25. Vor dem Tor

Christian

Meine Hand lag auf der Klinke. Sie fühlte sich so fest und kalt an, dass ich mich fragte, ob ich nach all der Zeit ohne ein einziges Gefühl tatsächlich wieder etwas spüren konnte. Es tat gut, endlich etwas Festes unter den Fingerspitzen zu wissen, sei es auch nur ein Hebel, der mir die Richtung in meine Zukunft wies. Den Tod.

Madline hatte versprochen einen Weg zu finden, mich zurück in die reale Welt zu versetzen und nun dämmerte mir langsam die grausame Wahrheit. Sie würde ihr Versprechen nicht halten können.

Drück sie herunter!, forderte die Stimme, die mich dazu getrieben hatte, dem Tor entgegen zu treten. Ob ich sie mir nur einbildete oder ob sie tatsächlich real war, konnte ich momentan nicht sagen. Aber aus einem gewissen Grund empfand ich beim Echo der Stimme kein positives Gefühl. Dennoch betätigte ich die Klinke. Lautlos schwang das Tor auf. Die Sicht auf das, was dahinter lag, hatte sich nicht verändert. Mit blickte noch immer ein weißer, leerer Hintergrund entgegen, der von dem kalten Metall des Tores umrahmt wurde. Ein leichtes Flimmern, das die eisernen Stäbe umgab, ließ den Eingang eines Portals vermuten. Ich musste unwillkürlich schlucken.

Geh hinein!, forderte mich die Stimme auf, bei deren Klang sich auf meinen Armen eine Gänsehaut ausbreitete. Ich zögerte kurz. Sollte ich das wirklich tun? Ich wusste, dass Madline nicht kommen würde. Es gab keinen Ausweg für mich bis auf diesen. Warum sollte ich also länger hier verharren und auf eine Rettung hoffen, die nie eintreten könnte? Doch es hielten mich doch einige Dinge zurück.

Ich wollte noch ein letztes Mal das taubedeckte Gras unter meinen nackten Füßen spüren, den Geschmack von den süßesten Früchten der Erde schmecken. Ich wollte endlich wieder schlafen können, ohne unruhige Gedanken, ganz tief in einem wundervollen Traum versunken, in dem nicht einmal das übelste Unglück der Welt an mich herankommen konnte. Vermissen würde ich die Fähigkeit des Bändigens, die ich in einem anderen Leben nie zurückgewinnen würde und die Kräfte, die mich als Geist kennzeichneten. Ich könnte nie wieder gut machen, was ich in den vergangenen Jahren angerichtet hatte, keine Entschuldigungen an die aussprechen, für die es mir leid tat, die warteten und es verdienten, den Trost in meinen Worten zu finden. Die Erinnerungen an all jene Menschen, die ich kennenlernen durfte, würden verschwimmen. Meine Gefühle würden verblassen und es würde nichts mehr übrig bleiben. Aber das wofür ich tiefste Bedauerung empfand, war etwas anderes, jemand anderes.

Madline. Ihr Name trug etwas kindliches in sich. Ebenso etwas naives, eine Eigenschaft, von der ich ein ganzes Jahr lang profitieren musste. Ich hatte mit ihren Gefühlen gespielt, sie verraten, sie angelogen und ihr zuletzt das Leben gerettet, ohne zu zögern. Ich hatte ihr Unrecht getan, hatte meine Gefühle vor ihr verbergen müssen, weil ich sie als Feind betrachtet hatte. Dabei mochte ich sie. Ihr Lächeln, wenn die Sonne ihr Gesicht bedeckte und ihre langen Haare zum Strahlen brachte. Ihre leuchtenden Augen, wenn ich ihren Blick erwiderte und hingebungsvoll ihrer zarten Stimme lauschte. Ihre Stärke, die stets parallel von der Angst begleitet wurde und nicht zuletzt ihre Lippen, so weich und rosig, wie sie auf meinen eigenen lagen, unfähig sich zu lösen. Das würde ich vermissen. Nein, ich würde sie vermissen.

Worauf wartest du?, hallte die Stimme im Nichts. Tritt hinein!

"Ich kann nicht", entgegnete ich entschlossen und ließ die Hand von der Klinke sinken. "Ich bin noch nicht bereit dazu." In der Zwischenwelt herrschte Stille. Die Stimme schwieg. In diesem Moment zerschnitt ein Schrei die Luft.

"Christian?" Mein Herz machte einen Satz. Dort rief jemand meinen Namen, doch es war nicht die Stimme von eben. Nein, diese hier klang nach Leben, nach Verzweiflung und irgendwie auch... nach Sehnsucht. Sie war gekommen, Madline war hier. Ob sie einen Weg gefunden hatte, meinen Körper zum Leben zu erwecken? Ich drehte mich um und erblickte sie, keine fünf Meter von mir entfernt, wie sie genau dort stand, wo sie mich bei ihrem letzten Besuch verlassen hatte.

"Ich bin hier", rief ich voller Erleichterung aus. Die Verzweiflung war von mir gewichen. Doch Madline reagierte nicht.

Sie kann dich nicht hören. Auch nicht sehen, dich geschweige denn fühlen. Dein Körper wird sich in wenigen Minuten komplett aufgelöst haben. So nah am Rande des Todes, wird sie dich kaum wahrnehmen können, antwortete die Stimme abfällig, während Madline ein weiteres Mal meinen Namen rief. Mir kam es so vor, als hätte die Stimme direkt in mein Ohr hineingesprochen.

Sieh es ein! Das Mädchen ist zu spät. Also komm mit mir. Ich kann dir versprechen, dass es dir in meinem Reich der Toten an nichts fehlen wird. Die Stimme hatte einen gierigen Unterton angenommen und ließ mich vor Schreck herumfahren, als sie mir so nah war, wie noch nie. Mein Blick fiel auf das Portal und plötzlich streckte sich mir eine makellose weiße Hand entgegen, die nahezu aus dem Portal herausragte und keinen Körper mit sich herumtrug. Ich wich vor ihr zurück und warf einen Blick über die Schulter zu Madline. Sie war in sich zusammengesunken und hockte am Boden, als bräcuhte sie noch einige Sekunden, um ihren Kummer über die Gewißheit meines Todes hinunterzuschlucken. Sie würde sicherlich gleich fort sein. Also musste ich etwas tun. Nur was? Sie konnte mich nicht sehen, nicht hören und fühlen anscheinend auch nicht.

Was überlegst du noch, mein Junge? In etwa neun Minuten wird man dir die Entscheidung sowieso abnehmen, säuselte die Stimme und vollführte einen Wink mit der körperlosen Hand. Ich ignorierte sie und überlegte, wie ich Madline auf mich aufmerksam machen konnte. Und auf einmal kam mir eine Idee. Langsam schritt ich auf das Tor zu und legte beide Hände um die Klinke.

Solltest du den Einfall haben, ihr die Klinke vor die Füße zu werfen, kannst du dir die Bemühungen sparen. Sie ist der Teil eines Tores, das für lebende Menschen unsichtbar ist und muss nicht in Kontakt zu seinem Gegenstück stehen, um unübersehbar zu bleiben, meldete sich die Stimme zu Wort. Ihre Anwesenheit machte ich nervös, was mich allerdings nicht davon abhielt, sie weiterhin zu ignorieren. Außerdem hatte ich nicht vor, mit der Klinke auf mich aufmerksam zu machen.

Ich zog an der Klinke, so stark ich konnte. Ich befürchtete zwar, dass das Tor nicht zerstört werden konnte, aber vielleicht hatte ich ja Glück. Und das hatte ich tatsächlich. Der Griff bewegte sich, sodass ich ihn ganz einfach aus seiner Verankerung lösen konnte.

Das Teil wird in weniger als fünf Sekunden wieder an seine ursprünglichen Platz zurückgefunden haben, wollte mich die Stimme überzeugen. Doch ich hörte nicht auf sie. Diese Zeit reichte mir vollkommen. Ich wendete das Teil in meinen Händen und überlegte nicht lange. Mit der linken Hand fuhr ich über die schwarfe Kante am herausgerissenen Ende des Metallteils. Augenblicklich wurde mir die Klinke wie von Zauberhand aus der Hand gerissen und schwebte beinahe gemächlich zurück zu seinem Gegenstück. Ich betrachtete meine Hand, welche nun eine dünne Linie zierte. Ich spürte den Schnitt nicht. Das war der Vorteil am untot sein. Blut sickerte aus der Wunde.

Ich schritt vorsichtig auf die am Boden hockende Madline zu und vernahm im Hintergrund, wie die mysteriöse Stimme hörbar nach Luft schnappte. Mir stand relativ wenig Blut zur Verfügung und außerdem war es so blass, dass es für Madline ein leichtes wäre, es zu übersehen. Es gehörte schließlich zu meinem Körper und war daher ebenso unsichtbar, wie ich selbst. Aber eventuell konnte der Kontrast von rotem Blut auf weißem Untergrund ja etwas bewirken.

Ich drehte meine Handfläche gen Boden und ließ zu, dass die Blutstropfen direkt vor Madlines Augen auf das weiße Nichts fielen. Wie erwartet regte sich Madline nicht. Ihre Augen blickten starr geradeaus und waren auf ihre Fußspitzen gesenkt. Ich hätte mir am liebsten die Haare gerauft, doch Aufgeben kam jetzt nicht in Frage. Also hockte ich mich direkt vor sie.

Meine Fingerkuppen streiften den Blutstropfen. Ich vergrößerte ihn. Tatsächlich war nun ein tennisballgroßer blassrosa Fleck am Boden zu erkennen. Vielleicht war er aber auch nur für mich sichtbar, weil ich wusste, dass genau an dieser Stelle einer existierte. Madline blieb unbeeindruckt.

Ich machte einen Schritt auf sie zu und trat ihr leicht auf die Schuhspitzen. Aber sie spürte nicht das Geringste. Ich ging einige Schritte rückwärts, als ich bemerkte, dass sie sich aufrichten wollte. Es sah ganz danach aus, als wollte sie nun verschwinden. Ich wollte es nicht zulassen, musste es aber anscheinend.

Noch einmal ging ich auf sie zu. Sie war so schön. Ihr Anblick wurde einzig von ihrer Verzweiflung und ihrem Kummer betrübt. Und nicht einmal ich, vermochte es, diesen von ihrem Gesicht zu verbannen. Ich konnte nur noch eins: Abschied nehmen.

Ich stellte mich direkt vor sie, stellte mir vor, wie ich ihren Duft einsog und beugte mich näher zu ihr heran. Ein letztes Mal wollte ich das hier tun, auch wenn weder sie, noch ich dieses Erlebnis fühlen und uns später daran erinnern würden. An diesen letzten Kuss, den mir einfach niemand verweigern konnte. Meine Lippen fanden ihre. Ich merkte, wie ich durch sie hindurchglitt, doch das hielt mich keineswegs auf. Ja, das war die Stellung, in der ich sterben wollte. In der ich sterben würde.

Madline

Ich spürte etwas. Ein zaghafter Druck auf meinen Lippen. So leicht, dass es auch Einbildung gewesen sein könnte, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass Hoffnung Wunder wirken kann.

Ich hob den Kopf, hielt mitten in der Bewegung inne und blickte direkt vor mich ins Nichts. Meine Augen zeigten mir eindeutig, dass dort nichts war, doch meine anderen Sinne behaupteten standhaft das Gegenteil, also hob ich meine Hand und prüfte die Umgebung vor mir. Es war fast nichts zu spüren, doch irgendetwas war dort. Um meine Hand hatte sich soeben ein leichter, kaum merklicher Druck gelegt. Ich zog meine Hand zurück und sofort war er verschwunden.

Ich schob die Hand wieder in ihre vorherige Position zurück. Da war er wieder, dieser merkwürdige Druck. Vor mir stand etwas. Oder besser gesagt: Jemand. Sofort wurde mein Körper mit neuer Hoffnung geflutet.

"Christian?", murmelte ich fragend, obwohl ich ganz genau wusste, dass ich seine Antwort nicht würde hören können. Ich bewegte mich vorwärts und vernahm ein leises Geräusch unter meiner Schuhsohle, welches sich irgendwie anhörte wie... Flüssigkeit?

Ich senkte meinen Blick und hockte mich auf den Boden. Meine Augen untersuchten das weiße Nichts vor mir, glitten immer wieder über die endlose, weiße Fläche vor meiner Nase, darauf hoffend, irgendetwas zu finden. Und da war tatsächlich etwas. Ein winziger blassrosa Fleck schimmerte auf der makellosen Oberfläche, nicht größer als ein Tennisball. Mein Herz machte vor Freude Luftsprünge, denn hier war er... der Beweis, dass Christian noch leben könnte. Ich überlegte nicht länger.

Ich schloss konzentriert die Augen und konzentrierte mich auf meinen Wunsch, in die Realität zurückzukehren. Keine Sekunde später stand ich wieder in dem dunklen Kellergewölbe der Akademie. Ich drehte mich zu Kiki und Grace um, die anscheinend bis eben noch in ein Gespräch vertieft waren. Die beiden wirkten erschrocken, als ich direkt aus dem Nichts neben ihnen aufgetaucht war.

"Es ist noch nicht zu spät", informierte ich die beiden, bevor eine von ihnen nach Christians Zustand fragen konnte. "Aber wir müssen uns wirklich beeilen!", fügte ich noch hinzu. Mein Blick wanderte zu Grace. Jetzt lag es nur noch an ihr. Wie sollte ich ihr nur erklären, dass sie einen Teil ihrer Seele spenden musste? Ich holte tief Luft.

"Okay", sagte ich an Grace gewandt. "Das wird sich jetzt sicherlich ziemlich seltsam anhören aber..." Der Satz blieb mir im Halse stecken. Ich schluckte. Dann fuhr ich fort. "Um Christian zu retten bedarf es einer Spende. Genauer gesagt... einer Seelenspende", klärte ich Grace auf, die daraufhin scharf die Luft einsog.

"Eine Seelenspende? Das ist doch wohl nicht dein Ernst!", hoffte Grace. Ihr Gesicht war kreidebleich geworden. Ich konnte es ihr nicht verübeln.

Nach dieser Reaktion wusste ich nicht, was ich auf ihre Aussage erwidern sollte. Es sah ganz so aus, als wären meine Bemühungen umsonst gewesen. Allein ihr Blick sprach Bände. Also versuchte ich zu retten, was noch zu retten war.

"Es muss nur ein Teil deiner Seele sein", versuchte ich sie zu überzeugen.

"Außerdem hast du selbst gesagt, dass es für dich von Vorteil wäre, sich endlich mit einem weiteren Geist austauschen zu können", mischte sich nun auch Kiki ein. Doch Grace verschränkte die Arme vor der Brust und wirkte noch immer sichtlich empört darüber, dass wir sie um einen solchen Gefallen baten. Es war leider keine Kleinigkeiten, die man mit einem Schulterzucken abtun konnte.

"Da wusste ich ja auch noch nicht, dass es sich um eine Seelenspende handelt", warf Grace ein und fuhr sich mit den Händen nervös durch das mondscheinblonde Haar. Es machte den Anschein, als sei sie hin und her gerissen.

"Es tut mir leid, ich hätte es dir gleich sagen sollen", entschuldigte ich mich und senkte schuldbewusst den Blick. "Aber ich habe ihm versprochen, dass ich ihm helfe. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Willst du ihn einfach sterben lassen?"

Auf diese Frage folgte ein betretenes Schweigen. Grace unsichere Miene trieb mir die Sorgen in den Kopf. Ich wusste nicht, wie sie sich entscheiden würde und das beunruhigte mich mehr, als ich zugeben wollte.


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