11. Verschwunden
Mrs Bluelight betrachtete das Kaninchen höchst skeptisch. Eigentlich hatte ich vorgehabt ihr zu verheimlichen, dass ich mit dessen Auftauchen etwas zu tun hatte, aber Kevin, das Großmaul, konnte wieder einmal seinen Mund nicht halten und erzählte meiner Lehrerin, es sei das Kaninchen, das ich im Fach Heilen behandelte. Dafür war ich ihm nun wirklich nicht dankbar, denn danach bekam ich eine ordentliche Standpauke. Auch wenn ich erklärte, ich hätte das Kaninchen vor dem Waldrand gefunden und es her gebracht. Ich dachte, damit konnte ich nichts falsch machen, doch da hatte ich mich gewaltig geirrt. Leider musste Mrs Bluelight bei dem kleinsten Blick zu dem verängstigten Kaninchen mit Niesen anfangen und machte einen ziemlich bösen Gesichtsausdruck, als sie mir erklärte, dass sie eine Langhaarallergie hatte. Kevin und seine Freunde konnten sich das Lachen anschließend nicht mehr verkneifen und das Zickenmädchenzimmer schon gar nicht. Mrs Bluelight fand das zwar gar nicht lustig, doch im nächsten Teil der Stunde erhellte sich ihr Gesicht, als ich ihr meine Wasserkugeln zeigte. Immerhin blieben die Holzscheiben jetzt stehen.
Am Abend sank ich wieder einmal erschöpft in mein Kissen und dachte nach. Christian war schon wieder nicht zum Abendessen gekommen. Das beunruhigte mich ein wenig. Was trieb der Kerl? Laut Regelbuch durfte jede Klasse in der Woche nur zwei Freistunden haben und die stand bei jeder Klasse wo anders auf dem Stundenplan, damit auch alle Schüler ihre Ruhe hatten. Warum also war Christian heute nicht im Unterricht gewesen? Und wieso war er heute nicht zum Essen erschienen? Ich hatte ihn heute nur kurz am Wasserbecken gesehen. Vielleicht sollte ich seine Freunde mal fragen? Bestimmt wussten sie, was mit Christian los war. Doch das musste wohl bis morgen warten.
Am Tag darauf hörte ich wieder den Wecker klingeln. Kiki schien den Ton gestern Abend für mich lauter gemacht zu haben, da ich regelrecht aus dem Schlaf gerissen wurde und mich blitzschnell aufsetzte. Alice stöhnte in ihrem Bett und presste sich ihr Kopfkissen auf die Ohren. Schlaftrunken gähnte Coral gegenüber und krabbelte aus dem Bett. An diesem Morgen hüpfte Kiki gut gelaunt aus ihren Federn und zog sich an. Nur Cat wollte etwas länger schlafen. Seltsam, sonst stand sie immer mit den ersten auf.
Wir zogen uns um und gingen wie gewohnt nach unten zum Essen. Cat blieb noch liegen und wir alle hörten sie mehrere Male husten. Sogar Alice bemerkte, dass Cat ein wenig krank aussah. Und so blass. Sie kam jedoch zum Frühstück, wenn auch etwas verspätet.
"Hey, wieso habt ihr mir nicht Bescheid gesagt, dass ihr schon runtergeht", hüstelte sie und starrte uns aus ihren glasklaren blauen Augen an. Wir anderen warfen uns vielsagende Blicke zu. Cats Blick glitt zwischen unseren hin und her. Dann stand sie seufzend auf, um sich ihr morgendliches Ei zu holen, doch die gekochten Eier waren längst aufgegessen.
Enttäuscht kam sie zurück an unseren Tisch und schaute zu Corals Ei. Ich bemerkte es natürlich und hüstelte leicht, um Coral darauf aufmerksam zu machen.
"Du kannst meins haben", sagte sie schließlich, als sie endlich den Kopf hob und Cats Blick ebenfalls bemerkte. Dankbar nahm sie den Eierbecher entgegen, als Coral ihn ihr hinschob und stürzte sich darauf, als wäre es das Letzte ihres Lebens. Ich ging davon aus, dass sie schlecht geträumt hatte und wollte gerade nachfragen. Aber dann fiel mir wieder ein, dass sie bei mir auch nie nachfragte was los war. Also beließ ich es dabei.
Heute morgen stand dann nochmal Wassertraining auf dem Stundenplan. Wir gingen nach dem Frühstück auf unsere Zimmer und packten unsere Schultaschen. Sogar Alice war dieses Mal mit von der Partie. Aber das war nicht überraschend, als wir den Grund dafür erfuhren.
"Angelina, Bella und Jenny sind echt doof. Die ganze Zeit beschweren sie sich, dass meine Klamotten am Wochenende zu kindisch aussahen, weil sie rosa waren. Na und? Rosa ist nun mal meine Lieblingsfarbe und ich habe nun wirklich mehr Stil als jede von denen. Und dann sagen sie auch noch, es wäre peinlich mit mir gesehen zu werden. Das ich nicht lache." Ich hatte nicht so recht gewusst, was ich darauf hätte erwidern sollen, während Coral nur in sich hinein gegrinst und irgendetwas Fieses gemurmelt hatte.
Wir liefen wieder ums Schulgebäude zum Wasserbecken, wo die Klasse bereits versammelt war und Mrs. Bluelight anscheinend wieder wild über die Technik gestikulierte. Im Unterricht schossen wir wieder Zielscheiben mit Wasserkugeln ab, wie wir es bereits kannten.
Danach hatten wir Englisch mit Mr Dole, wobei er gleich am Anfang der Stunde verkündete, dass er seinen Schlüssel verloren hatte. Wir alle schüttelten verneinend den Kopf, nachdem er uns gefragt hatte, ob wir ihn gesehen hätten. Während der Aufgaben, die wir Schüler im Lehrbuch lösen sollten, ging er durch die Reihen und schielte immer wieder zwischen den Bänken hin und her, als erwartete er, den Schlüssel plötzlich direkt vor seiner Nase auftauchen zu sehen. Irgendwann kam er auch an unserer Bank vorbei. Zuvor hatte ich den Schlüssel natürlich unauffällig mit dem Fuß in den Gang geschoben, sodass es so aussah, als würde er bereits seit Dienstag dort liegen. Als Mr Dole in den Mittelgang einbog, erstarrte er sofort, als er den Schlüssel entdeckte. Wahrscheinlich fragte er sich, ob er den Schlüssel aufgrund von müden Augen oder Fehlsichtigkeit übersehen hatte. Dabei war das große Fragezeichen auf seiner Stirn nicht zu übersehen, sodass ich mich zwingen musste, nicht laut los zu lachen. Mr. Dole bückte sich und hob den Schlüssel auf. Eilig setzte er seinen Rundgang fort.
In den letzten beiden Stunden mussten wir zum ersten Mal zwei Stunden Tauchen über uns ergehen lassen. Ich hasste Tauchen über alles. Warum nur hatte ich eine Wasserbändigerin werden müssen? Was lernte man denn bei Feuer, Erde oder Luft? Es konnte nur besser sein, als das.
Wir begaben uns auf den Weg in die Umkleide, zogen unsere Badeanzüge an (die Mädchen aus dem Nachbarzimmer selbstverständlich ihre teuren Bikinis) und sperrten unsere Taschen in einem Schließfach ein, da es wohl nicht selten vorkam, dass jemand seine langen Finger ausstreckte, wie wir später von unserem Lehrer erfuhren. Mr Shream war jedoch zuerst mit einem ganz anderen Problem beschäftigt, denn die knappen Teile der Mädchen erregten nicht nur seine Aufmerksamkeit. Auch die Jungs staunten nicht schlecht über die Aussicht, die sich ihnen bot. Ich konnte darüber nur die Augen verdrehen. Zum Glück wies Mr Shream die Mädels noch einmal freundlich auf unsere Schulregeln hin, woraufhin diese sich mürrisch dazu überreden ließen, ihren Bikini gegen einen Badeanzug der Akademie einzutauschen, auf dem groß das Schulwappen prangte, was auch die Jungs mit einem Stöhnen quittierten. Immerhin durften die Mädchen überhaupt am Unterricht teilnehmen. Bei uns auf der alten High School hatte es einen solchen Badeanzug nicht gegeben. Wir hätten einen Eintrag bekommen, uns auf die Bank gesetzt und zugesehen.
Wir fingen langsam an und tauchten nach bunten Ringen, um uns im kalten Wasser aufzuwärmen. Nachdem sich Alice jedoch heftig darüber beschwert hatte, dass ihr unter Wasser zu schnell die Luft ausging, brachte uns Mr. Shream einen Trick bei, mit dem es uns mithilfe einer Luftblase gelingen sollte, die Luft unter Wasser noch etwas länger anzuhalten. Eigentlich ein ziemlich hilfreicher Trick, wenn man ihn richtig beherrschen konnte. So wie Cat. Ich war leider weniger talentiert, was nicht zuletzt daran lag, dass meine Konzentration unter Wasser deutlich zu wünschen übrig ließ. Jedes Mal, wenn ich versuchte, mir die Luftblase vorzustellen, fühlte ich die bekannte Beunruhigung in mir aufsteigen, die mich seit dem peinlichen Moment des letzten Schuljahres unter Wasser plagte. Irgendwann gab ich es auf, mich gegen die beklemmenden Gedanken zu wehren und setzte mich bis zum Ende der Tauchstunde an den Beckenrand. Mr Shream war ohnehin viel zu beschäftigt damit, Alice und Angie anzumeckern, die sich seinen Anweisungen komplett zu widersetzen schienen und bemerkte nicht, dass ich mich mindestens genauso wenig am Unterricht beteiligte. Das war mir nur recht.
Nachdem uns Mr Shream endlich entlassen hatte, zogen wir uns um und schlenderten zurück zum Schulgebäude. Mir kam es so vor, als bestünden meine Beine aus Wackelpudding, als wir im Hauptgebäude die Stufen in den vierten Stock hinaufstiegen. Deshalb hätte ich mich nicht glücklicher fühlen können, als wir schließlich vor unserer Zimmertür standen. Während ich ein Gähnen nicht unterdrücken konnte, kramte ich in meiner Tasche nach dem Schlüssel. Mir fiel dabei allerlei unnützes Zeug in die Hände. Darunter ein Kuli, mein Notizblock, ein Apfel und mein Schülerausweis, aber der Zimmerschlüssel blieb auch nach einer Minute noch verschollen. Verwundert wandte ich mich zu meinen ungeduldig wartenden Freundinnen um.
"Ähm... könnte eventuell jemand anderes aufschließen? Ich glaube, ich habe meinen Schlüssel irgendwo verloren."
Cat schüttelte nur grinsend den Kopf, als wäre es nicht verwunderlich, dass ausgerechnet ich Tollpatsch meinen Schlüssel verlegt hatte. Sie stellte ihre Schultasche ab und suchte nach ihrem eigenen. Kiki, Coral und Alice schauten ihr dabei erwartungsvoll über die Schulter. Einige Sekunden verstrichen, dann hielt meine Freundin inne und schaute ratlos zu uns auf.
"Das kommt davon, wenn man so unordentlich ist, wie ihr", meldete sich Alice arrogant zu Wort und schubste mich zur Seite. "Ich dagegen lebe wesentlich ordentlicher." Sie öffnete den kleinen Reisverschluss an ihrer Handtasche, sodass ich mich augenblicklich zu fragen begann, wie dort nur alle Schulbücher Platz finden konnten.
Nach einem kurzen Moment des Schweigens, ließ auch Alice ihre Tasche sinken.
"Irgendjemand muss uns die Schlüssel gestohlen haben", bemerkte sie recht zeitig. Währenddessen hatten nämlich auch Kiki und Coral in ihren Taschen nachgesehen und zögernd den Kopf geschüttelt. Da standen wir nun wie ein Häufchen elend ohne Schlüssel vor der Tür und starrten uns alarmiert an, denn das wir alle gleichzeitig unsere Schlüssel verloren hatten, konnte unmöglich ein Zufall sein.
Zufälligerweise schlenderten in diesem Moment die Zicken aus dem Nachbarzimmer über den Flur. Angie zog mit einem kurzen Griff in ihre Designer-Handtasche ihren Zimmerschlüssel hervor und öffnete die Tür zum Zimmer 276. Ich musste mich dazu zwingen, nicht allzu offensichtlich in ihre Richtung zu starren und den anderen erging es offenbar ähnlich.
"Das darf ja wohl nicht wahr sein. Anscheinend sind wir die Einzigen, die ihren Schlüssel vermissen", stellte Cat empört fest.
"Und ich denke nicht, dass jemand von uns in Frage stellen wird, dass sie schlichtweg gestohlen wurden", ergänzte Kiki und rückte ihre Brille zurecht. "In den Tauchstunden kann es jeder Schüler gewesen sein. Während wir unter Wasser waren, konnte sich jeder an unsere Taschen schleichen. Und Mr Shream stielt seinen Schülern sicherlich nicht den Schlüssel, wenn er die Wahl zwischen einem chaotischen Mädchen-Zimmer und einem luxuriösen Lehrer-Apartment hat."
"Ja, aber du hast vergessen, dass alle aus unserer Klasse in der Nähe des Wasserbeckens waren. Also muss es jemand anderes gewesen sein. Jemand, der zur Vordertür reingegangen ist, damit wir ihn nicht bemerken", überlegte ich und die anderen nickten zustimmend.
Kiki entfuhr ein Seufzen.
"Bevor wir herausfinden können, wer uns die Schlüssel abgenommen hat, brauchen wir erst einmal ein paar neue. Sonst stehen wir noch bis zum Morgengrauen vor unserem Zimmer." Entschlossen schulterte sie ihren Rucksack. Ich folgte ihrem Beispiel und ging mit ihr vorraus.
Für den Fall, dass man seinen Zimmerschlüssel verlor, konnte man sich zum Glück einen Ersatzschlüssel im Sekretäriat im zweiten Stock auleihen, bis der alte Zimmerschlüssel wieder auftauchte. Ich bezweifelte jedoch stark, dass er in den nächsten Tagen dort abgegeben werden würde.
Dort angekommen bekamen leider nur zwei von uns einen Ersatzschlüssel. Vielleicht hielt man uns für zu verantwortungslos, als dass man uns allen einen Ersatzschlüssel anvertraute. Alice beanspruchte selbstverständlich einen für sich, und betonte noch einmal, dass sie es definitiv irgendwann leid wäre, uns jedes Mal zu fragen, wenn sie das Zimmer betreten wollte. Den anderen bekam Cat.
Erst als wir zurück in unserem Zimmer waren, und mein Blick auf die kleine Tür in der Wand fiel, erkannte ich, dass es durchaus einen Grund gegeben hätte, unsere Schlüssel zu stehlen. Ich hatte mir doch für heute vorgenommen, die Geheimtür zu öffnen, indem ich es mit meinem Zimmerschlüssel versucht hätte. Wahrscheinlich bildete ich es mir nur ein, doch es kam mir beinahe so vor, als könnte der Diebstahl etwas mit meinem Vorhaben zu tun gehabt haben. Und vielleicht war es paranoid zu denken, jemand könnte meine Gedanken während der Bewässerungsstunde gelesen haben und daraus den Entschluss gefasst haben, mich vom Öffnen der kleinen Tür abzuhalten, doch ich sollte es besser nicht außer Acht lassen. Denn wenn es tatsächlich jemanden gab, der Gedanken lesen konnte, dann war dies keinesfalls etwas, dass ich auf die leichte Schulter nehmen durfte, wenn ich den Grund für meinen Schulwechsel bewahren wollte.
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