28. Ein Verlust durch Worte
Bereits einen Tag nach der Verkündung des Schneeballs war das Event das Gesprächsthema an der Akademie. Kein Unterricht verlief ohne Gekicher oder heimliche Briefchen, die durch den Klassenraum flogen. Auf den Fluren traf man ständig Mädchen an, die gerade von einem Jungen gefragt wurden und auf den Gängen zu den Schlafräumen türmte sich die Post, als wäre Weihnachten nach vorn verlegt worden. Einige der Jungen schienen mit weit mehr als einer Anfrage bei ihren Mädchen punkten zu wollen.
Manchmal fand sich zwischen den Päckchen aber auch ein Brief. Die schüchternen Jungen, die sich nicht trauten persönlich oder ein Mädchen in Gesellschaft ihrer Gruppe anzusprechen, schrieben allerhand Briefe und legten sie vor die Türen ihrer Angebeteten. Nicht selten erwischte ich einen Jungen dabei, wie er seinen Brief austrug und konnte mir ein Augenrollen nicht verkneifen.
Als meine Freundinnen und ich zum Abendessen hinuntergingen, begann Alice zu erzählen, wie sie in der großen Pause von Oskar gerfragt worden war, was sowohl Cat, als auch Kiki brennend interessierte, denn außer Alice hatte noch niemand von uns eine Begleitung für den Ball.
"Ich bin an ihnen vorbei über die Wiese gelaufen, weil ich meine Tasche am Wasserbecken vergessen hatte und dann kam ich zurück und Oskar kam auf mich zugeschlendert. Und dann hat er mich einfach gefragt, vor seinen Freunden und ich war erstmal so sprachlos, dass ich unfähig war Ja zu sagen. Und dann hat er mich angelächelt und ich konnte nicht anders, als dieses Ja auszuspucken, das mir auf der Zunge lag. Um uns herum haben auf einmal alle gekichert und als er gegangen ist, musste ich erstmal mein Grinsen verbergen vor all den Augen der Umstehenden", schwärmte Alice, woraufhin Kiki anfing zu kichern.
"Das klingt ja wie in einem Märchen", erwiderte Coral teils belustigt, teils gelangweilt.
"Ich habe mich auch beinahe so gefühlt. Und Angelinas neidischen Blick zu sehen war fast noch besser", berichtete Alice und konnte sich ein Grinsen offensichtlich nicht verkneifen. "Aber wie sieht es denn bei euch aus? Habt ihr schon ein Auge auf jemanden geworfen?", fragte sie und schaute dabei Cat an, da bekannt war, dass sie als Einzige nicht verliebt war. Cat seufzte.
"Es gibt nur einen mit dem ich gerne tanzen würde", sagte sie leise und blickte mich an. Ich schluckte angesichts der Tatsache, dass sie ihre eigenen, alten Wunden wieder aufriss und an meine Schuldgefühle appellierte, indem sie Chris' Tod ansprach.
"Aber das hält mich ja nicht davon ab, nach jemand anderem Ausschau zuhalten", fuhr sie schnell fort und ich atmete erleichtert auf, als sie das Thema bei Seite schob. Dann hielt sie kurz inne und starrte auf einen Punkt hinter Coral, die anscheinend ganz in Gedanken vertieft war. Plötzlich blieb sie grinsend auf der Treppe stehen.
"Na Coral, hat Drew dich denn schon gefragt?"
Ich folgte Cats Blick und entdeckte Drew, der sich von hinten an unsere Gruppe herangeschlichen hatte. Coral zuckte zusammen und wäre beinahe gegen das Geländer der Treppe gestolpert.
"Ähm... also ich, ich weiß nicht.... ich... bin mir nicht so sicher, ob... ob er mich überhaupt fragen möchte", stammelte sie. Drew hinter ihr hielt sich die Hand vor den Mund, bevor ihn sein Prusten verraten konnte. Coral bemerkte, dass alle Augen in ihre Richtung starrten, doch bevor sie fragen konnte, warum wir sie alle so ansahen, meldete sich Drews warme Stimme zu Wort.
"Natürlich möchte er, sonst würde er nämlich jetzt nicht hinter dir stehen", antwortete er und lehnte sich lässig gegen das Treppengeländer, die Hände in den Hosentaschen. Coral fuhr herum, als wäre sie vom Blitz getroffen worden und lief rot an. Peinlich berührt fragte sie: "W... was machst du denn hier?"
"Dich fragen, ob du mit mir auf den Ball gehen möchtest", verkündete er und fuhr sich durch die roten Haare. Coral schwieg für einen Moment, in dem wir anderen grinsend die Luft anhielten.
"Du Idiot, wag es ja nicht, mich wieder bei einem Gespräch zu belauschen oder ich donnere dir am Tag des Schneeballs meine Absatzschuhe gegen den Schädel", fuhr Coral ihn an. Einen Moment lang blickte Alice Coral erschrocken an und Cat sog scharf die Luft ein. Doch Drew tat etwas ganz unerwartetes: er lachte amüsiert.
"So kenne ich meine Coral. Also, ist das jetzt ein Ja?", wollte er unbeirrt wissen. Coral zögerte nicht lange.
"Du kennst mich überhaupt nicht. Denn wenn du es würdest, wüsstest du, dass ich Absatzschuhe verabscheue und bräuchtest erst gar nicht nachfragen. Selbstverständlich ist das ein Ja, Blödmann", sagte Coral nun mit einem zarten Lächeln auf den Lippen, das sich auf uns zu übertragen schien. Damit hatte das Schicksal an diesem Tag schon zwei Mädchen glücklich gemacht.
Coral blieb auch den ganzen Tag glücklich. Beim Abendessen beteiligte sie sich mehr denn je an den Gesprächen, vor allem, wenn es um den Winterball ging. Cat hingegen hielt sich heute eher zurück mit dem Reden. Sie stocherte gedankenversunken mit ihrer Gabel in ihrem Spaghetti-Berg herum und wirkte irgendwie abwesend. Doch als ich sie fragte, ob alles okay war, bejahte sie meine Frage und wandte sich wieder ab.
Nach dem Essen gingen meine Freundinnen schnurstracks zurück auf unser Zimmer. Ich zog es jedoch vor, noch einen kleinen Umweg in den Feuerbändigertrakt zu machen, um Christian zu besuchen. Er war erst heute Mittag entlassen worden und ich hatte irgendwie noch nicht die Zeit gefunden, noch einmal mit ihm zu reden, weshalb ich dies schnell nachholen würde. Als ich den Gang zu seinem Zimmer betrat, empfing mich eine nahezu merkwürdige Stille, die in mir alle Alarmglocken zum Klingeln brachte. Ich blieb kurz vor Christians Tür mitten im Gang stehen und blickte mich zu allen Seiten um. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich beobachtet wurde...
Allerdings war die Deckenbeleuchtung anscheinend defekt, als hätte der Bewegungsmelder meine Schritte gar nicht wahr genommen. Der Flur lag also komplett im Dunkeln, zumal sich wohl jemand zudem die Mühe gemacht hatte, das Rollo des kleinen Fensters am Ende des Ganges herunterzuziehen. Auf meinen Armen bildete sich eine leichte Gänsehaut und ich spürte, wie die Temperatur um mich herum bis zu Minusgraden sank. Kein Zweifel- ich war nicht allein.
Ich lief ein paar Schritte weiter an den ersten Zimmertüren vorbei. Als ich den halben Gang passiert hatte, begannen die Lampen über mir zu flackern, doch das Licht verlosch kurz darauf sofort. Langsam setzte ich meinen Lauf fort und trat an das Fenster am Ende des Ganges. Ich holte tief Luft und zog die Rolläden nach oben. Das letzte Tageslicht spendete mir einen Hauch von Sicherheit.
Zufrieden drehte ich mich wieder um und realisierte plötzlich aus dem Augenwinkel eine Bewegung hinter der Glastür, durch die ich vor einigen Minuten hindurch getreten war. Bei genauerem Hinsehen ließen sich zarte Umrisse einer pechschwarzen Hand erkennen, die gegen das Glas gepresst wurde. Ein Schatten! Es konnte nur der Spion sein.
Erst nach wenigen Sekunden fiel mir auf, dass ich rannte. Direkt auf das andere Ende des Flures zu, die Glastür fest im Blick. Dort angekommen stieß ich die Glastür auf, die Wasserkugel bereits in den Händen haltend. Aber dort, wo ich eben noch den Schatten vermutet hatte, befand sich nur gähnende Leere.
Enttäuscht ließ ich die Wasserkugel verschwinden. Ich war mir ziemlich sicher, dass diese Schattenhand an der Glastür keine Einbildung, sondern real gewesen war. Ich lauschte wieder in die Dunkelheit hinein und hörte... nichts. Nichts außer einigen schweren Atemzügen aus einer weiteren Tür hinter mir. Bevor ich mich darüber ärgern konnte, dass mir der Spion anscheinend entwischt war, zog ich ruckartig die hölzerne Tür auf und zum Vorschein kamen eine winzige Besenkammer und zwei mir bekannte Gestalten, die sich so innig küssten, dass es mir im Nachhinein peinlich war, sie bei ihrem Vorhaben gestört zu haben.
Cyan, der asiatische Junge, der durch das Austauschprogramm an unsere Schule gelangt war und der das Feuer bändigen konnte, drängte eine zierliche Gestalt an die Wand, die ihre Arme um seinen Hals geschlungen hatte und ihre Lippen begierig auf seinen Mund presste. Und als ich die Tür noch etwas weiter öffnete, beleuchtete das Lampenlicht aus dem Gang, das wieder bestens funktionierte auch die zweite Gestalt, die ich als Elizabeth erkannte. Ebenfalls eine Austauschschülerin, die das Erdbändigen beherrschte. Am liebsten hätte ich die Tür aprupt wieder zugeschlagen, doch Cyan hatte mich bereits gesehen und riss schockiert die Augen auf. Auch Elizabeth löste sich nun von ihrem Partner, schubste ihn geradezu von sich weg.
"Ähh, es... es ist nicht das, wonach es aussieht", beteuerte Elizabeth sofort, die rot angelaufen war und damit einer Tomate alle Ehre gemacht hätte. Cyan, der noch immer zu atemlos und zu geschockt war, als irgendetwas von sich zu geben, nickte nur langsam. Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Was hatte mich nur dazu geritten, diese verdammte Tür zu öffnen? Es hätte mir klar sein sollen, dass der Spion sich längst aus dem Staub gemacht hatte.
"Ich...", fing ich an und holte tief Luft. Meine Hand umklammerte die Türklinke so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortreten mussten.
"Es tut mir leid, ich wusste nicht dass..." Ich schluckte meinen Scham hinunter. "Tut einfach so, als wäre ich nicht da gewesen", schlug ich vor und knallte die Tür fest hinter mir zu. Mein Herz raste förmlich. Tut einfach so, als wäre ich nicht da gewesen? Was Besseres war mir nicht eingefallen? Was für ein Reinfall! Mit schnellen Schritten entfernte ich mich von der Tür, damit ich keines ihrer weiteren Gespräche mitanhören konnte und miterlebte, wie sie aus der Kammer hervortraten und mich immer noch hier stehen sahen, so peinlich berührt, dass wir alle drei es vorgezogen hätten, in Grund und Boden zu versinken. Kurz darauf war ich wieder zurück in unserem Zimmer und holte erst einmal tief Luft.
Eine Woche später hatte ich den Zwischenfall beinahe erfolgreich aus meinen Gedanken vertrieben. Seitdem ging mir Cyan absichtlich aus dem Weg, was mir nur zu deutlich ausffiel. Elizabeth begegnete mir auf dem Gang oft mit einem knappen Blick und zog es ebenfalls vor, mich zu meiden, was ich ihnen beiden nicht verübeln konnte.
Christian hatte ich am Donnerstag besucht. Begrüßt hatten wir uns nur mit einem schnellen Kuss und geredet hatten wir auch nicht besonders viel. Vielleicht fiel es uns beiden schwer, das Vergangene zu verarbeiten. Er hatte mich auch noch nicht gefragt, ob ich ihn auf dem Schneeball begleiten wollte, obwohl ich inständig hoffte, er würde es noch tun.
Am ersten Samstag im Dezember war dann die Zeit gekommen. Ein neuer Elterntag stand bevor. Einen, den ich am liebsten aus meinem Terminkalender gestrichen hätte. Denn heute hatte ich mir geschworen, meine Eltern auf den Gedanken anzusprechen, der schon seit Monaten in meinem Kopf herumgeisterte. Und irgendwie befürchtete ich, dass die Vermutung, die ich mir zusammengebastelt hatte, stimmte.
Nach dem Frühstück trafen bereits die ersten Busse ein. Meine Eltern wollten gegen halb 12 an der Schule sein. Beide. Das hieß, das ich meinen Zorn auch auf beide richten konnte, wenn es nötig war.
Als ich zur ausgemachten Zeit meine strahlenden Eltern aus dem Bus steigen sah, straffte ich die Schultern, um mir neuen Mut zu machen. Ich brauchte Gewissheit, also musste ich das hier durchziehen. Auch wenn mir ihr Strahlen, das ich ihnen heute aus dem Gesicht wischen musste, einen Stich ins Herz versetzte.
"Schatz, wir haben dich schrecklich vermisst", begrüßte mich meine Mutter, als sie auf mich zu steuerte und zog mich in eine umschwängliche Umarmung. Ich erwiderte sie unsicher und beschloss, meine Eltern heute nicht allzu herzlich zu begrüßen. Ich wollte mir erst sicher sein, dass sie nichts vor mir zu verbergen hatten.
Nach meiner Mum fiel mir auch mein Vater in die Arme und drückte mich so fest, als wäre dies ein Abschied für immer. Mir wurde mulmig zumute, als mir auffiel, dass ich die beiden tatsächlich nicht so schnell wiedersehen würde, wenn sie wirklich das vor mir verbargen, was ich befürchtete. Höchst wahrscheinlich würden meine Eltern noch glimpflich damit davon kommen, dass ich ihnen eine Standpauke hielt.
"Wir haben mal in den Läden nach einem Kleid für deinen Ball Ausschau gehalten und dir was mit gebracht", kam mein Vater gleich zur Sache und schwang sich seinen Rucksack von den Schultern, der mir sofort merkwürdig fehl am Platz gekommen war. Mit einer schnellen Handbewegung öffnete er den Reisverschluss und zog ein relativ großes Päkchen daraus hervor, sodass ich mich fragen musste, wie es überhaupt dort hinein gepasst hatte.
"Danke", sagte ich mit einem knappen Lächeln und nahm das Päkchen, das er mir reichte, entgegen. Es bestand kein Zweifel, dass sich in diesem Paket ein Kleid befand. Doch obwohl mich brennend interessierte, wie es aussah und ob es mir passen würde, riss ich es nicht sofort auf, denn ich wollte keine falsche Freude zeigen.
"Was ist, Schatz? Willst du es nicht aufmachen? Oder sollen wir hoch auf euer Zimmer gehen, damit du es dort anprobieren kannst?", fragte meine Mutter, als sie mein Zögern bemerkte.
"Nein, nein, bloß nicht auf's Zimmer", stieß ich hastig hervor und blickte meine Eltern alarmiert an. Diese warfen mir einen fragenden Blick zu. "Die Eltern einiger meiner Freundinnen kommen nicht und ich will sie dort oben nur ungern stören", erklärte ich schnell. Das war natürlich nicht der Hauptgrund. Die Eltern durften nicht die Zimmer der Schüler betreten, was sogar im Regelwerk unserer Schule vermerkt worden war. Ein einziges Buch oder eine unfertige Hausaufgabe auf dem Schreibtisch, die sich mit den verschiedenen Techniken des Bändigens befassen sollte, würde ausreichen, um einige Eltern misstrauisch werden zu lassen. Es durfte nichts darauf hinweisen, dass diese Schule kein normales Internat, sondern eine nationale Elementbändiger-Akademie war. "Lasst uns doch stattdessen in die Cafeteria gehen!", schlug ich also vor.
"Wie rücksichtsvoll von dir! Das verstehen wir natürlich", antwortete meine Mutter verständnisvoll. "Dann eben noch einmal in die Cafeteria."
Ich atmete hörbar die Luft aus, als sich meine Eltern bereits zum Eingang wandten, denn ich hatte bereits gedacht, sie würden diese Antwort nicht akzeptieren.
Das Päkchen mit dem Kleid noch immer in den Händen haltend, folgte ich den beiden durch die Eingangshalle der Schule, deren Decke von riesigen Säulen gestützt wurde. Wir stiegen die Stufen zum Erdgeschoss hinauf. Direkt gegenüber befand sich bereits die Cafeteria, die auch heute wieder rappelvoll war.
Meine Eltern setzten sich an den momentan einzigen freien Tisch im Saal, welcher für gewöhnlich von den Austauschschülern besetzt wurde. Während mein Vater zur Theke ging, um uns drei Eisbecher zu holen, setzten sich Mum und ich nebeneinander und starrten abwechselnd das Päkchen an, das ich auf dem Tisch plaziert hatte.
"Wir hoffen, es gefällt dir", meinte Mum schließlich, als Dad mit den Eisbechern zurückkehrte, ganz so, als hätte sie sich vorher nicht getraut, die Stille zu brechen. Dad stellte die Eisbecher auf den Tisch und setzte sich zu uns. Ich hatte extra nur eine kleine Kugel gewollt, da ich nicht vor hatte, heute noch viel Eis zu essen. Also, wo sollte ich das Gespräch jetzt anfangen? Vielleicht sollte ich sofort auf den Punkt kommen und sie nicht lange in dem Glauben lassen, dass die Welt in Ordnung war, denn das war sich ganz bestimmt nicht. Ich holte tief Luft.
"Ich... ähm... ich bin absichtlich mit euch in die Cafeteria gegangen, weil ich mit euch reden wollte", brachte ich schließlich hervor, was mir einen beunruhigten Blick von meinen Eltern einfing. Schienen sie bereits zu ahnen, auf was ich hinauswollte?
"Schatz, du weißt, dass du immer mit uns reden kannst. Wenn unsere Tochter ein Problem hat, sind wir gern bereit jede Hilfe anzubieten, die wir geben können", versicherte mir Mum und Dad nickte bestätigend. Ich senkte den Blick.
"Eurer einzigen Tochter, richtig?" Ich blickte auf und bemerkte, wie meine Eltern einen vielsagenden Blick wechselten. Verdammt, es sprach fast nichts mehr gegen meine Vermutung, aber ich wollte einfach nicht, dass sie sich bewahrheitete.
"Sag uns einfach ein Problem und wir versprechen dir, dass wir eine Lösung finden werden. Ist es wegen dem Winterball oder hat dir jemand etwas Böses getan? Hat dich noch kein Junge gefragt? Liebling, du musst ihnen etwas Zeit geben", meldete sich mein Vater zu Wort und blickte mich ernst an. Unglaublich, er hatte meine indirekte Anschuldigung einfach ignoriert.
"Es geht mir nicht um den Winterball", antwortete ich etwas zu heftig. "Es geht mir um euch. Ihr verbergt etwas von mir und ich will von euch wissen, was es ist." Mum zuckte angesichts meiner Forderung merklich zusammen und Dad presste die Lippen aufeinander, als wollte er sich bei diesem unangenehmen Thema enthalten. Ich hatte die beiden deshalb geradeheraus gefragt, weil ich es aus ihrem Mund hören wollte. Ich wollte, dass sie zugaben, dass meine Mutter ein zweites Kind bekommen hatte.
"Da ist nichts, um das du dir Sorgen machen müsstest, Madline", versuchte mich nun meine Mutter zu überzeugen. Doch sie konnte nicht ahnen, dass ich mit meiner Geduld bereits am Ende war. Wenn mir keiner die Wahrheit erzählen wollte, dann musste ich das Thema eben selbst einleiten.
"Also wollt ihr nicht zugeben, dass Mum", ich schenkte ihr einen bitteren Blick", wieder schwanger gewesen ist?"
Der Schock stand meinen Eltern ins Gesicht geschrieben. Mums Gesicht war kreideweiß geworden und Dads unerschütterliche Miene war wie in Stein gemeißelt, obwohl ich ganz genau wusste, das nur eine Kleinigkeit ausreichen würde, dass er hier und jetzt die Tischplatte zertrümmerte. Meine Vermutung hatte also gestimmt. Die ganzen Male, die ich nicht nach Hause kommen konnte und glaubte, es habe an mir gelegen, die ganzen Male, die sie nicht kommen wollten und mich im Stich gelassen hatten, die ganzen Male, die sie mich belogen hatten... und das alles, weil sie mir diese eine Sache verheimlichen wollten: Sie hatten ein zweites Kind bekommen. Normale Kinder hätten sich vielleicht darüber gefreut. Gefreut auf ein Geschwisterchen, auf das man stolz sein konnte. Aber ich nicht. Natürlich nicht. Wieso sollte ich mich über ein Geschwisterkind freuen, das meinen Platz einnahm? Wo meine Eltern mich doch extra auf ein Internat geschickt hatten, weil sie keine Zeit mehr hatten, sich um mich zu kümmern. Aber um ein zweites Kind wollten sie sich kümmern? War ich ihnen tatsächlich so gleichgültig?
"Liebling, was sagst du denn da? Wir haben keine Ahnung, wovon du redest", versuchte es mein Vater noch einmal, doch ich hatte genug gesehen. Die Schuld stand ihnen nahezu ins Gesicht geschrieben. Empörung stieg in mir auf, dass sie es dennoch vorzogen, mir die offensichtliche Wahrheit zu verschweigen.
"Es war ein Unfall, das hätte nicht passieren sollen", stieß Mum nur hervor und warf mir einen mitleidigen Blick zu. Sollte mich das jetzt beruhigen? Selbst wenn es ein Unfall war... es konnte nicht rückgäng gemacht werden.
"Ich kann einfach nicht glauben, dass es wahr ist. Es war nur eine Vermutung, die ich mir zusammengestellt hatte, nachdem ich alle mir gegebenen Puzzleteile geordnet habe. Dass ich nur Dad und nie Mum gesehen habe, dass ich bei unseren Telefonaten Babygeschrei und Gespräche über Babyschnuller und Kinderbetten im Hintergrund vernommen habe. Selbstverständlich ist mir das seitdem nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Aber denkt ihr ernsthaft, es würde mich beruhigen, zu wissen, dass es ein Unfall war?", rief ich und wurde immer lauter, während ich auf meine Eltern einredete. Dabei war ich noch nicht einmal an meinem Höhepunkt angekommen.
"Und jetzt... jetzt sitzt ihr beide hier vor mir, Mum und Dad und anstatt mir zu sagen, dass ihr ein zweites Kind bekommen habt, ein zweites Kind, obwohl ihr nicht einmal genug Zeit hattet, euch um eins zu kümmern, verleugnet ihr auch noch die Tatsache, die längst klar ist. Ihr habt mich verletzt! Verletzt indem ihr mich in dem Glauben gelassen habt, ich hätte Schuld daran, dass ihr nie kommen könnt und ihr habt mich belogen, was die Sache noch viel schlimmer macht. Kann ich euch überhaupt noch meine Eltern nennen? Denkt ihr, dass ich das jetzt noch tun würde. Danke, aber darauf kann ich echt verzichten", schluchzte ich, obgleich ich mir geschworen hatte, ihnen meinen Zorn förmlich ins Gesicht zu schmeißen. Doch nun war es kein Zorn mehr, jetzt war es nur noch Enttäuschung. Enttäuschung darüber, dass ich mir soeben selbst meine Eltern genommen hatte. "Ich möchte, dass ihr geht. Jetzt gleich! Ihr wart im letzten Jahr nicht einmal für mich da, wenn ich euch gebraucht habe. Dadurch habe ich gelernt, meine Probleme selbst zu klären. Ich will eure Hilfe nicht. Behaltet das Kleid und lasst mich allein. Da ihr das schon die ganze Zeit gemacht habt, dürfte das nun für euch keine Schwierigkeit darstellen!"
Entschlossen schob ich den beiden das Paket zu und schob meinen Stuhl zurück. Ich musste den Blick abwenden, damit die beiden nicht bemerkten, wie sich heiße Tränen über meine Wangen ergossen, denn ich wollte ihnen nicht die Genugtuung geben, zu sehen, wie schwer es mir gefallen war, ihnen das ins Gesicht zu sagen. Ich stand auf, verließ mit schnellen Schritten den Saal und wagte es nicht, mich noch einmal umzusehen.
Den ganzen Nachmittag weinte ich, teils wegen meinen verlorenen Eltern, teils wegen meiner Dummheit, sie von mir zu schubsen. Meine Freundinnen standen mir zur Seite und versuchten, mich zu trösten. Aber der Riss in meinem Herzen verheilte nicht. Auch nicht, als ich am Abend unsere Zimmertür öffnete und das Päkchen mit dem Kleid vorfand, auf das jemand einen Zettel geklebt hatte. In fein geschriebener Handschrift stand dort eine Nachricht meiner Eltern. Nur vier Worte: Es tut uns leid.
Schöne Ferien euch! ;D
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