30. Der erste Walzer
Ich konnte wirklich nicht sagen, wer das Paket mit dem Hexenbrett aus unserem Zimmer entwendet hatte. Dass es eine von meinen Freundinnen war, bezweifelte ich doch sehr stark. Vielleicht hatte Grace es sich zum Hobby gemacht, mich jederzeit mit irgendetwas zu nerven oder wer auch immer es gebracht hatte, wollte es nun um jeden Preis für sich haben. Ich wüsste auch nicht, wer sonst noch von diesem Hexenbrett gewusst haben könnte, denn es gab sicherlich auch Schüler, die in einem solchen Werk einen Vorteil für sich sahen. Allerdings war ich mir ziemlich sicher, zu wissen, wer am ehesten ein Motiv hatte, das Hexenbrett schlichtweg zu stehlen: der Spion. Wenn dies tatsächlich der Fall war, könnte das bedeuten, dass wir unserem kleinen verräterischen Freund vielleicht ein Stück zu nahe gekommen waren. Außerdem fand ein Spion doch sicher auch Wege, umbemerkt in das Zimmer eines Elementbändiger-Internats zu gelangen.
Mir blieb jedoch nicht viel Zeit, über das seltsame Verschwinden des Hexenbrettes nachzudenken, denn inzwischen stand bereits der Winterball vor der Tür. Auch wenn der Winter sich dieses Jahr nicht wirklich von seiner besten Seite präsentierte. Denn draußen lag noch kein Schnee, aber es war dennoch bitterkalt.
Der Samstag war schneller herangerückt, als ich gedacht hatte. Erst vor zwei Tagen hatte ich mein Referat gehalten und nun stand ich schon vor dem Spiegel in unserem Zimmer und betrachtete das Ballkleid, das mir meine Eltern überlassen hatten. Ich konnte den Mund vor Staunen noch immer nicht schließen. Das Kleid war dunkelblau und der obere Teil war mit Pailletten und Strass-Steinen besetzt, sodass sie im Licht der Deckenlampe funkelten wie die Sterne am Nachthimmel. Die Schultern lagen frei und die Ärmel, die am Rande des Oberteil ansetzten, bestanden aus dünnem Stoff, der bis zum Ellenbogen eng anlag und von dort aus offen herabfiel. Der untere Teil des Kleides bestand aus Chiffon und verlief fast bis zum Boden, sodass ich mir keine Sorgen darum machen musste, auf den wunderschönen Stoff zu treten. Es war einfach perfekt. Und als Highlight hatten mir meine Eltern noch ein kleines Schmuckstück beigelegt. Eine Kette mit einem winzigkleinen Anhänger, der aus echtem Saphir bestand. Auch wenn er nicht größer war, als ein Tropfen, hatte ich mich sofort in das Schmuckstück verliebt. Und es passte perfekt zu dem Kleid und den Schuhen, deren Absätze mich zum Glück ein Stück größer erscheinen ließen.
"Du siehst wirklich atemberaubend schön aus", meldete sich Kiki, die gerade aus dem Badezimmer getreten war, in einem Traum aus hellblauem Stoff. Das Kleid schmiegte sich an ihren Körper an und fiel von der Hüfte abwärts locker herab. Oben wurde es von zwei dünnen Trägern gehalten und war über und über mit Pailetten bestickt.
"Du aber auch", gab ich das Kompliment zurück, woraufhin Kiki errötete. Sie war schon fertig und setzte sich auf ihr Bett. Ich kümmerte mich derweil um meine Frisur, die eher einfach ausfallen sollte. Ich legte meine vorderen Haarpartien nach hinten und steckte sie mir mit einem Dutzend Haarnadeln fest, um die Strähnen auch gut genug zu fixieren. Vorne fielen mir noch einige Strähnen ins Gesicht, aber das konnte gerne so bleiben. Ich hatte mir meine Haare vorhin schon gelockt, sodass ich nun sehr zufrieden mit meinem Ergebnis war. Auch mit dem Make-up, um das sich Alice gekümmert hatte.
Alice und Coral waren noch im Bad und brauchten noch ein bisschen Zeit für ihre Frisuren. Cat hatte vor einer halben Stunde das Zimmer verlassen, mit der Begründung, sie wolle gerne allein sein und uns nicht beim Umziehen stören. Sie selbst hatte keinen Tanzpartner und erklärt, sie würde später noch nachkommen und sich umziehen. Ich konnte verstehen, dass sie traurig war. Sicherlich würde es mir an ihrer Stelle genauso ergehen. Oder an Kikis, die ja auch keinen Tanzpartner hatte. Allerdings fühlte es sich schon seltsam an, nicht mit Christian auf den Ball zu gehen. Es war auch nicht einfach gewesen, meinen Freundinnen mitzuteilen, dass ich nicht mit ihm, sondern mit Eric auf den Ball gehen würde.
Als Alice und Coral fast fertig waren, klopfte es an der Tür. Einen kurzen Augenblick lang, fragte ich mich, ob das Christian sein konnte, der es sich doch anders überlegt hatte, aber als ich die Tür öffnete, stand Sebastian vor mir, selbstverständlich in einem festlichen Anzug. Er räusperte sich.
"Ähm, ist Kiki da?", fragte er etwas unsicher und suchte hinter mir mit seinen Augen den Raum nach ihr ab. Ich nickte nur verwirrt und musste Kiki gar nicht rufen, denn sie war schon von selbst an meiner Seite aufgetaucht.
"Ich bin hier. Was gibt's denn?", erkundigte sie sich und ihre Augen leuchteten, als sie Sebastian betrachtete. Dieser hielt einen Moment lang inne, als er Kikis Kleid bestaunte. Und so herrschte einen Augenblick lang eine peinliche Stille zwischen uns, in der Kiki und Sebastian nur Augen für sich hatten und ich mir vorkam, wie das dritte Rad am Fahrrad. Also überließ ich die beiden sich selbst und schlenderte zurück zu meinem Bett, was mich natürlich nicht davon abhielt, ihrem Gespräch zu lauschen.
"Hör zu, eigentlich sollte ich ja mit Dehlia auf den Ball gehen", begann Sebastian langsam, als er den Blick von Kiki lösen konnte. "Aber Dehlia ist heute Vormittag auf der Treppe gestürtzt und hat sich wahrscheinlich den Fuß verstaucht, weshalb ich jetzt keine Begleitung für den Ball habe."
"Oh, das ist ja wirklich zu dumm", ließ sich Kiki vernehmen, obwohl ich ganz genau wusste, dass sie innerlich gerade Freudensprünge machte, da Sebastian wohl offensichtlich gekommen war, um sie als seine neue Begleitung auszuwählen.
"Ja, das ist es, aber man kann es natürlich nicht ändern. Die Krankenschwestern werden sie wohl noch einige Tage auf der Station behalten müssen. Aber für den Ball suche ich wie gesagt noch eine Begleitung und dabei habe ich natürlich zuerst an dich gedacht", versicherte Sebastian und schien für einen Moment die Luft anzuhalten, weil Kiki anscheinend nicht wusste, was sie sagen sollte.
"Ja gern", platzte es dann aus ihr heraus, wobei ich mich mit dem Kichern zurückhalten musste.
"Okay, ich freue mich. Dann sehen wir uns also gleich unten, schätze ich."
"Ja, bis dann", erwiderte Kiki schnell. Sebastian grinste sie noch einmal an. Dann wandte er sich zum Gehen und Kiki schloss vorsichtig die Zimmertür, kurz bevor sie sich auf das nächstbeste Bett warf und sich ein Kissen auf das Gesicht presste, um ihre Freudenschreie zu dämpfen. Das brachte mich so zum Lachen, dass ich beinahe vom Bett gefallen wäre.
Coral und Alice, die sich nun endlich auch mit ihren Frisuren zufrieden gaben, kamen von meinem Gelächter angelockt aus dem Badezimmer getreten. Alice Kleid war natürlich, wie hätte es auch sonst sein sollen, in rosaroten Farben gehalten. Es war trägerlos und oben mit Glitzerverzierungen versehen. Gehalten wurde es an der Taille von einem Band, welches seitlich in einer großen Schleife endete. Unten stachen mir vor allem die Rüschen ins Auge.
Corals Kleid dagegen war grün. Zwei breite Träger hielten das Kleid auf Corals Schultern. Ansonsten war das hellgrüne Oberteil sehr schlicht. Lange dunkelgrüne Stoffbahnen führten von der Hüfte abwärts in Falten zum Boden. Mir gefiel besonders der Übergang vom hellen Grasgrün zum dunklen Blattgrün.
"Wir haben alles gehört", beichtete Coral mit einem Grinsen im Gesicht. Daraufhin lief Kiki zum wiederholten Male tomatenrot an. Alice nickte zustimmend.
"Und da wir jetzt alle einen Partner haben, können wir ja endlich losgehen", fügte sie hinzu und sah uns der Reihe nach auffordernd an. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. "Also wenn die Jungs nicht wenigstens in Ohnmacht fallen, wenn sie uns in unseren Ballkleidern erblicken, dann können sie sich auf einen dicken Fausthieb gefasst machen."
Als wir die Treppe nach unten stiegen - naja, Coral stolperte eher in ihren hochhackigen Schuhen - erzählte uns Alice, wie sie zu ihrem und Corals Kleid gekommen war. Denn keines der beiden Elternpaare hätte sich bereit erklärt, ihrer Tochter ein Kleid zu schicken. Also hatte Alice einfach die Kreditkarte gezückt, die sie noch von ihrer Mutter hatte und sowohl sich selbst, als auch Coral das perfekte Kleid spendiert. Mit den dazugehörigen Schuhen, versteht sich. Alice erwähnte mehrere Male, dass sie nicht auf ihre Mutter Rücksicht nehmen konnte, die sie so oft allein ließ mit diesem, ich zitiere, "Ungeheuer, das sie ihren Liebhaber nennt".
Am Absatz der Treppe warteten schon die Jungs auf uns. Sebastian und Drew hatten uns zuerst entdeckt und kamen sofort auf uns zugeschlendert.
"Da ist ja meine Schöne", wurde Coral von Drew begrüßt, der sich ein spitzbübisches Grinsen nicht verkneifen konnte. Hinter seinem Rücken holte er einen Strauß Rosen hervor, den er Coral mit einer liebevollen Geste reichte. Corals Augen weiteten sich vor Entzücken, als sie den Strauß entgegen nahm.
"Du bist ja süß. Ich habe gar nicht erwartet, heute noch Blumen geschenkt zu bekommen", sagte sie und beugte sich ein Stück vor, um Drew zu umarmen und anschließend auf die Wange zu küssen. Auch Sebastian hielt einen üppigen Strauß in den Händen, den er Kiki nun zögerlich überreichte.
"Dehlia hatte sich Dahlien gewünscht und ich... ähm, ich hatte nicht mehr die Zeit sie umzutauschen. Also wenn du sie nicht magst, dann kann ich...", fing er an, wurde allerdings von Kiki unterbrochen.
"Nein, nein, die sind doch wunderschön. Vielen Dank dafür!", bedankte sie sich hastig und hielt den Strauß ein Stück weit von sich, wahrscheinlich um Sebastian zu umarmen. Er lächelte sie zaghaft an und erwiderte Kikis Umarmung. Als sie sich voneinander lösten, musste Kiki jedoch niesen und konnte sich gerade noch die freie Hand vor den Mund halten. Sebastian wirkte sofort irritiert, woraufhin Kiki kaum merklich zusammenzuckte.
"Du bist doch hoffentlich nicht gegen Dahlien allergisch?", entgegnete Sebastian forschend, was eher wie eine Frage klang. Wir warfen Kiki fragende Blicke zu, nur Coral grinste in sich hinein, als wüsste sie schon längst Bescheid.
"Nein nein, die Blumen sind super ausgewählt", versicherte Kiki ihm, musste jedoch erneut niesen, was Coral dazu veranlasste, einzugreifen.
"Vielleicht ist es ja dein Parfum", riet Coral und betrachtete ihre Nägel, um nicht auf den schockierten Blick von Sebastian reagieren zu müssen. Es war clever von Coral, Kiki aus der Patsche zu helfen, indem sie einfach an Sebastians schlechtes Gewissen appellierte. Dieser verstummte und blickte offenbar peinlich berührt zu Boden. Kiki, die anscheinend tatsächlich eine Allergie gegen Dahlien hatte, nieste noch einmal zur Bekräftigung. In diesem Moment tauchte auch Oskar auf der Treppe auf und überfiel Alice mit einer sanften Umarmung.
Während sich die Jungs also angeregt mit meinen Freundinnen austauschten, nutzte ich die Gelegenheit, um nach Eric Ausschau zu halten. Wo steckte er nur? Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Tore zur Aula geöffnet wurden. Ein Blick auf die große Wanduhr über den Türen der Mensa bestätigte meine Vermutung. Noch zwei Minuten.
Mein Blick fiel wieder in die Menge. Und dort entdeckte ich nicht Eric, sondern Christian, der bei einigen Jungs aus der Unterprima Gesellschaft gefunden hatte und im selben Moment zu mir hinüber schaute. Wie durch Zufall kreutzten sich unsere Blicke und ich erkannte sowohl Bedauern, als auch Sehnsucht in seinem Blick. Fast hätte es mir leid getan, dass ich nicht zu ihm gegangen war, aber nur fast. Denn plötzlich erschien Grace hinter einem hochgewachsenen Jungen und begrüßte meinen Freund mit einer überschwänglichen Umarmung. Mir blieb jedoch keine Zeit, um auf sie wütend zu sein, denn direkt hinter ihr bahnte sich Eric seinen Weg durch die Massen und schlenderte lässig auf mich zu. Er trug ein schwarzes, geöffnetes Jackett und darunter ein weißes Hemd, um dessen Kragen er einen roten Schlips gebunden hatte, passend zum Element. Seine linke Hand hatte er wie üblich in den Taschen seiner Jeans vergraben, was so heiß aussah, dass ich Christian für einen Moment vollkommen vergessen hatte. Und in der rechten hielt er einen Strauß Nelken. Wie er herausgefunden hatte, dass ausgerechnet das meine Lieblingsblumen waren, blieb mir ein Rätsel.
"Hey, wie sieht's aus? Bist du bereit für den Ball?", fragte er, als ich ihn mit einer Umarmung empfing. Da ich unfähig war, ihm zu antworten und er das offensichtlich bemerkte, überreichte er mir mit einem schelmischen Grinsen den Blumenstrauß. "Falls ich dich sprachlos gemacht habe, dann willst du sicherlich nicht wissen, wie mein Herz geklopft hat, als ich dich in diesem traumhaften Kleid erblickt habe. Du bist wunderschön!" Anstatt mich zu bedanken, nickte ich nur und senkte den Blick. War ich es überhaupt wert, dieses wunderschöne Kleid tragen zu dürfen, nachdem ich so patzig mit meinen Eltern umgegangen war?
Ich merkte, wie die Blicke der anderen auf mir lagen, als ob sie eine Antwort von mir erwarteten. Ich wollte Eric nicht das Gefühl geben, dass er etwas falsch gemacht hatte, aber ich konnte mich für dieses Kompliment nicht bei ihm bedanken. Es erinnerte mich zu sehr an den Fehler, den ich begangen hatte. Coral schien dies zu bemerken und erwies sich einmal mehr an diesem Abend als wahre Freundin.
"Wir sollten dann mal reingehen. Gerade wurden die Türen geöffnet!", verkündete sie und lenkte damit die Aufmerksamkeit auf sich. Dankbar lächelte ich sie an. Sie erwiderte mein Lächeln mit einem Augenzwinkern.
Wir folgten der Schülerscharr in die Aula und in diesem Getümmel hätte ich fast nicht bemerkt, dass Eric meine Hand ergriffen hatte. Wenn sie nicht so wunderbar warm und beruhigend auf mich wirken würde, hätte ich sie ihm entzogen, denn schließlich war Christian mein fester Freund. Aber seltsamerweise hatte diese Geste etwas Tröstliches.
Ich ließ meinen Blick ein wenig in der Umgebung umherschweifen. Die Aula war passend zum Anlass festlich geschmückt. Von der Decke hingen dicke weiße Papphütchen herab, die mit ihrer Glanzfolie wie Eiszapfen wirkten und auch genauso glitzerten, wenn die große Diskokugel in der Mitte das Scheinwerferlicht reflektierte und überall hingen Girlanden und Tücher mit schneeflockenförmigen Mustern. An der Fensterseite waren große Tische aufgestellt worden, an denen mindestens zwölf Personen einen Platz finden würden, ebenso an der Wandseite. Dadurch blieb in der Mitte viel Platz für eine riesige Tanzfläche.
Direkt neben dem Eingang war ein Buffet angerichtet worden, sodass sofort der Duft von Brathähnchen und Zwiebeln zu mir herüber getragen wurde und mir das Wasser im Mund zusammenlief, was mich jedoch nicht daran hinderte, mich weiter in der Aula umzusehen. Ganz vorne auf dem Podium standen Mrs Crumber und Mr Gaster, die anscheinend noch in ein tiefes Gespräch versunken waren. Und hinter ihnen saßen einige Schüler mit Streichinstrumenten, die wohl das Lied für den Eröffnungstanz spielen sollten.
Als ich einen Blick zu den Tischen am Fenster werfen wollte, um die Tischdeko zu bewundern, nahmen mir mondscheinblonde Haare die Sicht. Vor uns liefen Grace und Christian.
Im Nachhinein wusste ich nicht, warum ich das getan hatte, aber in diesem Moment ergriff ich Erics Hand fester, was mir einen fragenden Blick von ihm einbrachte.
"Ist alles in Ordnung?", fragte er hilfsbereit. Anstatt zu antworten schluckte ich nur und nickte leicht. Grace war mit Eric befreundet, also würde ich sicherlich nicht die erstbeste Gelegenheit nutzen, um mich bei ihm über sie auszulassen. Und ich hielt es genauso wenig für eine gute Idee, ihm zu erzählen, dass Grace in Begleitung meines festen Freundes auf dem Ball auftauchte. Vielleicht würde ihn die Tatsache, dass ich schon vergeben war, verunsichern.
Coral und Drew, die vorrausgegangen waren, hatten sich bereits für einen Tisch am Fenster entschieden, auf den wir nun zusteuerten und auch Kiki und Sebastian kämpften sich neben uns durch die Schülermenge. Glücklicherweise war die Aula ziemlich groß, denn ich bezweifelte, dass alle vier Jahrgänge in einem kleineren Saal Platz gefunden hätten.
Als wir den Tisch erreichten, ließ ich mich direkt neben Kiki nieder, die offenbar noch immer damit beschäftigt war, Sebastian zu betrachten. Eric setzte sich mir gegenüber und auf meiner anderen Seite nahm Oskar Platz, der nur Augen für Alice hatte, die nun rechts von Eric saß. Da mich Eric die ganze Zeit musterte und mir seine Blicke mit der Zeit unangenehm wurden, wandte ich den Blick ab und suchte noch einmal Christian, der sich zusammen mit Grace an den Tisch von Cyan, Lizzy und den anderen Feuerbändigern der Unterprima gesetzt hatte. Enttäuscht senkte ich den Blick, denn ich hatte gehofft, dass er sich vielleicht zu unserem Tisch gesellen würde.
Nach einigen Minuten hatten endlich auch die letzten Schüler einen Platz gefunden und unterhielten sich über den bevorstehenden Eröffnungstanz, über den die Gründer sicherlich noch ein paar Worte verlieren würden. Doch Mrs Crumber hatte sichtlich Schwierigkeiten die Aufmerksamkeit der Schüler auf sich zu lenken. Jetzt wäre wohl eine ähnliche Darbietung wie die von Mrs Chatfield nötig gewesen, die uns zu Beginn des Schuljahres ihren Feuerdrachen präsentiert hatte, um sich Gehör zu verschaffen. Doch Mrs Crumber wusste sich auch anders zu helfen.
Sie wies Mr Gaster an, die Streicher zu dirigieren und keine Sekunde später war der Saal erfüllt von zarten Violinenklängen. Allmählich ebbte das Getuschel unter den Schülern ab.
Mrs Crumber wartete noch, bis die Instrumente wieder verstummt waren. Dann trat sie an das Pult, an dem sonst immer Mrs Chatfield ihre Reden gehalten hatte und beugte sich über das Mikrofon.
"Guten Abend liebe Schüler und Schülerinnen", begann sie und räusperte sich leicht. "Wir freuen uns sehr, euch heute zu unserem winterlichen Schneeball willkommen heißen zu dürfen und wir hoffen, dass ihr eine Menge Spaß haben werdet. Dieses Ereignis ist schließlich etwas ganz Besonderes und wird auch nicht in jedem Schuljahr stattfinden. Anlässlich des Schüleraustausches sind Mrs Chatfield und ich uns einig gewesen, dass die Partnerschaft zur Elemava-Akademie in Australien durch einen Schulball gefeiert werden sollte und aus diesem Grund haben wir einen Winterball ins Leben gerufen, den wir mit viel Zeit und Hilfe auf die Beine stellen konnten. An dieser Stelle bitte ich um einen riesigen Applaus für die Oberstufenschüler und die Schülersprecher, die sich bereitgestellt haben, die Feierlichkeit zu organisieren." Sie lächelte herzlich, als tosender Beifall und Jubel ertönte. Als sich der Applaus gelegt hatte, fuhr sie fort.
"Da dieser Ball zu Ehren der Austauschschüler stattfindet, möchten wir unsere acht Ehrengäste gerne dazu einladen, uns den Eröffnungstanz vorzuführen. Selbstverständlich zu einem schwungvollen Walzer. Wenn Sie sich also bitte mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin auf der Tanzfläche einfinden würden... Und auch hier möchte ich um einen großen Applaus bitten für unsere talentierten Streicher und Streicherinnen."
Während erneut Beifall ertönte, warf ich Eric einen überraschten Blick zu. Wenn ich gewusst hätte, dass ich in Begleitung eines Austauschschülers einen Eröffnungstanz hinlegen musste, hätte ich Eric wahrscheinlich nicht so leicht zugesagt. Denn meine Erfahrung im Paartanzen hielt sich wirklich in Grenzen. Eric jedoch schenkte mir ein süffisantes Grinsen.
"Du kennst doch die Schritte im Walzer oder nicht?" Das war eine rhetorische Frage. Er wusste, dass ich sie nicht richtig beherrschte. Während sich also die anderen Austauschschüler von ihren Sitzen erhoben, zögerte ich und biss mir verzweifelt auf die Unterlippe.
"Wo warst du denn als Coral, Alice und ich den Tanzkurs besucht haben?", warf Kiki ein und sah mich konsterniert an. Auf meiner Stirn musste wohl ein relativ großes Fragezeichen erschienen sein, denn als ich mich zu Alice umdrehte, schüttelte diese ungläubig mit dem Kopf.
"Der war letztes Wochenende, als du dich in der Bibliothek verkrochen hast. Aber wie kann denn jemand nicht einen einzigen Walzerschritt kennen? Hattest du nie einen Ball an der Middle School? Da gibt es doch für jeden Mist einen."
Ich zuckte nur mit den Schultern. Ich konnte den anderen ja schlecht sagen, dass ich nie zu den Bällen an meiner alten Schule gegangen war, da ich nie eine Begleitung hatte. Und das eine Mal, als mich ein Afroamerikaner aus der Parallelklasse gefragt hatte, war ich dem Armen zig Mal auf die Füße getreten, da ich nicht gedacht hätte, dass ich einen Tanzkurs brauchen würde, weil mich sowieso niemanden fragte.
"Wir haben dir doch gesagt, dass wir den Kurs besuchen und dich sogar gefragt, ob du mitwillst. Aber du wolltest ja mit niemandem reden und hast wegen deinen Eltern rumgeheult und bloß gemeint, du hättest keine Zeit", empörte sich Coral und verschränkte die Arme vor der Brust. Kiki bombardierte sie mit bösen Blicken und stieß ihr den Ellenbogen in die Seite.
"Was denn? Stimmt doch", verteidigte sie sich, woraufhin ihr Drew beruhigend die Schulter tätschelte.
Nope, das stimmte ganz und gar nicht. Ich hatte mir keine Sorgen um meine Eltern gemacht. Ich war einfach nur fertig gewesen wegen der Sache mit Christian und Grace. Eventuell war ich dadurch ein wenig abgelenkt gewesen.
"Das ist ja auch vollkommen egal. Ich kann das nicht. Eric, du musst dir ein anderes Mädchen suchen, das den Eröffnungstanz mit dir tanzst", flehte ich und fügte in Gedanken hinzu Das dürfte ja nicht so schwer sein. Ich beobachtete, wie die Austauschschüler auf der Tanzfläche auf Eric warteten, Grace und Christian eingeschlossen, und ich entdeckte an den Tischen auch einige Mädchen, die mich mit ihren Blicken darum beneideten, diesen Walzer mit Eric tanzen zu dürfen.
"Auf keinen Fall! Ich habe dich als meine Begleitung erwählt, weil ich mit dir tanzen wollte und genau das werde ich jetzt tun. Und mir ist vollkommen egal, was sie anderen über uns sagen werden oder ob ich mich wegen dir blamiere. Die sollen über mich denken, was sie wollen. Aber diesen Moment können sie uns nicht kaputtmachen, hörst du? Es wird niemanden kümmern, ob du die Schritte kannst oder nicht. Der Moment ist es, was zählt und im Augenblick will ich mit dir dort auf der Tanzfläche stehen, damit jeder sehen kann, wie schön du bist und welches Glück ich habe, dich als Tanzpartnerin zu haben. Ich will mit dir dort stehen und den Moment genießen!"
Eric blickte mich so ernst an, dass ich beinahe vor ihm errötet wäre. Und er hatte vollkommen recht. Ich sollte keinen Rückzieher machen, nur weil ich befürchtete, mich vor den anderen lächerlich zu machen. Aber dennoch konnte ich dort nicht einfach nur rumstehen. Irgendetwas musste ich doch zu Stande bringen können.
Eric stand nun auf und ging um den Tisch herum. Als er mir seine ausgestreckte Hand hinhielt, konnte ich beinahe das Ulala aus Alice' Richtung vernehmen.
"Ich werde dich einfach führen. Solange wir im Takt bleiben, ist alles gut. Du musst schließlich keinen Walzer tanzen, um dich vor den anderen zu beweisen. Wir gehen es einfach ganz langsam an, okay?"
Erics positive Einstellung lullte mich so dermaßen ein, dass ich ihm diese Bitte nicht abschlagen konnte. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass in diesem Raum nun alle Blicke auf mir lagen und jene, die Erics ermutigende Worte mitbekommen hatten, schienen mich ebenso erwartungsvoll anzublicken, wie Eric in diesem Augenblick. Also riss ich mich zusammen und legte meine Hand in Erics.
Langsam erhob ich mich von meinem Stuhl und atmete tief durch. "Okay, bin bereit", log ich.
Eric lächelte aufrichtig und zog mich zu den anderen vier Paaren auf die Tanzfläche. Als wir unsere Plätze eingenommen hatten, gab Mrs Crumber Mr Gaster ein Zeichen. Dieser stellte sich in Position, um die Streicher zu dirigieren. Und bevor ich einen weiteren klaren Gedanken fassen konnte, erklangen die ersten Violinen. Und dann tanzte ich. Ich schwebte mit einem blonden Gott über eine riesige Tanzfläche unter funkelnden Lichtern und tanzte meinen ersten Walzer.
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