22. Hexenmächte
Freitagnachmittag. Die für mich schönste Zeit im normalen Alltagsstress. Grund dafür waren die beiden letzten Stunden des Schultages. Die Stunden, in denen jeder Schüler einfach nur darauf wartet, dass das Abrackern ein Ende hat und man endlich erlöst wird. Genau dieser Moment existierte nicht auf meinem neuen Stundenplan, denn tatsächlich war meine Freistunde auf eben diese beiden Stunden gefallen, sodass ich und Kiki, mit der ich die meisten Kurse gemeinsam hatte, freitags eher Schluss hatten, als die anderen Obersekundaner. Natürlich galt das auch für den Rest der Schüler, die die gleichen Kurse besuchten, wie wir. Allerdings war dies nur die Minderheit.
Während Coral und Alice also in Französisch büffelten und Cat sich in Spanisch langweilte, konnten Kiki und ich die uns gegebene Freizeit in vollen Zügen genießen.
Als an diesem Freitag die Schulglocke zur Mittagspause läutete, konnte ich es gar nicht erwarten, mich irgendwo draußen in die Sonne zu setzen und den Unterprimanern beim Bändigen zuzusehen. Die Temperaturen stiegen selbst im Oktober noch bis zur Zwanzig Grad- Markierung und würden sogar noch höher springen, wenn die Feuerbändigerklasse mit ihren Tricks auspackte.
Kiki hatte eingewilligt, mich auf die Wiese zu begleiten und mir dabei zu helfen, herauszufinden, wer von den Austauschschülern nicht bändigen konnte. Insgeheim wusste ich, dass sie einfach nur Sebastian zuschauen wollte, aber diesen Gedanken sprach ich nicht laut aus.
"Diese Freistunden gefallen mir jetzt schon", meinte Kiki und schloss, während sie neben mir über die Wiese ging, die Augen, um sich das Licht der Nachmittagssonne ins Gesicht scheinen zu lassen.
"Tja, das solltest du lieber nicht so laut vor den anderen sagen, sonst werden sie uns demnächst sofort an die Gurgel gehen", mahnte ich sie mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Aber es stimmte, der Zeitpunkt für ein bisschen Freizeit hätte nicht besser gewählt werden können. Nichts war schöner, als früher ins Wochenende zu starten.
Kiki öffnete wieder die Augen und grinste mich diabolisch an. "Dann weiß ich jetzt, was ich garantiert tun werde", versicherte sie mir, sodass ich nicht anders konnte, als ihr Grinsen zu teilen.
Wir umrundeten das Schulgebäude und liefen schnurstracks auf den Kampfplatz zu, der mich noch immer an den Dienstag des Bändigerwettkampfs erinnerte. Von hier aus hatte man den besten Überblick auf die Feuerstelle, welche als Trainingsplatz für die Feuerbändiger errichtet wurde. Dieser bestand einzig und allein aus aufgeschütteten Holzscheiten, die zur Pyramide getürmt den Platz markierten. Umgeben war das Lagerfeuer von Backsteinen, die nur dazu dienen sollten, Unfälle oder Gefahren zu vermeiden, aufdass sich kein außenstehender Bändiger verbrennen konnte.
Kiki und ich ließen uns mittig auf der Bank nieder, denn auf diesem Platz konnte man am besten zwischen den Bäumen hindurchblicken, welche die Seiten den Kampfplatzes wie eine Mauer umrahmten. Die Bäume erschwerten uns zwar die Sicht auf die Feuerstelle, allerdings dienten sie auch als Vorteil, sodass wir für die Truppe der Feuerbändiger im Verborgenen saßen und nicht so leicht entdeckt werden konnten. Immerhin wäre es zu auffällig, sich mitten im Unterricht ans Feuer zu setzen.
"Ich sehe Sebastian", flüsterte Kiki mir zu und rutschte auf der Bank vor Aufregung hin und her. Ich runzelte die Strin und verzog unwillkürlich das Gesicht, als Kiki Sebastian erwähnte. Schließlich waren wir nicht hierher gekommen, um süße Jungs zu beobachten, sondern um zu erkunden, wer der Spion war.
"Konzentrier dich lieber! Sonst finden wir den Spion nie", erinnerte ich sie und reckte den Kopf, um den Trainingsplatz besser sehen zu können. Kiki fuhr herum, als hätte sie ein Insekt gestochen.
"Sagt das Mädchen, das vor einem Jahr mit einem zusammen war und selbst nichts von seiner Identität wusste", beschwerte sie sich und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Antwort traf mich so unerwartet, dass ich für einen Moment einfach nur inne hielt und ins Nichts starrte.
"Autsch", rutschte es mir dann raus, woraufhin Kiki erschrocken zusammenzuckte.
"Oh, das... tut mir leid. Ich... ähm... will dir damit jetzt nicht unterstellen, dass... also..."
"Nein, ist okay", erwiderte ich lahm. "Du hast ja recht. Ich war einfach zu naiv und verliebt, als dass ich noch irgendetwas anderes außer ihn wahr genommen habe. Ich hätte es eigentlich besser wissen müssen."
Kiki schwieg, als könnte sie nicht wiedersprechen, dass genau das auch ihr Gedanke gewesen war. Und die bittere Wahrheit. Christian hatte es von Anfang an geschafft, mich mit seinem charmanten Lächeln, seinem spitzbübischen Grinsen, seiner lässigen Art und seinen romantischen dunkelbraunen Augen um den Finger zu wickeln. Ich hatte ihm vertraut. Und jenes Vertrauen hatte er gnadenlos ausgenutzt, wie Jes damals. Ich konnte von Glück reden, dass er seinen Fehler eingesehen hätte, denn egal was die anderen mir vorwarfen... wäre er nicht gewesen, hätte ich, so schrecklich es klang, dem Tod ins Auge blicken müssen. Und nun hatte er dies an meiner Stelle getan.
Denn Morgen war es um ihn geschehen. Ein halbes Jahr nach seinem Tod wäre vergangen. Seine Seele würde die Zwischenwelt verlassen und das Totenreich betreten und ich könnte ihn nie wieder sehen!
"Mads, guck mal, wer heute nicht am Unterricht teilnimmt", unterbrach Kiki die Stille und deutete zwischen den Ästen der Bäume hindurch. Ich folgte ihrem Blick und entdeckte eine schlanke Person mit weißblondem, langen Haar, welches in einem französischen Zopf nach hinten geflochten war. Unverkennbar saß dort am Rande des Platzes Grace. Grace, die es offensichtlich nicht für nötig hielt, ihre Feuerbändigerfähigkeiten vor meinen Augen unter Beweis zu stellen. Grace, die zum wiederholten Male dem Feuerbändigen auswich und Grace, die ganz offensichtlich etwas zu verbergen hatte.
"Ich habe doch geahnt, dass mit ihr etwas nicht stimmt", murmelte ich leise und beobachtete jede ihrer Bewegungen mit Argusaugen.
"Das muss nichts heißen. Vielleicht ist sie einfach krank oder fühlt sich gerade nicht gut", überlegte Kiki laut und zuckte mit den Schultern.
"Krank? Ich finde nicht, dass sie krank wirkt", meinte ich und wandte meinen Blick nicht eine Sekunde von ihr ab. Egal, wo Grace war, egal was sie tat, irgendetwas hatte sie stets an sich, was sie verdächtig machte. War es auch nur das kleinste Detail, das ich stets aus den Augen verlor. Kiki jedenfalls rollte genervt mit den Augen.
"Mein Gott, Mads. Das ist echt ein mickriger Beweis. Warum sollte man sie in Australien auf eine Schule für Elementbändiger aufnehmen, wenn sie überhaupt nicht bändigen kann? Bevor jemand zum Schüler einer Elemava Akademy wird, muss er bis auf die Knochen geprüft werden, ob in seinen Adern das Blut eines Elementbändigers fließt. Sicherlich sind die Gründer ihrer Schule nicht so doof, sie ohne die Hilfe des Tests als Elementbändigerin zu erklären. Und überhaupt: Warum sollten wir den Spion ausspionieren?" Nun lag es an mir, mit den Augen zu rollen. Kiki vertauschte hier ganz offensichtlich die Rollen.
"Wir spionieren nicht! Wir... gehen einer Sache auf den Grund!", verbesserte ich sie und wandte meinen Blick von Grace ab.
"Das ist das Gleiche", korrigierte mich Kiki trocken.
"Egal, du lenkst vom Thema ab. Tatsache ist, wir brauchen einen handfesten Beweis. Einen, den selbst sie nicht wiederlegen kann." Ich setzte absichtlich eine fragende Miene auf, da ich bereits eine Idee hatte, auf die ich Kiki mit einem kleinen Schubs in die richtige Richtung hinweisen wollte. Der Beweis ließ sich ganz leicht beschreiben. Schmal, rechteckig, hölzern... irgendwie verhext!
Kiki brauchte noch einige Sekunden bis sie begriff, worauf ich hinauswollte. Dann seufzte sie.
"Ich habe es dir schon einmal gesagt. Kein Hexenbrett der Welt beantwortet dir eine Frage, ohne einen Preis dafür zu verlangen!", erinnerte sie mich und hielt den Blick auf Grace gerichtet.
"Es ist nur eine einzige Frage", warf ich ein. "Was willst du sonst versuchen? Die Variante mit dem Schild am Hals, auf dem steht "Hey, ich suche einen Spion" hatten wir doch schon durchgekaut." Kiki warf mir von der Seite einen ernsten Blick zu.
"Sehr witzig. Ich hoffe, du amüsierst dich, während ich lache", antwortete sie abfällig und ließ ihren Blick erneut zwischen den Bäumen hindurchgleiten, sodass er an Sebastian hängen blieb. Sie beobachtete, wie er in kreisenden Bewegungen sein Feuer durch die Luft schweben ließ, immer darauf bedacht, es vorsichtig in den offenen Handflächen zu halten. Und in diesem Moment wusste ich, wie ich Kiki von meiner Idee überzeugen konnte.
"Ich weiß, dass du mir die Nutzung des Hexenbrettes verbieten willst", setzte ich an, woraufhin Kiki energisch nickte. "Aber wir könnten auch ganz andere Fragen stellen, auf die wir die Antwort schon immer wissen wollten." Kikis Kopf drehte sich um fünfundvierzig Grad, sodass sie mir direkt in die Augen sehen konnte. Ob sie bereits wusste, worauf ich hinaus wollte?
"Du liebst Sebastian, doch hast du dich je gefragt, ob er deine Gefühle erwidert?" Meine Freundin ließ sich diesen Satz eine Sekunde lang durch den Kopf gehen. Schon setzte sie zu einer Antwort an, dennoch zögerte sie. "Wir könnten das ganz leicht herausfinden", ermutigte ich Kiki, die den Blick gesenkt hatte.
"Ich will es wissen", sagte sie leise und schloss die Augen. "Trotzdem kann ich es nicht tun. Was ist, wenn die Antwort nicht die ist, die ich erwartet habe?", fragte mich Kiki und wagte es nicht, mir in die Augen zu sehen, während sie das sagte. Vielleicht aus Angst, ich könnte in ihrem Blick die Furcht erkennen, die sie eigentlich fühlte. Die Furcht, von Sebastian zurückgewiesen zu werden.
"Wäre das so schlimm?", wollte ich wissen und legte ihr sanft meine Hand auf die Schulter. "Du bist ein wundervolles Mädchen. Wenn er das nicht erkennt, ist er selbst schuld." Ich ließ zu, dass Kiki ihren Kopf gegen meine Schulter lehnte, während sie weiterhin die Augen vor der Wahrheit verschloss. Ich wollte für sie da sein. Doch ich wollte auch Antworten. Und es sah fast danach aus, als könnte ich mich für nur eins von beiden entscheiden. Allerdings musste ich es, anders als erwartet, nicht. Nicht heute.
"Okay, dann lass es uns machen. Nur wir beide. Wir erzählen den anderen erstmal nichts und warten ab, was passiert. Wir machen das unter der Bedingung, dass du die Fragen stellst. Wenn etwas schief geht, bist du diejenige, die die Verantwortung dafür trägt. Einverstanden?" Kiki blickte mich scharf über den Rand ihrer Brille hinweg an und presste die Lippen aufeinander, als könnte sie nicht glauben, dass sie sich tatsächlich zu dieser Entscheidung durchgerungen hatte.
"Einverstanden!", entgegnete ich und stieß innerlich einen Seufzer der Erleichterung aus. "Wann ist die beste Zeit, um es zu befragen?", schob ich noch hinterher, um alle Unklarheiten aus der Welt zu schaffen. Doch Kiki stand schon auf und sah herausfordernd auf mich herab.
"Na jetzt!"
Keine zehn Minuten später öffnete ich die Tür zu unserem Fünfer-Zimmer. Kiki und ich hatten noch eine ganze Stunde Zeit, bevor unsere ahnungslosen Freundinnen aus ihrem Unterricht entlassen wurden. Wir betraten das Zimmer und Kiki schloss hinter uns so heftig die Tür, dass ich kurz zusammenzuckte, in dem Glauben, irgendjemand könnte uns durch laute Geräusche auf die Schliche kommen.
Hastig zog ich den Karton wieder unter meinem Bett hervor und hob das Hexenbrett aus der Verpackung. Das Holz fühlte sich so glatt unter meinen Fingern an, dass ich nicht anders konnte, als mit den Fingerspitzen leicht über die Kanten zu gleiten. Ich legte es genau in die Mitte des Teppichs, damit Kiki und ich genug Platz hatten, um das gute Stück in Augenschein zu nehmen.
Ich hockte mich so vor das Hexenbrett, dass ich die Buchstaben problemlos lesen konnte. Schließlich hatte Kiki mir das Fragenstellen überlassen, weshalb sie ihren Platz genau gegenüber einnahm.
"Okay, ziehen wir es durch", sagte sie fest entschlossen und atmete tief durch. Doch bevor ich loslegen konnte, hielt sie mich noch einmal zurück und erinnerte mich an das Versprechen, das ich ihr gegeben hatte: "Nur zwei Fragen. Eine nach Sebastian, eine nach dem Spion und nicht mehr!"
Ich nickte nur leicht und konzentrierte mich wieder auf meine Aufgabe. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwarten würde und konnte nur von Glück reden, dass ich schon in einigen Fantasybüchern gelesen hatte, wie diese ganze Angelegenheit funktionierte.
"Okay, ich stelle jetzt die erste Frage. Wenn ich die gestellt habe, müssen wir unsere Finger auf das Hauptfeld legen. Das ist wahrscheinlich das Pentagramm. Und wir dürfen unsere Finger nicht selbst bewegen, sondern müssen uns vom Brett führen lassen. Wenn die Antwort gegeben wurde, wird uns das Brett auf das Ende- Feld führen und wir können unsere Hand wegnehmen, aber auf keinen Fall vorher. Ich habe zwar keine Ahnung, was dann passiert, aber ich bin auch nicht sonderlich scharf darauf, das herauszufinden", erklärte ich. Kiki legte die Stirn in Falten, als wollte sie es sich lieber anders überlegen, doch sie sagte nichts weiter.
"Okay, dann los. Ich fang mal damit an, jemanden heraufzubeschwören, der uns die Antworten gibt. So wird es in Büchern auch gemacht", erzählte ich und richtete mich im Sitzen auf. Ich atmete noch einmal tief durch. Dann legte ich meine Hand auf das Hauptfeld, in der Hoffnung, es würde so ähnlich wie ein On- Knopf funktionieren. Das tat es tatsächlich.
Durch das Hexenbrett ging eine starke Vibration unter meiner Berührung, sodass sich meine Hand anfühlte, als würden Hunderte von kleinen Ameisen darüberlaufen. Ich räusperte mich und kam mir fast ein wenig doof vor, als ich die Stimme erhob.
"Vorfahren der Hexen, allwissende Hohepriesterinnen, ich nehme Gebrauch von einem Geschenk eurer Hände, das mit größtem Vertrauen an die aufrichtige Erbin weitergegeben wurde. Ich bin anwesend, um mich vor euch Höherstehenden zu verbeugen und aus eurem Wissen Kenntnis zu ziehen, auf das ich den Pfad der richtigen Antwort finden und besteigen werde. Nun rufe ich euch an meine Seite und erbitte eine Antwort auf meine Frage. Mein Name ist Madline und ich frage euch mit Ehrfurcht: "Wer ist der Spion, der unserer Akademie Schaden zufügen möchte?"
Augenblicklich verstummte ich und gab Kiki mit meinem Blick zu verstehen, dass sie ihren Finger auf das Pentagramm legen sollte. Diese warf mir noch kurz einen anerkennenden Blick zu, der wahrscheinlich meiner Rede gelten sollte. Dann legten wir unsere Finger übereinander auf das Sternsymbol, wobei meiner natürlich unten lag, da ich die Hexen befragt hatte. Wieder ging eine Vibration durch das Holz und das Symbol unter unseren Fingern glühte auf, wie der Stern, den es verkörperte. Das Licht erfüllte das gesamte Zimmer und für einen winzigen Moment waren alle Umrisse vor meinen Augen verschwunden. Vor meinen Augen bildete sich eine weiße Wand. Mein Blick ging ins Leere.
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