23. Antworten

Nach einigen Sekunden der Verwirrung löste sich die weiße Lichtmauer vor meinen Augen auf und ich hatte wieder eine klare Sicht auf das Hexenbrett, welches still und unverändert vor uns in der Mitte des Teppichs lag. Kiki warf mir einen Blick zu, den ich nicht so recht deuten konnte.

"Es hat nicht funktioniert", sprach sie laut aus, was auch ich in diesem Moment dachte und betrachtete unsere übereinanderliegenden Finger, die keinen Milimeter von dem Pentagramm gewichen waren. Das Hexenbrett hatte uns keine Antwort gegeben.

"Ich hab es dir doch gesagt. Es ist womöglich eine Fälschung und irgendjemand, der uns in die Irre führen wollte, hat versucht, uns damit reinzulegen. Vielleicht sogar der Spion selbst", behauptete Kiki und hob ihren Finger an.

"Halt!", stoppte ich sie. "Leg ihn noch einmal kurz drauf. Eventuell war das noch nicht alles. Wir könnten das Hexenbrett eben erst eingeschaltet haben, als ich meine Frage gestellt habe und wenn ich es nun etwas frage, könnte es mir direkt eine Antwort geben", vermutete ich hoffnungsvoll. Doch Kiki runzelte nur die Stirn.

"Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass das klappen wird", meinte sie. "Wir sind genau nach den Regeln gegangen und haben das Brett ordentlich angefragt. Wenn es echt wäre, dann hätte es uns auf jeden Fall antworten müssen." Aber obwohl Kiki den Glauben an die Echtheit dieses Hexenbrettes verloren zu haben schien, legte sie ihren Zeigefinger noch einmal zurück auf meinen.

"Also? Wie willst du nun anders vorgehen, als beim letzten Mal? Lässt du die ganze Ansprache weg und beginnst gleich mit der Frage: Hey, kannst du mir mal schnell Auskunft über so nen Spion geben?", wollte Kiki wissen und auf ihrem Gesicht breitete sich unwillkürlich ein Grinsen aus. Ich konnte mir ein Augenrollen nicht verkneifen und wollte ihre Frage bereits verneinen, als eine starke Vibration durch das Hexenbrett ging. Das Holz glühte unter unseren Fingern auf und wurde so warm, dass ich die Hitze unter meiner Haut spüren konnte.

In diesem Moment bewegten sich unsere Fingerkuppen, glitten über das Brett wie von Geisterhand geführt auf ein Wort zu, das die Antwort auf Kikis Frage sein sollte: Ja.

"Ich wusste, dass es echt ist", murmelte ich leise und wagte einen Blick zu Kiki, die nicht bemerkt hatte, dass ihr Mund vor Erstaunen offen stand. Einige Sekunden vergingen, bis sie ihn wieder zuklappte und meinen Finger mit etwas Druck zurück zu unserem Ausgangspunkt schob.

"Ich glaubs ja nicht", flüsterte Kiki in die Stille hinein und beobachtete, wie die glühenden Buchstaben des Ja- Feldes erloschen. "Du hattest recht. Versuch es nochmal!", forderte mich meine Freundin auf.

Ich versuchte mich wieder auf das Brett zu konzentrieren und atmete tief ein und aus. Kiki hatte ihre Frage ziemlich simpel formuliert, aber wir hatten trotzdem eine Antwort erhalten. Deswegen gab ich mir auch keine große Mühe, als ich fragte: "Wer ist der Spion?"

Das Hexenbrett blieb jedoch still und sandte erneut sein grelles, weißes Leuchten aus. Keine Antwort.

Ich überlegte. Was hatte ich bloß anders als Kiki getan? Sie hatte die Frage aus reinem Zufall gestellt und eigentlich rhetorisch gemeint. Aber das war es nicht, was das Hexenbrett in Gang gesetzt hatte. Es schien etwas anderes gewesen zu sein. Etwas über das wir nicht nachgedacht hatten, als wir unsere Fragen gestellt hatten.

Kiki hob, während ich mir das Gehirn zermatterte, das Hexenbrett an und stellte es auf den Kopf, sodass sie die Unterseite des Brettes in Ruhe betrachten konnte. Wahrscheinlich suchte sie nach einem Schalter, der die Vibration ausgelöst hatte, aber sie würde keinen finden, denn auf einmal bemerkte ich, was ich falsch gemacht hatte.

"Ich glaube, ich weiß jetzt, wie ich fragen muss", informierte ich Kiki und nahm ihr das Holzbrett vorsichtig aus der Hand, um es zurück an seinen Platz zu legen.

"Was meinst du?", fragte Kiki und schlug sich gleich darauf die Hand vor den Mund, als sie feststellte, dass sie etwas gefragt hatte. Das Hexenbrett leuchtete jedoch nur grell auf.

"Auf solche Fragen wird es nicht antworten", beruhigte ich sie und legte meinen Zeigefinger wieder in die Mitte des Pentagramms. "Das Hexenbrett hat nicht auf meine erste Frage geantwortet. Das konnte es auch nicht, weil es nur auf Ja-Nein-Fragen reagiert. Mir scheint es, als könnte das Brett uns keine Namen geben oder Orte, die wir erfragen. Vielleicht, weil es nicht ganz fertiggestellt wurde oder das Brett den Namen nicht buchstabieren kann", überlegte ich laut. Kiki starrte mich für einen Moment ungläubig an, dann prustete sie los.

"Ja, warum auch nicht... Hexenbretter können doch auch eine Lese-Rechtschreibschwäche haben", scherzte sie, worauhin ich sie mit einem genervten Blick bedachte.

"Du weißt, dass das so nicht gemeint war. Aber der Grund ist ohnehin Nebensache. Lass es uns noch einmal versuchen und dieses Mal mit einer Frage, deren Antwort entweder Ja oder Nein ist", schlug ich vor. Kiki nickte und legte ihren Finger ein weiteres Mal auf meinen. In meinem Kopf formte sich bereits eine Frage.

"Ist Grace die Person, die wir suchen?", wollte ich schließlich wissen und biss mir gleich darauf fest auf die Unterlippe. Die Frage war zu ungenau. Das Hexenbrett könnte gar nicht wissen, wen ich überhaupt meinte. Aber eine Antwort erhielt ich trotzdem. Unter meinem Finger fühlte ich eine starke Vibration und kurz darauf setzte die bekannte Wärme ein. Unsere Finger bewegten sich und glitten langsam nach links auf das Feld Ja.

Ja! Die Antwort lautete Ja. Sie war es. Mein sechster Sinn hatte also nicht gelogen.

"Bist du dir auch sicher, dass das stimmt?", wandte Kiki ein und sofort rückten unsere Finger gemeinsam auf das Feld Nein. Ich wich Kikis Blick aus.

"Sie wirkte irgendwie doch ganz nett, aber das kann natürlich auch täuschen", erklärte ich, während mein Blick bedachtsam auf dem Brett ruhte. Denn eigentlich war ich mir tatsächlich fast sicher. Um vom Thema abzulenken, fragte ich weiter.

"Ist Sebastian in Kiki verliebt?" Kikis Wangen färbten sich schlagartig rot, als sie hektisch meinen Blick suchte und verzweifelt mit dem Kopf schüttelte. Sie wollte die Antwort nicht wissen, doch die Frage war bereits gestellt. Wieder rutschten unsere Finger über das ebene Holz. Vom Pentagramm bis zum Feld auf der linken Seite: Ja.

Kikis Atmung ging schneller. Beinahe befürchtete ich, sie könnte in Ohnmacht fallen, wenn ich sie nicht rechtzeitig auffing. Ich zog meine Hand vom Brett und legte sie Kiki auf die Schulter. "Da hast du's."

Doch Kiki schüttelte weiterhin ungläubig den Kopf. "Das kann niemals... das wird doch nicht wahr sein", stammelte sie hilflos.

Ich seufzte und schob das Brett bei Seite, damit ich näher an sie heranrutschen konnte. "Ich habe eine Idee, wie wir feststellen können, ob das Brett die Wahrheit sagt. Ich werde noch heute Grace aufsuchen und sie zur Rede stellen. Ich werde irgendwie herausfinden, ob sie der Spion ist oder nicht. Wenn sich herausstellt, dass sie nicht bändigen kann und das Hexenbrett die Wahrheit gesagt hat, wirst du zu Sebastian gehen und ihm frei heraus sagen, was du für ihn empfindest. Wenn Grace allerdings nicht die gesuchte Person ist, dann erledigen wir dieses Lügenbrett zu Brennholz und vergessen die ganze Sache einfach. Einverstanden?"

Kiki kaute nervös auf ihrer Wange und ließ sich mein Angebot durch den Kopf gehen. "Okay", willigte sie leise ein und hob den Kopf. "Wenn alles so ist, wie das Brett vorrausgesagt ist, werde ich irgendwann mit Sebastian reden. Aber ich werde es garantiert nicht sofort tun, sondern erst einmal seine Reaktionen auf mich beobachten", entschied sie und nickte entschlossen.

"Okay, das ist natürlich in Ordnung. Ich möchte dich sicher nicht dazu zwingen", erinnerte ich sie und warf einen kurzen Blick auf die Uhr über unserer Zimmertür. "Mist, der Unterricht ist gleich vorbei. Wir sollten lieber das Hexenbrett verstecken, bevor die anderen etwas mitkriegen."

"Wann wollen wir es ihnen erzählen?", fragte Kiki und wickelte sich teils abwesend eine ihrer hellbraunen Haarsträhnen um den Finger.

"Ich würde sagen nachdem wir mit Grace gesprochen haben. Und ich habe vor, dies nach dem Essen zu tun", teilte ich Kiki mit, stand auf und ging zum Fenster, um einen Blick hinaus zu werfen. Tatsächlich war sie gerade mit einer ihrer Mitschülerinnen auf dem Weg zum Schulgebäude.

"Okay, ich werde dich vorsichtshalber begleiten, wenn es soweit ist", beschloss Kiki. Ich sagte nichts dazu und betrachtete stattdesssen Grace. Sie wirkte so normal und unscheinbar. Doch sie hatte ein Geheimnis und es war an der Zeit, es zu lüften...

Genervt stemmte ich meinen Ellenbogen auf die Tischplatte. Kiki, Coral, Alice und ich saßen nun schon seit fünfundvierzig Minuten neben dem Tisch der Austauschschüler und beobachteten jede kleinste Bewegung von Grace, als könnte sie sich jeden Moment in einen feuerspeienden Drachen verwandeln.

Cat war derzeit nicht anwesend, wie Coral mir beim Essen mitgeteilt hatte. So langsam wurde es ziemlich auffällig, dass sie nie bei uns war, wenn sie normalerweise anwesend war. Die Frage ihres ständigen Verschwindens würde ich auch noch aufklären, doch das Problem namens Grace hatte erst einmal Vorrang.

"Mein Gott, wie lange brauchen die beim Essen?", wisperte mir Kiki ins Ohr und warf einen unauffälligen Blick zum Tisch der australischen Austauschschüler. "Die werden doch nicht etwa jede amerikanische Schulspezialität kosten, bevor sie endlich satt sind", sagte Kiki und rollte genervt mit den Augen. Ich stimmte ihr mit einem Nicken zu. Irgendwann mussten sie fertig sein.

"Jetzt mal ernsthaft", erhob Coral die Stimme. "Können wir jetzt bitte gehen? Es ist verdammt nochmal Freitag und ihr seid ohnehin schon fertig mit eurem Essen." Alice nickte bekräftigend und fügte hinzu: "Und ich wollte mich nochmal kurz mit Oskar in der Bibliothek treffen."

"Am besten ihr geht schon", bot Kiki an. "Mads und ich kommen nach, wenn wir fertig sind."
"Ihr seid fertig", erinnerte uns Alice und hob skeptisch eine Augenbraue.
"Nein, ich wollte mir noch einen Nachtisch holen, weil der Schokopudding so lecker war", log ich an Alice gewandt.

Coral und Alice warfen sich einen vielsagenden Blick zu.
"Aha, wir werden dann jetzt einfach gehen", verkündete Coral und stand auf. Zögernd erhob sich auch Alice mit ihrem Tablett.
"Guten Appetit noch mit deinem Pudding", wünschte sie mir mit einem schiefen Lächeln und folgte Coral zur Geschirrrückgabe.

"Auffälliger ging's wohl nicht", tadelte mich Kiki, als Coral und Alice den Speisesaal verließen.

"Sorry, aber ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte", entgegnete ich und drehte mich wieder um zum Tisch der Austauschschüler. Diese hatten nun endlich auch ihre Mahlzeit beendet und liefen mit ihren Tabletts an unserem Tisch vorbei. "Hinterher", kommandierte ich und packte mein eigenes Tablett mit festem Griff. Gemeinsam schlängelten wir uns an den leeren Tischen vorbei uns stellten unsere Tabletts ebenfalls vorne auf dem Rollband ab. Grace und die anderen waren bereits auf dem Weg nach draußen. Wir hielten etwas Abstand zu der australischen Gruppe, um zu besprechen, wie wir das Gespräch am besten angehen sollten.

"Okay, wir gehen auf sie zu und du fragst sie irgendwas, damit wir ins Gespräch kommen", plante ich.

"Aber warum denn ich?", wollte Kiki wissen und hielt den Blick weiterhin auf Grace gerichtet.

"Weil du für sie zuständig bist. Sie ist immerhin deine Austauschschülerin", beantwortete ich ihre Frage und wäre beinahe über die nächste Treppenstufe gestolpert, da ich wohl doch etwas zu hektisch unterwegs war. Doch unser "Plan" entpuppte sich als unnötig. Denn im zweiten Stock entfernte sich Grace von der Gruppe und bog nach links zu den Unterrichtsräumen ab. Wir folgten ihr auf leisen Sohlen und taten so, als würden wir angeregt etwas besprechen, ohne ihre Anwesenheit zu bemerken.

Nach einigen Schritten blieb sie vor der Tür des Musikraumes stehen. Suchend sah sie sich um und erblickte Kiki und mich, als wir den Gang entlang schlenderten. Sie wartete und wandte das Gesicht von uns ab. Zu verdächtig für meinen Geschmack. Zugegeben, es war schon ein wenig seltsam, in einem Alter von sechzehn Jahren noch Detektiv zu spielen, aber wir hatten hier wirklich mit einer seltsamen Angelegenheit zu tun.

Wir gingen einfach weiter, sodass wir ihr den Rücken zugewandt hatten. Es wäre zu auffällig gwesen, mitten im Gang stehen zu bleiben oder sich nun umzudrehen und sie anzustarren. Doch Kiki riskierte dennoch einen Blick über die Schulter.

"Sie ist weg", informierte sie mich verwundert und blieb stehen. Ich machte auf dem Absatz kehrt und lief schnellen Schrittes zur Tür des Musikzimmers. In diesem Stockwerk gab es keinen Flur, der vom Hauptgang abzweigte. Es lag also nahe, dass sie in dieses Zimmer hineingegangen war. Doch normalerweise war es um diese Uhrzeit abgeschlossen.... Und dies war der Moment, in dem mir so langsam dämmerte, mit wem wir es hier zu tun hatten.

Kiki kniete sich auf den Boden und starrte konzentriert auf den Spalt unter der Tür. "Ich sehe wie ihr Schatten das Licht verdeckt, das durch das Fenster hineinfällt."

"Geh einen Schritt von der Tür weg und nimm meine Hand!", verlangte ich und stellte mich mittig vor die Tür. Kiki tat wie geheißen und reichte mir ihre Hand, damit ich sie hochziehen konnte.

"Was hast du vor?", fragte sie mich und stellte sich links neben mich.

"Wart's ab", entgegnete ich und ließ sie über mein Wissen im Unklaren. Ich konzentrierte mich auf die Teile in meinem Körper und erfasste gleichzeitig auch die von Kiki. Fokussiert stellte ich mir vor, wie unsere Körper verflossen, sich auflösten. Und im nächsten Moment schritt ich nach vorne ins Nichts und zog Kiki mit einer flinken Handbewegung durch die Tür. Ich konnte ihre Verblüffung spüren, als sie bemerkte, dass wir auf der anderen Seite der verschlossenen Tür standen und ich sie mit Hilfe des Elements Luft aufgelöst hatte. Doch mir blieb keine Zeit meinen Erfolg zu beglückwünschen, denn nun standen wir vor einer völlig perplexen Grace. Einer Grace, deren Körper durchsichtig schimmerte oder besser gesagt, ihr ungewöhnlicher Körper, denn der echte lag bewusstlosen neben ihren durchsichtigen Füßen. Sie hatte ihren Körper verlassen.

"Was bist du?", fragte Kiki in die bedrückende Stille hinein. Doch Grace hatte nicht die Absicht uns Auskunft über ihre Identität zu gewährleisten. Deshalb antwortete ich an ihrer Stelle.

"Kommt dir die Eigenschaft durch Türe und Wände zu gehen ohne ein Luftbändiger zu sein, nicht bekannt vor? Ist dir noch nie jemand begegnet, der das vollbracht hat?" Kikis Stirn lag in Falten, während sie fieberhaft nachdachte. Doch schließlich dämmerte es ihr und ihr Kopf schnellte in die Höhe, die Augen leicht geweitet.

"Ganz genau. Sie ist ein Geist!"

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