12. Das Ritual

In den kommenden Nächten schlief ich schlechter denn je.

Meine Freundinnen und ich hatten uns letztes Wochenende die Zeit genommen, ein paar Personen nach unseren Zimmerschlüsseln zu fragen, um herauszufinden, ob sie nicht doch irgendwo aufgetaucht waren. Leider ohne Erfolg und auch die Lehrer schüttelten nur mit dem Kopf, wenn wir sie auf das Problem ansprachen. Es machte beinahe den Anschein, als hätten sich unsere Schlüssel in Luft aufgelöst.

Mr. Dole hatte zwar vorgeschlagen, einen Aushang am schwarzen Brett zu hinterlassen, doch irgendwie bezweifelte ich, dass die Schlüssel dadurch wieder auftauchen würden. Jemand musste sie gestohlen haben. Anders konnte ich mir ihr Verschwinden einfach nicht erklären.

Während ich also im Bett lag, ging ich unzählige Möglichkeiten durch, welche Motive es geben könnte, unsere Zimmerschlüssel zu entwenden. Und immer wieder musste ich mir die Frage stellen, warum es überhaupt jemand auf unsere Zimmerschlüssel abgesehen hatte und nicht auf die eines anderen Zimmers. Wenn ich ehrlich war, hätte es mich nämlich kein bisschen gestört, wenn die Zicken von nebenan sich einmal mit einem anderen Problem herumschlagen müssten, als ihrer morgendlichen Make-Up-Routine und ihrem Hairstyling.

Während ich über diesen Fragen brütete, fiel ich langsam in einen unruhigen Schlaf. Diese Nacht träumte ich erneut davon, wie sich das Ereignis am Pool wiederholte.

Die Schiebetür der Villa zur Terrasse ging erneut auf und die Schüler lachten laut auf, als sie mich in meiner brenzligen Lage sahen.
„Lasst das! Wie würde es euch gefallen, wenn man euch einfach so hochhebt", versuchte ich die Jungs zu überzeugen. Unterdessen trugen sie mich zum Beckenrand des Pools, während etwa hundert amüsierte Augenpaare die Szenerie beobachten.
„Oh lass mich kurz darüber nachdenken, Mads... Das fände ich nicht schlimm, weil es nur bei Strebern wie dir gemacht wird", brüllte Lauren los und Alex fügte hinzu: „Vielleicht müsste sie etwas Wasser trinken um wieder klar zu denken. Oh seht mal, vor uns ist ja welches!"
Bei seinen Worten geriet ich in Panik. Ich konnte nicht viel mehr tun, als wild um mich zu treten und zu hoffen, dass ich mich ihren Griff irgendwie entwinden konnte. Casper quittierte dies mit einem Grinsen und zählte den Countdown: „Drei."
Nein, bitte nicht. Nicht vor all meinen Mitschülern.
„Zwei."
Meine Augen füllten sich mit Tränen.
„Eins" , zählte Casper.
Ich schluckte Wasser.

Schweißgebadet fuhr ich hoch und starrte in die Dunkelheit. Abgesehen von meinem leisen Keuchen war es ruhig im Raum. Keine dröhnende Musik, keine lachenden Mitschüler. Dennoch dauerte es einen Moment bis ich den Schock vollständig verarbeitet hatte.

Ich zwang mich ruhig zu atmen. Ein, aus, ein, aus. Es war vorbei. Ich war nicht mehr am Pool. Ich war in meinem Bett. Das was passiert war, lag nun in der Vergangenheit.

Seufzend ließ ich mich zurück in die Kissen gleiten und schloss für einen Moment die Augen. Doch das Bild, dass sich in meinen Kopf gebrannt hatte, ließ sich nicht mehr ausradieren. Zudem wälzte sich Cat unruhig in ihrem Bett herum, als wäre sie ebenfalls in einem ausweglosen Alptraum gefangen, weshalb ich es irgendwann aufgab, mich zum Schlafen zu zwingen.

Ich stieg aus dem Bett und lief zum Fenster, durch das der blasse Schein des Mondes hereinfiel. Ich musste erst einmal einen klaren Kopf bekommen, also setzte ich mich auf die breite Fensterbank, die mit etlichen Kissen und Decken ausgestattet war und machte es mir gemütlich. Es war das erste Mal seit meiner Ankunft, dass ich hier saß, aber es hatte etwas so Beruhigendes, einfach nur da zu sitzen, die Arme um die Beine geschlungen und das Antlitz des silbernen Mondes zu betrachten, dass ich mich fragte, warum ich dies erst jetzt tat.

Ich wischte mir die Tränen ab und vergaß für einen Moment den Alptraum, der mir nachjagte. Jetzt in diesem Moment fühlte ich mich sicher und geborgen.

Ich wandte meinen Blick vom Mond ab und ließ meinen Blick über das Schulgelände gleiten. Über die Kieselsteineinfahrt und die Straße hinauf, die über einige Kilometer zum Bahnhof führte. Dann nach links zum gefürchteten Schattenwald. Verwundert blinzelte ich. Dort bewegte sich etwas.

Mein Atem stockte und ich musste zweimal hinsehen, um mich zu vergewissern, dass ich mich nicht geirrt hatte. Zwischen den Bäumen tanzte ein schwaches Licht, wie die Flamme eines Lagerfeuers.

Ohne zu wissen, was ich tat, stand ich auf. Meine Neugier zog mich zum Schattenwald, befahl mir, dem schwachen Lichtschein zu folgen, obwohl mir durchaus bewusst war, dass ich damit die Regel missachten würde, die es mir verbot, nach 10 noch draußen zu sein. Doch ich konnte sie nicht ignorieren.

Ich warf mir eine schwarze Jacke über und stieg in meine Stiefel, die neben der Tür standen. Dann schlich ich mich auf Katzenpfoten in den dunklen Gang, die Treppe nach unten und durch das Schultor auf die Wiese.

Schneller als gedacht erreichte ich den Waldrand, doch anders als beim letzten Mal zögerte ich, einen Fuß in das fremde Gebiet zu setzen, war es doch nicht so harmlos, wie es von außen wirkte. Letztenendes siegte jedoch die Neugier über meine Angst und so folgte ich dem flackernden Licht, welches die Schatten der Bäume über den Boden tanzen ließ.

Eine Weile lang stolperte ich über den unebenen Boden, aus dem an jeder Stelle teuflische Wurzeln emporragten. Das Feuer schien offenbar weiter entfernt zu sein, als ich zu Beginn vermutet hatte.

Als ich schon beinahe umkehren wollte, konnte ich durch die knorrigen Bäume endlich eine Feuerstelle ausmachen, keine fünfzehn Meter von mir entfernt und obwohl ich bereits vermutet hatte, wer das Feuer entfacht hatte, konnte ich nicht verhindern, dass ich panisch nach Lift schnappte und hastig hinter dem nächsten Baum in Deckung ging.
Es waren die Schatten. So viele, dass ich sie nicht zählen konnte. Und ich war so dumm gewesen, ganz allein geradewegs in ihr Nest zu laufen.

Glücklicherweise schien mich jedoch niemand bemerkt zu haben, was sicherlich der Tatsache geschuldet war, dass sie anscheinend eine Art Ritual durchführten. Die Schatten standen nicht nur um die Feuerstelle herum, sie tanzten, sodass ihre krummen Körper beinahe wirkten, wie schwarze Bettlaken, die im Wind wehten. In einer weniger prekären Situation hätte ich darüber sicherlich lachen können.

Außerdem hielten einige Schatten eine Art Trommel in den Händen, um den Rhythmus vorzugeben und sangen mit tiefer Stimme eine merkwürdig verzerrte Melodie auf einer Sprache, die sich für mich ein wenig wie Latein anhörte. Ich hatte immerhin gerade das Wort estis herausgehört. Und das Wort arma. Sie sangen über eine Waffe.

Mit der Zeit wurde der Gesang immer leiser bis die Schattenwesen schließlich gänzlich verstummten. Neugierig betrachtete ich, wie sie im Kreis um das Feuer stehen blieben. Im gleichen Moment schritt eine lange Gestalt auf die Lichtung. Die Schatten öffneten eine Lücke im Kreis, um sie willkommen zu heißen und als der Schatten ans Feuer trat, konnte ich eine aschgraue Maske erkennen, die sein Gesicht verdeckte. Die Schatten bejubelten den Maskenträger und verbeugen sich ehrfürchtig. Das musste also ihr Anführer sein.

Als er zu sprechen begann, breitete sich eine Gänsehaut auf meinen Armen aus. Seine Stimme war so voller Kälte, dass ich in dieser angenehmen Sommernacht zu frieren begann.

"Ich heiße euch herzlich willkommen zu unserem Vollmondritual, meine untertänigen Schatten und sehe gern, dass viele von euch meiner Einladung gefolgt sind, denn ich habe eine wichtige Ankündigung zu machen."
Er ließ sein gespenstisches Maskengesicht über die Runde gleiten und es ärgerte mich, dass ich seinem Blick nicht folgen konnte.

Der Schatten trat nun noch näher ans Feuer heran, wie um die Spannung aufrecht zu erhalten.

"Wir haben nun fast vierzig Jahre lang gewartet. Vierzig Jahre lang haben wir jeden Tag vergeblich gehofft, dass eine Reinkarnation auftaucht, eine Reinkarnation des Monsters, das uns zu vernichten drohte. Und jede einzelne Nacht habe ich damit verbracht, mir seinen Tod auszumalen. Mir vorzustellen, wie das Licht, das uns verbrennt, endlich erlischt. Doch bald schon...", der Schattenherr legte eine dramatische Pause ein, in der er seine Arme wie zum Empfang ausbreitete, "wird diese Vorstellung Wirklichkeit werden."

Der Schatten ballte seiner Hand zur Faust, woraufhin die Schatten am Feuer in Jubel ausbrachen und aus vollem Halse kreischten, um ihren Triumph zu verkünden. Ich zog mich noch weiter in den Schatten zurück und krallte meine Finger in die dunkle Baumrinde.

Ich war nicht unbedingt ein Experte in Schattenangelegenheiten, aber ich musste kein Genie sein, um zu wissen, dass diese Wesen es auf jemanden abgesehen hatten. Eine Reinkarnation, ein Monster, hatten sie es genannt. War mit dieser Reinkarnation etwa dieser Avatar gemeint, von dem uns die Gründer an unserem ersten Tag an der Akademie berichtet hatten? Ich erinnerte mich dunkel daran, dass sie erwähnt hatten, der Avatar würde in einem bestimmten Zyklus wiedergeboren werden und soweit ich wusste, waren Elemementbändiger und Schatten bereits seit einer Ewigkeit befeindet, was diese Theorie durchaus bestätigen würde.

Als die Stimmen der Schatten wieder verstummt waren, fuhr ihr Anführer fort.

"Durch einen Spion an der feindlichen Elemava-Akademie sind mir einige nützliche Informationen zu Ohren gekommen. Und es ist wahr. Der Feind ist zurückgekehrt. Es ist das selbe zerstörerische Fleisch und Blut wie damals. Ganz egal, welches Aussehen es hat, dieses Mal wird es endgültig vernichtet werden. Und es wird durch unsere Hand geschehen."

Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Ein Spion an der Elemava-Akademie? Also doch ein Racheakt am Avatar? Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. Der Avatar war anscheinend zurückgekehrt. Aber wie hätten die Schatten davon erfahren können, wenn diese Information nicht einmal unseren Gründern bekannt zu sein schien? Hatte dieser Spion etwas damit zu tun?

Erneut ertönte tosender Jubel, bei dem ich den unwillkürlichen Drang verspürte, mir die Ohren zuzuhalten. Dieses Geräusch klang einfach fürchterlich.

"Ich werde alles Nötige in die Hand nehmen, um den Plan zu verwirklichen. In dieser Welt ist nur Platz für eine Weltanschauung und es wird unsere sein, der sich unterworfen werden muss." Er machte eine ausschweifende Geste. "Aber nun begrüßt mit mir unseren Verbündeten. Seit einigen Monaten ist er bereits mein Informant und er hat zudem einen Treueschwur geleistet, weshalb ich ihn nun als vollwertiges Mitglied unseres Clans ankündigen darf: Christian, der letzte auf Erden wandelnde Geist. "

Mir blieb die Spucke weg und ich hätte mir am liebsten die Seele aus dem Leib gekotzt, als tatsächlich Christian hinter den Bäumen hervortrat. Der Christian, von dem ich nicht im entferntesten gedacht hätte, dass er sich auf diese finsteren Wesen einlassen würde. Und den ich, auch wenn ich es nicht gern zugab, bis eben noch attraktiv gefunden hatte. Ehrlich gesagt war ich jetzt nur noch enttäuscht darüber, wie sehr ich mich in ihm geirrt hatte. Und dann war er auch noch ein ... Geist, was auch immer das bedeuten mochte. Das musste wohl auch die Vermutung von Christians Freund gewesen sein.

Ich wandte meinen Blick nicht von Christian ab, obwohl dieser die ganze Zeit über angespannt neben dem Schattenherren stand und schwieg, während dieser erneut seine Siegeshymne anstimmte. Ich wusste nicht, was ich von Christian erwarten sollte, aber es störte mich, dass er dort wie angewurzelt herumstand und nichts tat. Irgendwie hatte ich wohl gehofft, er würde entlarven, dass sein Treueschwur eine einzige große Lüge gewesen war und anschließend die gesamte Lichtung inklusive Schatten bis zur Unkenntlichkeit niderbrennen. Klare Fehleinschätzung!

Plötzlich schoss ein dunkler Strahl vom Himmel, wie ein schwarzer Blitz, der direkt in die erhobenen Hände des Schattenherrn einschlug. Als ich Christian gemustert hatte, musste ich verpasst haben, was der Schatten über das Ritual erzählt hatte.

Der Schatten ließ das schwarze Licht für einige Sekunden in den schmalen Händen kreisen, dann lenkte er ihn auf seine untertänigen Schatten, deren gekrümmte Körper sich beim Kontakt mit der fremden Energie aufrichteten, als hätte man ihnen neues Leben eingehaucht. Das alles ging so schnell, das ich fast nicht mitbekommen hätte, wie Christian dem Schattenmann währenddessen etwas zuflüsterte. Dieser nickte, woraufhin Christian sich von ihm abwandte und die Feuerstelle verließ.

Auf einmal packte mich die Angst. Christian war nicht mehr zu trauen. Er könnte mich an die Schatten verraten, wenn er mich jetzt entdeckte. Aber ich hatte ohnehin genug gesehen. Es wurde langsam Zeit zu gehen.

Vorsichtig drehte ich mich um und versuchte, nicht noch mehr in Panik zu geraten, als ich es sowieso schon war, denn das Schlimmste stand mir erst noch bevor: der Rückweg.

Ich war erst ein paar Schritte in die Dunkelheit gegangen, als es hinter mir knackte. Augenblicklich beschleunigte ich meine Schritte, schob herabhängenden Äste beiseite, die ihre gierigen Klauen nach mir ausstreckte und beschleunigte mein Tempo. Was auch immer hinter mir war, ich wollte es nicht wissen.

"Es ist nicht sehr höflich, Leute zu belauschen", vernahm ich hinter mir eine Stimme. Mein Herz setzte einen Schlag aus, bis ich realisierte, dass die Stimme nur zu Christian gehörte. Obwohl dies eigentlich schon schlimm genug war.

Ich sagte nichts, drehte mich nicht einmal zu ihm um. Ich wollte diesem Verräter nicht in die Augen blicken.

Christian schnaubte zuerst belustigt, doch als ich immer noch nicht antwortete, vernahm ich ein Seufzen hinter mir.

"Es ist nicht so, wie es aussiehst. Glaub mir bitte!" Ich hörte seine Schritte auf dem Waldboden näher kommen. Endlich drehte ich mich um, gerade als er meine Hand hatte nehmen wollen.

"Fass mich nicht an!" Ich riss meine Hand zurück und stolperte ein paar Schritte rückwärts. "Nicht bevor du mir erklärt hast, was dieser ganze Aufzug sollte."

Christian biss sich auf die Unterlippe und fuhr sich mit der Hand durch sein dunkles Haar, als müsste er überlegen, wie er es mir möglichst schonend beibringen könnte.

"Madline, hör zu, ich kann das jetzt nicht alles erklären. Aber..." Er suchte nach den richtigen Worten. "Du darfst keinem erzählen, dass du mich hier mit den Schatten gesehen hast, verstanden?" Sein Blick wirkte eindringlich, aber gleichzeitig auch flehend und ich musste mich wirklich beherrschen, ihm nicht nachzugeben.

"Warum sollte ich deiner Bitte nachkommen? Ich kenne doch nicht einmal deine Absichten", schleuderte ich ihm entgegen und wich noch ein paar Schritte weiter zurück. Ich wollte in diesem Moment eigentlich nur noch eins: So viel Abstand wie möglich zwischen mich und ihn bringen.

"Bleib hier", forderte Christian und verringerte erneut die Distanz zwischen uns. Doch mir wurde diese Situation langsam zu unheimlich. Bevor Christian auch nur ein weiteres Wort sagen konnte, machte ich auf dem Absatz kehrt und sprintete los. Und auf einmal achtete ich nicht mehr auf die Äste, die mir wild ins Gesicht peitschten oder die Wurzeln, die mir am Boden Fallen stellten. Ich wollte einfach nur aus diesem verfluchten Wald raus. Und zwar so schnell wie möglich.

Plötzlich spürte ich einen warmen Feuerball knapp an mir vorbeifliegen. Christian hatte Feuer gegen mich gebändigt. Es spielte keine Rolle, ob er mich hatte treffen wollen oder ob er mir nur den Weg versperren wollte, indem er das Geäst auf dem Weg vor mir abfackelte. Er hatte mich mit allen Mitteln aufhalten wollen. Und hinter mir sah ich im Zurückblicken bereits den nächsten Feuerball auf mich zurasen.

Unwillkürlich streckte ich die Hand nach hinten aus, als könnte ich damit irgendetwas bewirken. Und sonderbarerweise geschah tatsächlich etwas. Als ich mich erneut umblickte, war der Feuerball verschwunden und Christian war wie angewurzelt stehen geblieben, sichtlich überrascht.

Ich verschwendete keine Zeit damit, darüber nachzudenken, was da gerade passiert war und nutzte meinen Vorsprung, um die letzten Meter bis zum Waldrand zurückzulegen, ohne mich noch einmal umzusehen. Hinter dem letzten Baum sprang ich aus dem Schattenwald und ließ die Finsternis hinter mir. Erleichtert, dass ich heute noch nicht sterben würde.

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