ein Mädchen in einem reich verzierten, dunkelroten, trägerlosen Ballkleid, wie nur sie es tragen konnte. Ihre honigblonden Haare hatte sie scheinbar mühelos am seitlichen Hinterkopf festgesteckt und ihre Füße steckten in schlichten roten Schuhen mit hohem Absatz, die ihr die Aufmerksamkkeit der Schüler verschafft hatten. In diesem Moment wirkte sie beinahe wie eine Prinzessin unter einem Meer von Bauerntrampeln, zu denen auch ich mich gezählt hätte. Das Mädchen, das nun über das Parkett auf den Tisch meiner Freundinnen zuglitt, war Cat.

"Sie sieht echt schick heute aus", äußerte sich Christian anerkennend, was wirklich total untertrieben war. Cat war mehr als nur schick. Sie sah atemberaubend aus, atemberaubend schön, in diesem Traum aus weihnachtlichem Rot. Und ihre Schritte, die neben meinem Getrampel auf der Tanzfläche viel eleganter gesetzt waren, strahlten Selbstsicherheit und Stolz aus, wie es ihr keiner hätte gleich tun können. Selbst Angelina, unsere liebste Zimmernachbarin, schien bei dem bloßen Anblick von Cat wie ein Hund den Schwanz einzuziehen. Ich konnte es ihr nicht verübeln.

Cat war nun an den Tisch getreten und mir fiel auf, dass Eric der Erste war, der sie begrüßte. Und das nicht mit einem Handschütteln, sondern mit einer andeutenden Verbeugung. Auch wenn es mich wohl wütend machen sollte, dass Eric nach mir bereits dem nächsten Mädchen schmeichelte, ahnte ich, dass dies gerade so einige meiner Probleme löste.

Während Christian Eric und Cat einen erstaunten Blick zuwarf, nahm ich vorsichtig seine Hand. "Ich glaube, jetzt ist der richtige Zeitpunkt für einen Tanz", hauchte ich leise und lächelte nun ein Lächeln, das durch und durch ernst gemeint war und das kurz darauf von ihm erwidert wurde.

"Ich denke, das lässt sich einrichten. Aber nicht hier",erwiderte er mit einem Grinsen, das mich stutzig machte.

"Nicht hier? Aber wo denn sonst?", fragte ich verwundert.

"Da wo wir dem neuen Pärchen nicht auf die Füße treten. Ich kenne da einen perfekten Ort", berichtete er mir und nickte mit dem Kopf in Richtung Ausgang. Ich musste schon zugeben, dass ich nun neugierig geworden war. Wie stellte ich mir wohl den perfekten Ort für einen Tanz vor?

Ich ließ mich von Christian zaghaft an der Hand zum Ausgang führen und so ließen wir den Trubel des Winterballs vorerst hinter uns und stiegen die Treppen zum Erdgeschoss und anschließend zum ersten Stock empor.

"Christian, willst du mir nicht verraten, wohin wir gehen?", fragte ich und sah über die Schulter den Gang entlang, der so verlassen war, wie noch nie in meiner Zeit an der Elemava-Academy. Doch Christians Lippen kräuselten sich nur zu einem zufriedenen Grinsen. Er schien sich wohl an meiner Neugier zu erfreuen.

"Das kann ich dir doch jetzt noch nicht sagen, sonst wäre es ja keine Überraschung mehr", entgegnete er und erklomm die Treppen, die in den zweiten Stock führten. Ich, der so ziemlich unsportlichste Mensch der Welt, japste bereits nach Atem, als wir auch im nächsten und übernächsten Stock nicht Halt zu machen schienen.

"Ich hoffe für dich, dein perfekter Ort ist es wert", grinste ich zwischen zwei Atemzügen, als wir die letzten Stufen zum vierten Stock hinaufstiegen.

"Du wirst sehen, dass ich nicht übertrieben habe", versprach Christian, der seltsamerweise überhaupt nicht außer Atem zu sein schien. Neben ihm musste ich wohl wie ein erschöpftes Nilpferd wirken. Wie ein erschöpftes Nilpferd in einem nachtblauen Abendkleid, um genau zu sein.

Als wir endlich in der letzten Etage angekommen waren, musste ich erst einmal tief Luft holen. "Und, wo ist er nun? Der perfekte Ort? Du wirst mir jetzt aber nicht sagen, dass du mit mir auf dem perfekten Gang zu imaginärer Musik tanzen willst oder?", neckte ich Christian und lachte, zumindest so weit es mir möglich war.

Christian schwieg jedoch weiterhin und lächelte nur geheimnisvoll, während er mich um die Ecke in den Feuerbändigertrakt schob. Als die Glastür hinter uns zufiel, wurden wir von Stille umhüllt. Kein Ton mehr drang durch die Türen zu uns hinauf und ich fühlte mich fast ein bisschen unbehaglich, durch einen stockdüsteren, stillen Gang zu laufen, wo mich sicherlich niemand vor einem Angriff durch den Spion retten konnte, abgesehen von Christian. Unwillkürlich drückte ich seine Hand fester, was ihn wohl prächtig zu amüsieren schien, seinem kleinen Lacher nach zu urteilen.

Plötzlich öffnete sich rechts von uns eine Zimmertür, durch die gleißendes Licht den Gang erhellte. Fast wäre ich vor Schreck zusammengezuckt, doch ich konnte mich gerade noch beherrschen, denn aus der Zimmertür trat kein Spion, sondern das australische Liebespaar: Cyan und Lizzy. Die beiden wirkten sehr überrascht uns zu sehen, mindestens so sehr, wie Christian und ich es waren. Ich nutzte den Moment der Verwunderung, um zu enträtseln, was die beiden hier oben getrieben hatten. Cyans Haare sahen sehr zerzaust aus, ebenso wie die Frisur von Lizzy, aus der sich viele Strähnen gelöst hatten. Sie trug außerdem das Jackett von Cyan, als ob ihr wahnsinnig kalt wäre. Nun, warm war es hier oben tatsächlich nicht.

"Was macht ihr hier?", fragte Cyan, nachdem keiner von uns das Wort ergriffen hatte.

"Das ist eine Frage, die wir euch genauso gut stellen könnten", antwortete Christian gelassen. Doch ich bemekte, dass ein Hauch von Misstrauen in seiner Stimme mitschwang.

"Ich habe Lizzy mein Jackett geholt. Ich hatte es oben vergessen und da ihr kalt war, haben wir beschlossen, es zu holen", entgegnete Cyan ruhig mit einem genauso skeptischen Unterton. Lizzy schien abzuwägen, ob sie zu diesem Kommentar etwas sagen sollte und entschied sich schließlich dafür.

"Ja, es ist wirklich ganz schon kalt da unten. Aber wir wollten gerade wieder runtergehen. Kommt ihr mit?", wollte sie wissen und lächelte uns freundlich an. Christian neben mir unterdrückte ein Schnauben.

"Nein, wir kommen dann schon nach", behauptete er und zog mich am Arm weiter, diesmal grober als zuvor. Ich konnte Cyans misstrauischen Blick geradezu auf meinem Rücken spüren. Lizzy jedoch schien mit den Schultern gezuckt zu haben. "Na, dann gehen wir", hörte ich sie leise sagen und keine Minute später waren wir wieder allein im Gang. Ohne Licht, ohne Geräusche, dafür mitten in der Kälte.

"Was war das denn eben?", fragte ich zitternd. "Du warst ziemlich distanziert Cyan gegenüber. Ist etwas zwischen euch vorgefallen?"

Christian blieb stehen und ließ seinen Blick zum Ende des Ganges schweifen. "Nein, eigentlich nicht. Aber..." Er stockte kurz. "Als Grace mich von ihren Geisterfähigkeiten unterrichtete, erzählte sie mir, ich könne die Wahrheit von einer Lüge unterscheiden und auch erkennen, von wem eine Gefahr ausgeht oder wen ich besser meiden sollte. Dass Cyan lügt war offensichtlich. Ich brauche mich nicht an meinen Geisterfähigkeiten zu orientieren, um zu wissen, das man in der Hitze dort unten normalerweise nicht frieren sollte. Die beiden waren nie hier oben, um das Jackett zu holen."

Ich senkte den Blick und überlegte. Dort unten hatte ich geschwitzt, hier oben dagegen waren meine Arme von einer Gänsehaut überzogen. Ich bezweifelte nicht einmal selbst, dass Cyan log.

"Er hatte sein Jackett dabei", erinnerte ich mich dann. "Ich hab ihn am Buffet gesehen, als wir für das Hauptgericht anstanden. Außerdem... warum sollte sich Lizzy ein Jackett von Cyan leihen, wenn sie sich aus ihrem eigenen Zimmer eine Jacke hätte holen können?"

Christian hatte den Blick nicht vom Ende des Ganges abgewandt. "Dass er gelogen hat, war die eine Sache. Was jedoch umso mehr mein Misstrauen geweckt hat, war die Tatsache, dass von ihm etwas Dunkles ausging."

"Etwas Dunkles? Definier das! Meinst du so ähnlich wie bei den Schatten?"

"Ich weiß es nicht", stieß Christian frustriert aus. "Ich kann es absolut nicht einordnen. Aber ich glaube, diese Dunkelheit kann ich auch keinem Wesen zuordnen, dass ich schon einmal getroffen habe."

"Bist du sicher? Und es ging nicht von einer anderen Richtung aus oder vielleicht von Lizzy?", hakte ich nach, da ich wieder an den Spion denken musste, den wir nach zwei Monaten immer noch nicht aufgespürt hatten. Cat hatte gemeint, in ihrer Vision hätte der Spion die Gestalt eines weiblichen Wesens gehabt.

Christian schien mit seinem Verstand zu ringen. "Ich weiß es wirklich nicht. Ich dachte, es käme von Cyan, aber eigentlich war es überall. Vielleicht war dort noch irgendjemand, den wir übersehen haben", murmelte er nachdenklich. "Und was Lizzy angeht... ich werde sie lieber noch einmal überprüfen müssen, wenn ich sie das nächste Mal allein irgendwo antreffe."

Darauf wusste ich nichts zu antworten. In dieser Hinsicht musste ich Christian wohl einfach vertrauen. Jetzt war schon fast nicht mehr abzustreiten, dass die beiden irgendetwas verbargen. Außerdem wog das Gewicht von Cyans Lüge schwerer auf meinen Schultern, als es sollte.

"Lass und das Thema erstmal bei Seite schieben, bis wir genaueres wissen", schlug ich vor, doch Christian schien noch nicht überzeugt zu sein. "Du wolltest mir doch den perfekten Ort zum Tanzen zeigen", erinnerte ich ihn nun und rüttelte energisch an seinem Arm, um die Nachdenklichkeit, die sich auf seinem Gesicht abzeichnete, zu vertreiben.

Dann nickte er jedoch und führte mich zum anderen Ende des Ganges, wo er auf der linken Seite an einer Zimmertür mit der Nummer 248 stehen blieb.

"Was ist das für ein Zimmer?", fragte ich sogleich, als Christian seine Hand auf die Türklinke legte.

"Kein Zimmer", war die Antwort. "Fällt dir nicht auf, dass die Tür viel zu nah zwischen der Hausfassade und dem Nachbarzimmer liegt?", fragte er und grinste nun wieder etwas. Tatsächlich betrug der Abstand zur Außenwand der Akademie rechts nicht einmal einen Meter und die nächste Zimmertür befand sich in einem Abstand von circa zwei Metern. Also entweder war das hier ein extrem kleiner Raum, so wie die Besenkammer, in der ich Lizzy und Cyan damals erwischt hatte oder hinter der Tür lag tatsächlich kein Zimmer.

"Es soll nur so aussehen, als wäre das hier eine normale Zimmertür, aber in Wahrheit liegt dahinter etwas anderes", erzählte Christian, als er die gefälschte Tür öffnete. Zuerst konnte ich in der Finsternis dahinter nichts erkennen. Doch nach einigen Sekunden, in denen ich nur ins Leere gestarrt hatte, schälte sich ein Umriss aus der Dunkelheit und es ließ sich ein Treppenaufgang ausmachen.

Christian ging voraus, was wahrscheinlich auch besser so war. In der Dunkelheit wäre ich bei meinem Glück sicherlich gegen eine Wand gelaufen. Doch mit Christians Hand in meiner, konnte ich ihm leicht folgen. Der Treppenaufgang war ziemlich schmal, dafür aber nicht so lang, wie ich erwartet hatte. Als wir auf dem höchsten Treppenabsatz zum Stehen kamen, blieb Christian stehen. Hier war offensichtlich auch mehr Platz, den als Christian meine Hand kurz los ließ und ich die Arme ausstreckte, um sie wiederzufinden, realisierte ich, dass die Wand zu meiner rechten verschwunden war.

"Christian?", fragte ich in die Dunkelheit hinein.

"Ich bin hier", erklang seine sanfte Stimme neben mir und keine Sekunde später, flammte ein Streichholz vor mir auf, das Christians Gesicht beleuchtete. Er ließ seine Hand darüber gleiten und nahm die Flamme in seine Hand auf, sodass sie in seiner offenen Handfläche brannte, wie auf einem Kerzendocht.

"Normalerweise gibt es hier auch irgendwo noch Fackeln, aber in diesem Vorraum hier herrscht ein richtiges Chaos und in dem Gerümpel, ist es leichter für mich, die Streichhölzer in dem winzigen Regal dort drüben zu ertasten", verriet er mir und beleuchtete ein hölzernes Regal an der linken Wand.

"Ich dachte, du kannst Flammen aus dem Nichts erzeugen", murmelte ich überrascht, anstatt auf seine vorige Aussage einzugehen. "Stattdessen hast du es gar nicht selbst erzeugt, sondern nur aufgenommen."

"Das kann ich auch", entgegnete Christian, während er sich gebückt hatte, um die Fackeln in dem Geröll am Boden zu finden. Darunter waren viele Gartengeräte, aber genauso Deko und alte Schulsachen oder Gemälde, wie ich im Schein von Christians Flamme erkennen konnte.
"Aber es strengt mich mehr an, sie zu erzeugen, als sie aufzunehmen. Dennoch kann nicht jeder ein Element aus dem Nichts erzeugen, es sei denn man ist ein Luftbändiger", ergänzte er mit einem Schmunzeln. "Die Einen können es, die Anderen können es nicht. Dieses besondere Gen ist in den meisten Fällen angeboren, vererbt oder in einem Zyklus weitergegeben worden." Als er Letzteres sagte, konnte ich mir denken, dass das nur meinen Fall betraf.

Einige Sekunden später hatte er endlich die Fackeln in der Hand, sowie er sich noch einen weiteren Gegenstand unter den Arm geklemmt hatte, den ich nicht genau erkennen konnte. Er entzündete die zwei Fackeln mit einer einzigen Handbewegung. Dann ging er ein paar Schritte weit durch den Vorraum und blieb vor einer weiteren Tür stehen.

"Es könnte gleich etwas kalt werden", warnte er mich vor. Bevor ich jedoch begreifen konnte, dass die Tür nach draußen führen musste, hatte Christian sie geöffnet. Ein kalter Luftzug unstrich meine Beine und erfasste die vorderen Strähnen meines Haares, ließ sie wortwörtlich tanzen. Passend zum Anlass des Winterballs.

Christian streckte seine freie Hand aus. Ich ergiff sie nach einem knappen Zögern und ließ mich von ihm in die Kälte geleiten. In die eisige Kälte des farbigen Winters, denn der Schnee war noch nicht gefallen. Vorsichtig schloss Christian die Tür hinter uns und hängte den Gegenstand, den er sich unter den Arm geklemmt hatte und der sich als Weihnachtskranz entpuppte, an die Außenseite der Tür.

"Passt doch ganz gut zu Weihnachten", fand er und steckte die beiden Fackeln zusätzlich in die Halterungen an der Außenwand des Vorraumes, sodass der Eingang zurück ins Schulgebäude, beziehungsweise der Ausgang, deutlich gekennzeichnet war, wie normalerweise mit einem Exit-Schild.

Als ich mich nun umdrehte, bemerkte ich, dass Christian mich auf das weite Dach der Schule geführt hatte. Die Akademie sah von unten nämlich nicht so groß aus, wie es sich hier oben anhand der Dachkanten vermuten ließ. Der Boden war mit Steinplatten belegt, die das gesamte Dach bedeckten, abgesehen von den Stellen, an denen rechteckige Kästen standen, von denen ich nur ahnen könnte, wofür sie gut waren. Außerdem waren in einigen Abständen Laternen aufgestellt worden. Als ich die, dir mir am nächsten stand, genauer in Augenschein nahm, erkannte ich anhand der zersplitterten Glühbirne, dass die Laternen wohl schon ziemlich alt sein mussten.

Christian schien das jedoch nicht im geringsten zu stören. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, als er auf mich zuschlenderte. "Und habe ich zu viel versprochen?"

"Eigentlich nicht", erwiderte ich und konnte das Klappern meiner Zähne dabei nicht unterdrücken.
"Eigentlich?", hakte Christian nach und sein Grinsen wurde noch eine Spur breiter.

"Es ist nur... nur etwas kalt hier oben", klärte ich ihn auf. Immerhin trug ich nur ein dünnes Kleid, das nicht einmal meine Schultern bedeckte. Doch für dieses Problem schien Christian offensichtlich eine Lösung zu haben. Er wandte sich den Fackeln zu, streckte die Hände aus und schien, zumindest sah es für mich so aus, Wärme von ihnen aufzusaugen, die sich in seinen Handflächen sammelte.

Als er sich wieder zu mir umdrehte, berührte er mich mit einer Hand an der Schulter. Sofort wurde ich von einem Schwall an Wärme überwältigt, der blitzschnell durch meinen Körper jagte bis hinunter in meine Zehen, und der meine Haut förmlich pulsieren ließ. Augenblicklich wich die Kälte der Wärme, welche mich voll und ganz einlullte, als stünde ich in Flammen. Dieses Gefühl wurde auch durch die Tatsache bekräftigt, dass meine Haut dampfte, wenn ich meinen Arm zu schnell bewegte.

"Wow, den Trick musst du mir auch beibringen. Deine Wärmeenergie ist so stark, dass es beinahe so wirkt, als würden wir brennen", sagte ich beeindruckt und blickte zu Christian, der den Trick auch an sich selbst angewendet hatte.

"Vielleicht", grinste er. "Wenigstens kannst du jetzt nicht mehr abstreiten, dass ich heiß bin."

Dieser Satz brachte mich so zum Lachen, dass ich beinahe über den Stoff meines Kleides gestolpert wäre. "Wer sagt denn, dass ich diese Tatsache je bestritten habe?", verteidigte ich mich.

Christian neigte nur den Kopf, als wüsste er auf diese Frage auch keine Antwort. Dann wurde er jedoch ernst und zog sich das schwarze Jackett aus, dessen Ärmel er bereits nach oben gekrempelt hatte. Vorsichtig hängte er es an einen der unbenutzten Fackelhalter.
Als er wieder vor mir stand, reichte er mir charmant seine Hand und räusperte sich.

"Ich sollte wohl auf das zurückkommen, weshalb wir eigentlich hierher gekommen sind." Er grinste schelmisch. "Mylady, würden sie mir die Ehre erweisen und mir diesen Tanz schenken?"  Ich kicherte beinahe in mich hinein. Was hätte ich schon anderes sagen sollen, als dieses eine Wort, da nun meinen Lippen entfuhr.

"Ja."

Hallöchen :D
Ich melde mich mal wieder aus der Versenkung zurück mit einem neuen Kapitel. Irgendwie ja einer Art Spezial-Kapitel. Eigentlich hätte der Inhalt dieses Parts nämlich in drei normale Kapitel gepasst, denn dieses Kapitel hat ungeschlagene 7375 Wörter und ist damit das längste, das ich je geschrieben habe ^^

Ansonsten bleibt mir wieder nur zu fragen, ob ihr einen neuen Verdacht habt oder ob sich euer erster Verdacht bereits bestätigt hat?
Lasst mal wieder einen Kommi da und ansonsten wünsche ich euch allen eine wunderschöne Vorweihnachtszeit.
Lg Emma

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