14. Verfolgung

Ein paar Tage später saß ich wieder einmal am Schreibtisch und erledigte meine Hausaufgaben. Ich kaute gerade auf meinem Bleistift herum, weil mich Spanisch mal wieder nervte. Die letzten Wochen hatten wir so viele neue Vokabeln gelernt, dass mein Kopf bereits begann, die ersten davon wieder zu vergessen. Vermutlich war mein Gehirn so mit Grübeleien über die vergangenen Ereignisse vollgestopft, dass es für schulische Aufgaben keine Konzentration mehr aufbringen konnte. Und das galt anscheinend nicht nur für theoretische, sondern auch für praktische Aufgaben.

Heute im Wassertraining hatten wir eine neue Lektion begonnen. Darin ging es um das Erschaffen von Schutzwänden, die für Angreifer sowohl von innen, als auch von außen undurchdringbar waren. So richtig gut hatte das Beschwören der Schutzwand bisher noch nicht geklappt, aber das würde sich sciherlich bald ändern.

Cat hingegen schien Wassertraining irgendwie im Blut zu liegen. Sie hatte gleich bei ihrem ersten Versuch eine solide Wasserblase erschaffen, die selbst gegen einen Angriff von Mrs. Bluelight stand hielt. Natürlich freute ich mich mit ihr darüber, dass sie ihre Fähigkeiten so gut unter Kontrolle hatte. Trotzdem gab es einige Tage, an denen ich mir wünschte, ich besäße das gleiche Talent wie sie.

Ich seufzte, sah aus dem Fenster und blies mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Mittlerweile sollte es eigentlich Herbst sein. Davon war bisher allerdings noch nicht viel zu spüren. Am Tag war es draußen noch immer relativ warm, sodass unser Unterricht im Wassertraining eine willkommene Abwechslung zu den ungewöhnlich hohen Temperaturen darstellte. Insbesondere dann, wenn Mrs. Bluelight uns das Eisbändigen zeigte. Nach dem Wassertraining war es dafür jedoch doppelt so qualvoll, sich auf das stickige Zimmer zurückzuziehen und Spanischvokabeln auswendig zu lernen.

Gerade als ich überlegte, meine Schulsachen zusammen zu packen und die Hausaufgaben draußen auf der sonnigen Wiese weiter zu machen, streifte eine Gestalt im schwarzen Kaputzenpulli mein Blickfeld. Diese lief zielstrebig in Richtung des Schattenwaldes, was nicht nur äußerst verdächtig, sondern auch ziemlich markant war. Das dort unten war Christian. Kein Zweifel! Dieses lässige Dahinschlendern würde ich überall wieder erkennen.

Wie von der Tarantel gestochen sprang ich von meinem Stuhl auf und zwar so heftig, dass er mit einem Rumms nach hinten polterte. Ich ignorierte Corals genervtes "Gehts auch leiser?" und hastet in Richtung Zimmertür. Dieses Mal würde ich ihn zur Rede stellen. Schließlich sah ich ihn nun zum ersten Mal seit mehreren Wochen und wusste, dass ich diese Chance nicht verstreichen lassen durfte.

Cat warf mir, bevor ich die Tür zuschmiss, noch einen überraschten Blick zu. Einige Sekunden später rannte ich bereits die Treppen nach unten, drückte unten die große Tür auf und sprintete über die Wiese. Christian lief in weitem Abstand vor mir, hatte jedoch glücklicherweise noch nicht den Waldrand erreicht. Das bedeutete, dass ich ihn noch einholen konnte. Wenn er den Wald vor mir betrat, würde es schwer werden, ihn zwischen den Bäumen zu verfolgen. Aber ich durfte ihn auf keinen Fall verlieren.

Vor mir hatte Christian nun endlich den Waldrand erreicht, weshalb ich mir Mühe gab, noch etwas an Tempo zuzulegen. Er war bereits seit einer halben Minute zwischen den Bäumen verschwunden, als ich endlich an der Grenze des Schattenwalds zum Stehen kam und tief Luft holte, um meinen verräterisch lauten Herzschlag zu beruhigen. Währenddessen sah ich geradenoch, wie sich mein Zielobjekt unter einem tief hängenden Ast hinweg duckte und in der Dunkelheit verschwand. Nach einem kurzen Zögern setzte auch ich einen Schritt in den Wald.

Von einer Sekunde auf die andere wirkte es, als wäre sämtliches Leben aus der Umgebung verschwunden. Bis eben hatte ich nicht einmal das Zwitschern der Vögel bemerkt, doch als es aprupt abgebrochen war, wurde mir die Stille um mich herum nur zu deutlich bewusst. Außer meinem pochenden Herzen und den gleichmäßigen Atemzügen war es um mich herum nun totenstill. Und mit der Stille war auch die Kälte gekommen, die nun langsam in meine Glieder fuhr. Blöderweise hatte ich mir aufgrund der hohen Temperaturen und meines gehetzten Aufbruchs keine Jacke mitgenommen, was ich nun eindeutig bereute.

Da ich Christian bereits zu viel Vorsprung gegeben hatte, setzte ich mich in Bewegung. Dabei ignorierte ich die leichte Gänsehaut, die sich auf meinen Armen auszubreiten begann. Ich nahm den selben Pfad, den ich ihn zuvor hatte entlang gehen sehen und hielt mich dicht im Schatten der Bäume. Nur für den Fall, dass er mich bereits bemerkt hatte und hinter der nächsten Biegung auf mich wartete. Bei ihm konnte man sich nie ganz sicher sein.

Je weiter ich in den Schattenwald hinein lief, umso höher wurden die Bäume, die mich umgaben. Anfangs hatte ich mich noch unter tief hängenden Ästen hinwegducken müssen, doch jetzt waren die Bäume fast so hoch, wie die Flutlichtmasten auf dem Footballfeld meiner alten Schule. Und außerdem hatte sich passend zu den niedrigen Temperaturen, dichter Nebel wie eine Decke über den unebenen Waldboden gelegt. Dadurch konnte ich kaum noch sehen, wo ich meinen Fuß hinsetzte und stolperte einige Male unbeholfen über das knorrige Wurzelwerk. Christian musste taub sein, wenn er mein Keuchen in dieser Stille nicht wahrnahm.

Als ich schon fast glaubte, ihn gar nicht mehr einzuholen, entdeckte ich Christian endlich. Die Hände lässig in den Taschen seines Kapuzenpullis vergraben stand er mit dem Rücken zu mir unter dem gewaltigen Wurzeldach eines Baumes. Dieser ragte so weit in die Höhe, dass ich nicht einmal hätte sagen können, wo sich die Baumkrone befand und besaß einen mächtigen Stamm, der gut drei Meter über dem Wurzeldach in gespenstischem Nebel verschwand. Erst durch diesen Anblick wurde mir bewusst, wie stark sich der Nebel verdichtet hatte.

Ich ging hinter einem dicken Baumstamm in Deckung und wartete. Es wirkte beinahe so, als würde Christian auf irgendjemanden warten und wenn dieser jemand auftauchte, konnte ich das Treffen aus sicherer Entfernung beobachten. Das zumindest war der Plan, den ich mir gerade spontan ausgedacht hatte. Denn eigentlich war ich bei Christians Antlitz direkt los gerannt, ohne mir vorher überlegt zu haben, was genau ich mit meiner wilden Verfolgungsjagd überhaupt erreichen wollte.

Während ich meinen flachen Atemzügen lauschte, ließ ich ihn nicht für eine Sekunde aus den Augen. Zwei Minuten verstrichen, ohne dass etwas passierte. Dann zerschnitt sein sanfter Bariton die Stille.

"Versteh mich nicht falsch. Ich fühle mich durch dein Interesse an mir sehr geschmeichelt, aber ich hätte erwartet, dass du Besseres zu tun hast, als Klassenkameraden im Wald nachzustellen."

Verdammt! Hätte ich mir ja denken können, dass dieser Mistkerl meine Anwesenheit längst bemerkt hatte. Ertappt ließ ich die Hände sinken, die ich bis eben noch angespannt in die Rinde des Baumstamms gekrallt hatte und trat aus meinem Versteck hervor. Christian starrte noch immer den gigantischen Baum vor sich an. Eine Geste, die fast schon arrogant wirkte angesichts der Tatsache, dass er sich meiner Identität anscheinend ziemlich sicher war.

"Ich stelle niemandem nach. Ich beobachte nur", korrigierte ich ihn grimmig. "Aber falls ich mich tatsächlich dazu herablassen würde, Leuten nachzustellen, dann gäbe es sicherlich spannendere Zielobjekte als dich."  Diese Antwort brachte mir immerhin einen Blick über die Schulter von ihm ein. Und ein merkliches, wenn auch kurzes Zucken seiner Mundwinkel. Mit vor der Brust verschränkten Armen näherte ich mich dem Wurzeldach. Zugleich achtete ich jedoch automatisch auf einen sorgfältigen Sicherheitsabstand zwischen uns, denn ich hatte natürlich nicht vergessen, wie er das letzte Mal völlig skrupellos einen Feuerblitz nach mir geworfen hatte. Ich durfte ihm nicht trauen. Vorerst.

"Was willst du von mir?", verlangte er zu wissen und drehte sich endlich zu mir um, die Hände noch immer selbstgefällig in der Tasche seines Pullis vergraben. Ich musterte ihn von oben bis unten. Seine Haltung signalisierte pure Selbstsicherheit und seine Gesichtszüge wirkten so entspannt, dass ich mich unwillkürlich fragte, seit wann er bereits von meiner Anwesenheit gewusst hatte. Er schien jedenfalls nicht im Mindesten überrascht zu sein, mich hier im Schattenwald anzutreffen und noch weniger schien er sich vor einem Angriff meinerseits zu fürchten. Beinahe war ich etwas verärgert darüber, dass er mich so offensichtlich als harmlos einstufte.

"Du bist mir ein paar Antworten schuldig", beantwortete ich seine Frage und hielt den Blick fest auf ihn gerichtet. Seine unschuldigen Augen blitzten amüsiert.

"Tatsächlich?" 

Ich presste die Lippen zusammen und verkniff mir ein Augenrollen. Der Plan sah vor, dass ich hier die Fragen stellte und nicht umgekehrt.

"Du bist mir in den letzten Wochen aus dem Weg gegangen. Ich hätte das sicherlich als Beleidigung empfunden, aber glücklicherweise weiß ich es besser." Ich überwand die letzten Meter zwischen uns und blieb direkt vor ihm stehen. Er sollte ruhig wissen, dass ich mich auch nicht vor einem Angriff seinerseits fürchtete. Selbst, wenn eigentlich das Gegenteil der Fall war. "Du willst meine Fragen nicht beantworten."

Wieder zuckten seine Mundwinkel. "Was lässt dich glauben, dass ich das überhaupt kann?"

Verflucht nochmal! Diese Gegenfragen nagten an meiner Geduld. "Du hast dich mit den Schatten verbündet. Was bedeutet, dass sie dir auch ein Stück weit vertrauen. Ich würde dir auch gern vertrauen. Aber dazu will ich eine Antwort auf meine Frage: Was planen die Schatten? Ist es die Vernichtung des Avatars?"

Sein Gesicht blieb regungslos. Vielleicht lag ich mit meiner Vermutung komplett daneben. Viel wahrscheinlicher war es allerdings, dass er seine Gefühle im Zaum hielt, um mich von der Tatsache abzulenken, dass ich goldrichtig lag.

"Ich wusste es", murmelte ich und wandte fassungslos meinen Blick ab. Christian beteiligte sich am Racheplan der Schatten, an der Ermordung des Avatars. Ich hätte ihm vieles zugetraut, aber ein Mord...? Um meine Gunst zurückzugewinnen, müsste er mir einen wirklich triftigen Grund nennen, warum er sich dazu entschieden hatte, den Schatten bei ihrem Vorhaben zu helfen. Und ich war mir fast sicher, dass er das nicht konnte. Doch nach ein paar Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, seufzte er schließlich.

"Ich musste das tun. Mich mit ihnen verbünden, meine ich." Ich sah auf und begegnete seinem melancholischen Blick. Die schönen haselnussbraunen Augen wirkten plötzlich trüb. "Es ist nicht so, wie du denkst."

Ich war kurz davor, ihn anzuschreien, um ihn davon abzuhalten, weiter in Rätseln mit mir zu sprechen. Doch dann hielt ich inne, dachte über seine Worte nach. Es ist nicht so wie du denkst. Womöglich konnte man diesen Satz in vielerlei Hinsicht interpretieren. Aber mir kam auf einmal ein seltsam einleuchtender Gedanke in den Sinn. Christian beherrschte die Elemente Feuer und Luft. Diese Fähigkeiten kennzeichneten ihn als Geist. Oder etwa nicht? Was war, wenn er eben nicht nur zwei Elemente beherrschte, sondern vier? Wenn er Feuer, Luft, Erde und Wasser bändigen konnte. So wie der Avatar...

Darüber hatte ich bisher noch gar nicht nachgedacht. War es möglich, dass Christian die Schatten angelogen hatte und sich als Geist ausgab, damit der Verdacht von ihm abfiel, dass er der Avatar sein könnte? Das reimte ich mir gerade sehr spontan zusammen, doch es passte irgendwie alles. Also holte ich tief Luft und stellte Christian die Frage, die mir auf der Zunge lag.

"Christian, seit wann weißt du schon, dass du der Avatar bist?"

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top