21. Ein Geschenk der anderen Art
Die beiden Physikstunden flogen so schnell an mir vorrüber, dass mir danach der Kopf vor lauter Definitionen von Halbleiterdioden und Transistoren schwirrte. Kiki jedoch war während des Unterrichtes ganz in ihrem Element. In ihren Aufzeichnungen häuften sich mathematische Formeln der letzten Physikstunden und die physikalischen Grundsätze, die wir vor einiger Zeit gelernt hatten. Ich aber konnte mich so gar nicht auf den Unterricht konzentrieren und Cat scheinbar auch nicht. Sie hatte die Vorgänge des Dotierens und der Rekombination nicht abgeschrieben, sondern zeichnete alles mögliche in ihren Hefter. Gesichter, Vögel und Blumen, wobei ich nebenbei bemerkt, ziemlich schmunzeln musste.
Dies hielt mich aber nicht von den Überlegungen ab, die Grace als Verdächtige kennzeichneten. Sie bändigte selten, das war es, was sie eindeutig als Spionin entlarven könnte. Außerdem wirkte sie generell irgendwie auffällig. Sie hatte mich im Zug neben Kiki sofort angestarrt, als hätte sie meine bloße Anwesenheit gespürt.
Ich beschäftigte mich auch mit der Frage, was nun in diesem Paket enthalten sein könnte und wurde kurz darauf von Kikis Stimme unterbrochen, deren Hand aller fünf Sekunden in die Höhe schnellte.
"Wie kann sie jetzt nur aufpassen?", flüsterte Cat mir zu und nickte in Kikis Richtung. "Ich meine, der Kampf von eben geht mir einfach nicht aus dem Kopf und sie erklärt irgendwelche Definitionen, von denen ich nicht die reinste Ahnung habe, ob ich sie überhaupt irgendwann schon mal gehört habe."
Ich lächelte leicht und deutete auf Cats vollgeschmierten Hefter. "Du kannst sie ja auch nicht gehört haben, wenn du vergessen hast, sie abzuschreiben."
"Aber Mr. Malcom hat schon die Tafel abgewischt und sicherlich ist das ganze Gefasel nicht so wichtig, dass ich durchfalle, wenn ich es nicht aufschreibe", entgegnete Cat und legte gelangweilt ihren Kopf auf die Bank, nur um anschließend zu seufzen und ihren Kuli zu zücken.
"Sag an!", forderte sie lustlos.
"Das Dotieren ist die gezielte Verunreinigung eines Halbleiters durch das Einsetzen von Fremdatomen, die mehr oder weniger Außenelektronen haben, als das Grundelement. Bespiele für das Grundelement sind Silicium und Germanium", las ich laut vor und hob den Blick, als Mr. Malcom mich mit einem freundlichen Blick darauf hinwies, seinem Unterricht zu folgen. Cat kritzelte den Satz in unleserlicher Handschrift auf einen Zettel und gähnte ausgiebig.
"In letzter Zeit passiert nie was Spannendes", beschwerte sie sich und ich musste beinahe losprusten, so falsch lag sie. Mal ganz davon abgesehen, dass sich gerade zwei ganz normalaussehende Jungs einen übernatürlichen Kampf geliefert hatten, wurde doch unsere Schule letztes Jahr von dunklen Schattenwesen angegriffen, die gewöhnliche Menschen nur aus Fantasyromanen kennen. Ich verkniff mir einen Kommentar dazu, um sie nicht wieder an Chris zu erinnern.
"Ich glaube du wirst deine Spannung bald kriegen", informierte ich meine Freundin und grinste, als sie mich überrascht anssah. "Ich hoffe, du liebst es, Päckchen auszupacken", fügte ich hinzu.
Nach dem Unterricht verließen wir fünf den Klassenraum und ich konnte nicht umhin, meine Freundinnen ein wenig zu drängeln. Ich wusste nicht warum, aber irgendwie erhoffte ich mir von diesem Paket etwas, das uns bei der Suche nach dem Spion behilflich sein konnte.
,Zur Lösung deines Problems', hatte an der Unterseite des Kartons gestanden. Da konnte jemand nicht ahnen, dass ich so viel mehr Probleme hatte, als man es für möglich halten konnte.
"Das Paket ist schon vor längerer Zeit ohne Absender hier eingetroffen", erzählte ich den Mädels, als ich unsere Zimmertür aufschloss. "Ich glaube, dass nicht einmal die Adresse oben drauf stand, was merkwürdig ist, da dieses Päckchen nicht bei mir angekommen wäre, hätte es nicht der Absender persönlich vor die Tür gelegt."
"An welchem Tag war das genau?", wollte Coral wissen.
"Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich denke, es war am Tag der Auslosung. Ich bin schnell aus dem Trainingsraum gehastet und hatte keine Zeit mehr, mich noch fertig zu machen. Als ich die Tür geöffnet habe, bin ich beinahe über dieses Paket gestolpert. Ich hatte es schnell unter mein Bett geschoben und wollte es später aufmachen. Aber anscheinend ist es mir dann entfallen."
Ich öffnete die Tür zu unserem Zimmer und kniete mich sofort vor mein Bett, um das Paket darunter hervorzuziehen. Mit meiner Hand ertastete ich vorsichtig die raue Oberfläche des Kartons und schob ihn langsam unter dem Bett hervor. Cat beäugte den Karton kritisch.
"Meinst du nicht, es könnte deine Mutter gwesen sein, die dir einfach nur neue Bücher schicken wollte und vergessen hat, den Absender drauszuschreiben?", rätselte sie, wurde jedoch von Alice unterbrochen. "Und wie erklärst du dir die fehlende Adresse? Sie hätte drauf stehen müssen, sonst wäre das Paket nie hier an der Akademie angekommen."
"Vielleicht ist der Zettel abgefallen, nachdem es mit den Paketen für die anderen Schüler entladen worden ist", meinte Cat und zuckte mit den Schultern. Nun mischte sich auch Kiki ein.
"Das wären alles seltsame Zufälle", behauptete Kiki überzeugt. "Fakt ist, das Paket hat noch nicht einmal die Form eines Buches. Es ist zu flach und definitiv auch zu breit. Ich würde vorschlagen, du packst es endlich aus, damit wir nicht weiter irgendwelche Theorien aufstellen müssen."
Gesagt, getan. Cat reichte mir eine ihrer Scheren und zusammen schnitten wir das Paketband durch und rissen die Verpackung von diesem dubiosen Gegenstand herunter. Der erste Blick, den wir vom Inhalt des Paketes erhielten, fiel auf ein ziemlich einfaches Holzbrett, sodass ich schon fast zu enttäuscht war, um dem wertlosen Stück weiterhin Beachtung zu schenken. Doch letztenendes war es Cat, die den Gegenstand aus seiner Verpackung hob und ihn für jede von uns sichtbar umgekehrt auf den Teppich legte und schließlich vor unseren Augen als das enttarnte, was es eigentlich war.
In das einfache Holz waren zwei Reihen filigraner Großbuchstaben in alphabetischer Reihenfolge geschnitzt. Unter ihnen formte sich ein beeindruckendes Pentagon mit aufwändigen Verzierungen, das exakt die Mitte des Brettes markierte. Eine weitere Reihe darunter zeigte die Zahlen von Null bis Neun. Umrahmt wurde das Bildnis von einer Sonne und einem Mond, die sich parallel gegenüber standen und zwei weiteren Wörtern: Ja und Nein.
Vor uns lag unverkennbar ein Hexenbrett, welches noch nicht einmal so uralt aussah, wie man es sich vorstellen würde.
Kiki sog scharf die Luft ein, als könnte sie den bloßen Anblick des Brettes nicht ertragen, doch ich war so fasziniert, dass ich den schockierten Blicken der anderen keine Beachtung schenkte. Es wirkte so echt, so neu. Und war definitiv nicht an die falsche Adresse geraten. Das hier könnte meine Antwort auf all die Fragen sein, die mir in letzter Zeit die Gedanken vernebelten und mich ununterbrochen Nacht für Nacht quälten.
"Ich weiß, was du jetzt denkst, Mads und ich fühle mich verpflichtet, dir zu sagen: Lass es!", meldete sich Kikis zittrige Stimme zu Wort. Sie tauschte einen nervösen Blick mit Cat. Ich runzelte die Stirn.
"Warum denn? Das ist doch genial. Wenn das Hexenbrett tatsächlich funktioniert, könnte es mir verraten, ob es für Christian noch Hoffnung gibt, wer der Spion ist, wie sein Vorhaben aussieht... All das könnten wir auf eigene Faust nie rechtzeitig herausfinden. Wir hätten keine Beweise und müssten die ganze Zeit blind umherirren, nur um später festzustellen, dass die Antwort die ganze Zeit über vor uns gelegen hat.
Das hier ist DIE Gelegenheit. Eine andere werden wir nicht kriegen. Es ist ein Geschenk!", räumte ich ein und warf einen hilfesuchenden Blick zu Alice und Coral, in der Hoffnung, sie würden meine Meinung teilen.
"Wer sagt denn, dass es echt ist?", sagte Alice und blickte mich ungläubig an. Coral zuckte mit den Schultern, doch Kiki schüttelte den Kopf.
"Himmel, das ist doch alles völlig egal! Wir werden uns doch nicht damit rumschlagen, wenn wir es nicht benutzen wollen", sprach Kiki mit lauter Stimme und rollte aufgebracht mit den Augen. Ich wollte wiedersprechen, aber Kiki ließ mir keine Zeit dazu. "In der Bibliothek hatte ich schon mal kurz ein Buch über die Mythen und Rituale der Hexen in der Hand. Hexenbretter werden in vielen Hexenstämmen hergestellt, aber sie werden speziell nur zu einer Nacht im Jahr verwendet."
"Der Walpurgis-Nacht", murmelte Cat nachdenklich.
"Ganz genau", fuhr Kiki fort. "Die Hexen besteigen einen Hügel, meistens den, unter dem ihre Vorfahren vor langer Zeit ihre Ruhe gefunden haben. Sie entzünden ein Feuer am höchstgelegenen Punkt und vollführen wohl einen traditionellen Tanz, um jene Vorfahren zu ehren. Dann kommt das Hexenbrett ins Spiel. Das Stammesoberhaupt jedes Hexenclans spricht einen Zauber und übergibt das Brett feierlich in die Flammen. Bis Mitternacht werden die Flammen am Holz des Hexenbrettes lecken und es verschlingen bis nur noch einige unverbrannte Stellen zurückbleiben. An diesen Stellen befinden sich die Buchstaben. Sie erheben sich im Rauch des Feuers und ergeben nach und nach den Namen einer Hexe, die dem jeweiligen Clan angehört. Und jene Hexe wird an diesem Abend den Vorfahren, den ältesten Hexen des Stammes geopfert und im Feuer verbrennen."
Für einen Moment herrschte Stille im Zimmer. Kikis Geschichte hörte sich an, wie aus einem Buch vorgetragen. Dennoch ließ ich mich von ihren grunseligen Worten nicht so leicht einschüchtern. "Das hat doch nichts mit dem Befragen der Hexen zu tun", wiedersprach ich.
"Oh doch! Manche Antworten, die ein Hexenbrett ausspuckt, sind nicht die Antworten, auf die Frage, die du ihm gestellt hast. Es funktioniert so, wie eine unklare Prophezeiung. Du verlangst eine Auskunft über die Zukunft und sie wird dir gegeben. Aber wenn du deine Frage nicht richtig formulierst, dann kann deine Antwort alles mögliche bedeuten", wies mich Kiki zurecht und legte sich das Hexenbrett auf ihren Schoß.
"Außerdem verlangen Hexenbretter für das Beantworten besonders schwieriger Fragen oft eine Gegenleistungen, welche dieses Pentagon aufnimmt", erklärte sie und deutete auf das in der Mitte gelegene Zeichen. Promt ließ sie ihre Hand sinken.
"Hexen sind unberechenbar. Ihre Hexenbretter sind verflucht. Hinter ihnen steckt ein schwieriges Konzept und es wäre einfach zu gefährlich. Ich rate dir wirklich, es sein zu lassen."
Tief atmend ließ ich mir Kikis Worte durch den Kopf gehen. Sie gaben mir irgendwie doch zu denken, da an ihnen meistens etwas dran war. Dennoch konnte ich nicht umhin, noch einen hoffnungslosen Blick zu Cat schweifen zu lassen.
"Vergiss es!", erwiderte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. "So gern ich es auch ausprobieren würde, ich muss Kiki leider Recht geben. Wir haben schon einige Mal zu viel riskiert und es danach bereut und das müsstest du doch am besten wissen."
Ich senkte beschämt den Kopf, als ich erkannte, dass sie damit auf meine Lüge hinauswollte, die manchen ehemaligen Elementbändigern unserer Schule das Leben gekostet hatte. Ich wollte Antworten und ich wusste, dass Cat sie auch wollte. Dass es für sie wahrscheinlich um Chris ging. Kiki bemerkte mein Zögern.
"Versprich mir, dass du das nicht einfach so versuchen wirst, trotz meiner Warnungen."
Ich nickte nur, denn ich wollte meine Freundinnen nicht länger anlügen. Freundschaften verlangten Ehrlichkeit und ich würde ehrlich sein. Dennoch konnte ich noch nicht aufgeben. Irgendwie musste ich es schaffen, Kiki zu überreden und ihr klar zu machen, dass wir den Spion so schnell wie möglich finden mussten. Denn auch wenn ich noch keine Beweise für meine Beschuldigung hatte, so glaubte ich noch immer, dass Grace die Austauschschülerin war, die definitiv etwas zu verbergen hatte.
Diese Vermutung wurde vor allem noch einmal bestätigt, als ich unten mit meinen Freundinnen direkt gegenüber vom Tisch der Austauschschüler mein Sandwich verspeiste und einen vorsichtigen Blick zu den Austauschschülern wagte.
Grace saß neben Eric und fragte ihn etwas, das wohl ihren Tee betraf, wie eine kleine Handbewegung in dessen Richtung bestätigte. Daraufhin folgte ein Nicken seinerseits, sodass er die Teetasse von Grace in beide Hände nahm und mit einem einzigen Blick Wärme erzeugte, die den Tee zum Dampfen brachte. Er hatte ihren Tee erhitzt, der wohl nach einiger Zeit im Essensraum abgekühlt war. An sich nichts Ungewöhnliches für einen Feuerbändiger. Einen Feuerbändiger... wie auch Grace einer war. Sie hatte sich den Tee nicht selbst erhitzt, obwohl sie über die Gabe des Feuerbändigens verfügte. Die Frage war nur: Warum?
Für mich war die Entscheidung längst getroffen. Das Hexenbrett war mein goldenes Ticket zur Wahrheit. Ich musste die anderen nur noch überzeugen und wenn ich das geschafft hatte, konnte ich mit Sicherheit beweisen, dass sie die Spionin war oder eben auch nicht. Genussvoll nahm ich einen Schluck von meinem heißen Tee. Zeit, die Überredungskünste auszupacken.
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