AKT V: Katastrophe (I)
"Iᴄʜ ᴡᴜ̈ʀᴅ' ɢᴇʀɴ ᴍɪᴛ ᴅᴇᴍ Fɪɴɢᴇʀ ᴀᴜғ ᴅɪᴄʜ ᴢᴇɪɢᴇɴ,
ɪᴄʜ ᴡᴜ̈ʀᴅᴇ ɢᴇʀɴᴇ ʟᴀᴄʜᴇɴ ᴜ̈ʙᴇʀ ᴅɪᴄʜ.
Aʙᴇʀ, ɴᴇɪɴ, ᴋᴇɪɴ Gᴇғᴜ̈ʜʟ ᴠᴏɴ Tʀɪᴜᴍᴘʜ,
ɴɪᴄʜᴛ ᴍᴀʟ ᴇɪɴᴇ Kʟɪᴛᴢᴇᴋʟᴇɪɴɪɢᴋᴇɪᴛ ᴀɴ Rᴀᴄʜᴇ ғᴜ̈ʀ ᴍɪᴄʜ."
- Kᴜᴍᴍᴇʀ, 9010
Szene 1: Im Vorlesungssaal. 08.30 Uhr.
Das Problem mit dem klassischen Drama ist, dass es dich verarscht. Der Aufbau in fünf Akten ist nicht viel mehr als eine Farce. Eigentlich würden auch drei Akte reichen. Aber irgendein krasser Philosoph (sprich: Aristoteles) hat sich früher mal ausgedacht, dass drei Akte zu wenig sind, um den Zustand der Katharsis, der seelischen Reinigung, zu erreichen. Und deswegen gibt's eben fünf Akte.
Den vierten Akt haben wir gerade gelesen. Retardation. Hast du gegoogelt, was das Wort bedeutet? Wenn nicht, ist das auch nicht so schlimm. Synonym kann man es für das Wort „Verzögerung" verwenden. Aber im Endeffekt ist Retardation bloß ein euphemistischer Ausdruck für haha, du wurdest verarscht.
Kommen wir jetzt also zum fünften und letzten Akt unseres Dramas. Er heißt Katastrophe. Mal sehen, ob er zu unserer seelischen Reinigung beitragen kann. Hahahahaha, was für eine Scheiße, Aristoteles, ehrlich jetzt.
* *
Yoongi sitzt in der letzten Reihe im Vorlesungssaal. Kognitiv-affektive Neurowissenschaften. An dieser Stelle haben wir angefangen, nur das heute fast die letzte Veranstaltung für dieses Semester ist. Seit der ersten Vorlesung haben sich einige prägnante Unterschiede ergeben. Der wichtigste zuerst: Yoongi sitzt zwar immer noch in der letzten Reihe im Vorlesungssaal, aber er wünscht sich nicht mehr nur anders zu sein. Er ist jetzt einen Schritt weiter. Er versucht bereits sich zu verändern.
Das zweitwichtigste danach: Der Junge aus der ersten Reihe, der mit der chaotischen Frisur, ist kein Fremder mehr. Wir kennen seinen Namen – Jeon Jungkook – und genießen es jedes Mal, auch nur an ihn zu denken. Wir wissen jetzt, dass sein Lachen neue Farbe von den Wänden laufen lässt. Er ist unser (okay, Yoongis) Sturmjunge, weil er alles verändert. Seine Art weht so krass durch dich hindurch, dass du nicht unverändert bleiben kannst, selbst wenn du es wolltest. Jungkook bewegt dich automatisch und bringt neue Farbe in dein Leben. Yoongi hat sich gefühlt, wie in einem Schwarz-Weiß-Film. Sein Leben wurde beherrscht von aufgespießten Herzen in seinem Kopf, Schlachtfeldern in seinen Gedanken und Unglück jeden Tag. Nicht, dass er es selbst gefühlt hat. Er hat es nur den anderen zugemutet. Seit Jungkook da ist, hat er den Schwarz-Weiß-Film durch ein Hummelnest ersetzt. Die fleißigen Insekten transportieren Farben durch Yoongis vegetatives Nervensystem. Sie malen die Welt bunt, produzieren Mini-Tornados in seiner Blutbahn. Yoongi hat es jetzt verstanden. Sie sind ein Abbild seines Sturmjungen. Auch der produziert Mini-Tornados mit seinem Auftreten. Direkt in Yoongis Herzen. Auch jetzt, wo Jungkook wieder in letzter Sekunde in den Vorlesungssaal geweht wird. Er nimmt in der ersten Reihe Platz, zwischen seinen Freunden, die ihm wie immer einen Platz freihalten.
In diesem einen, speziellen Moment kommt es Yoongi nicht so vor, als hätte sich überhaupt irgendetwas geändert. Nostalgie übernimmt kurzzeitig seine Gedankengänge. Die schnöde Stimme des Dozenten eröffnet die heutige Vorlesung. Sie langweilt den Psychologiestudenten in der letzten Reihe immer noch. Er beobachtet lieber den Sturmjungen und versucht dabei nicht zu sehr in gemeinsamen Erinnerungen zu versinken. Yoongi blinzelt angestrengt das Trugbild hinfort, dass Jungkook in den letzten Veranstaltungen noch neben ihm saß. Sie haben sich gemeinsam Notizen gemacht. Gekichert. Geflüsterte Intimitäten miteinander ausgetauscht. Jetzt ist der Stuhl neben ihm leer und die Farbpunkte darauf nur eine Halluzination seines Verstandes.
Dafür ist heute keine Zeit. Yoongi muss konzentriert bleiben. Heute ist es so weit. Heute werden er und Jungkook ihren Vortrag halten. Sie sind als drittes an der Reihe. Der Dozent hat gerade die Reihenfolge durchgegeben. Damit markieren sie das Ende der Vorlesung. Yoongi kann es kaum abwarten. Jungkook hat ihm zugesichert, dass sie nach dem Vortrag reden können. Dass er ihm dann zuhören wird. Vor der Bibliothek war er noch nicht so weit. Als er vollkommen außer Atem vor Yoongi stehen geblieben ist, hat er ihm gestanden, dass er noch nicht bereit für eine Aussprache ist. Unschlüssig darüber war, ob er überhaupt kommen soll oder nicht und etwa eine Stunde lang mit sich gerungen hat. Dann ist er doch losgelaufen. Eigentlich in der festen Überzeugung, dass er Yoongi gar nicht mehr antreffen wird und ihm die Entscheidung dadurch abgenommen wird.
Scheinbar ist Yoongi der nicht der Einzige, der sich ab und an schwer damit tut, eine Entscheidung zu fällen. Eigentlich vermeidet Yoongi das ja immer. Umso besser fühlt er sich jetzt, wo er endlich eine Entscheidung getroffen hat. Er möchte den Sturmjungen für sich zurückerobern.
Auch wenn die Begegnung vor der Bibliothek noch nicht dazu geführt hat, dass Yoongi seine Gründe und seine Gefühle offen darlegen konnte, hat ihm das kurze Aufeinandertreffen doch ein wenig Hoffnung geschenkt und in seiner Entscheidung bestärkt. Es waren wohl vor allem die Farben, die Jungkook umgeben haben. Jungkooks Augen haben kaffeebraun gefunkelt, seine Wangen waren aufgrund der Anstrengung gerötet, sein Shirt so transparent weiß, dass es beinah durchsichtig war, und seine Haut getunkt in flüssiges Karamell. Das Gesamtbild so genuin rein, vollständig und lebendig, dass sich Min Yoongi noch einmal in ihn verliebt hat. Generell war nicht mehr sonderlich viel von den Scherben zu spüren, die er in der Clubnacht in Jungkooks Augen produziert hat. Es war vielleicht ein bisschen erschreckend, wie schnell die Farben wieder Besitz von Jungkook ergriffen haben, um die Lücken zu füllen, die Yoongi geschlagen hat. Aber es kann eben auch nicht jeder so ein schwarzes Loch sein wie er. Ihre Kontrarietät hat seine Beine schwach gemacht. Er wollte Jungkook festhalten. Sich mit ihm gemeinsam bunt fühlen, ganz.
Aber der Sturmjunge hat die Distanz bewahrt und war insgesamt sehr zurückhaltend, ungewöhnlich ruhig. Er hat Yoongi um etwas mehr Zeit gebeten, um seine Gedanken zu sortieren. Eine Woche etwa, sagte er. Bis dahin könnten sie insofern miteinander Kontakt halten, um den Rest ihres Vortrages aufeinander abzustimmen. Die Note sei ihm wichtig, Yoongi doch sicher auch, aber mehr Kontakt möchte er vorerst nicht. Er müsse noch darüber nachdenken, was passiert ist. Die Geschehnisse für sich selbst einordnen und herausfinden, was er möchte und will, bevor er mit Yoongi darüber reden könne. Momentan sei er noch zu wütend dafür. So wütend, dass er nicht einmal verletzt sein könne.
Jungkook wirkte sehr erwachsen in den wenigen Momenten, in denen sie sich gegenüber standen. Er hat den Rücken gestrafft und die Trauer über den Betrug Wut genannt und hinter eine dicke Wand gekehrt, damit sie überhaupt ein anständiges Gespräch miteinander führen konnten. Yoongi hat sie trotzdem gesehen, weil er es nun mal gewohnt ist, auf jedes Detail zu achten. Er hat jahrelang nur beobachtet, aber nie mit einer rosarollen Brille auf der Nase. Das ist der Unterschied. Hinter dicken Mauern kann sich nicht nur Trauer verstecken. Und dieses Detail ist ihm eventuell entgangen. Egal, wie genau du hinsiehst, am Ende siehst du doch nur das, was du selbst sehen möchtest.
Yoongi ist nach ihrem Aufeinandertreffen zur Arbeitsstelle geschwebt. Er war zwar ein paar Minuten zu spät, aber wen kümmert das schon. Die Arbeiterinnen-Hummeln in seinem Inneren wurden reaktiviert. Sie sind direkt losgeflogen, um die Farben einzusammeln, die von Jungkooks Körper getropft sind. Scheinbar ernähren sie sich nicht von Pollen, sondern von Bindemitteln und Pigmenten. Vielleicht ist das nachhaltiger. Zumindest haben sie seitdem keine Pause mehr eingelegt, sondern eine fröhliche Party nach der nächsten in Yoongis Innerem geschmissen. Sprich: Das ekelhafte Summen seines Körpers hat seit einer Woche nicht mehr aufgehört. Er konnte seitdem kaum schlafen, aber der Treibstoff Hoffnung kickt nun mal mehr, als jede Tasse Kaffee es jemals könnte.
Er hat die schlaflose Zeit dafür genutzt, um den Song für Jungkook fertig zu komponieren und aufzunehmen. Jin hat ihm dabei geholfen und sogar ein paar Textzeilen gesungen, die für einen Rap-Part einfach nicht in Frage kamen (und nach eigener Aussage von Jin für seine honigzarte Stimme bestimmt waren). Irgendwoher hat Jin sogar einen Menschen (Musikfutzi, hat Jin ihn in Ermangelung der Kenntnis seines richtigen Namens genannt) aufgetrieben, der in einem Tonstudio arbeitet, und den Song mithilfe der richtigen Geräte für sie abgemischt hat. Yoongi war versucht zu fragen, woher Jin bitte solche Kontakte hat, aber die Art und Weise, wie Jin von dem Produzenten in spe angebetet wurde, hat jegliche Fragen überflüssig gemacht. Im Endeffekt kann es ihm auch egal sein. Manche Dinge ändern sich halt nie und auch wenn Jin ihm gegenüber seine überhebliche Art zumindest zeitweise abgelegt hat, braucht er immer noch Diener und Hofnarren, die ihm gebührend huldigen, selbst, wenn er ihre Namen nicht kennt. In dem Fall hat Yoongi ja sogar davon profitiert, also sollte er Jin besser nicht für sein grobes Desinteresse verurteilen.
Zuhause hat er der Single einen Namen gegeben: Don't leave me. Ein recht aussagekräftiger Titel, oder? Außerdem hat Yoongi eine CD gebrannt und ein Cover gestaltet. Mit einem Bild von einem lachenden Jungkook darauf, dass mit den unterschiedlichsten Farben durchsetzt ist und die scheinbar von einem starken Windzug von der einen auf die andere Seite geweht werden. Insgesamt ist es ziemlich persönlich geworden und selbst wenn ihr Gespräch heute vollkommen schief laufen sollte (Yoongi ist ja gerade in den wichtigen Momenten leider nicht ganz so gut darin seine Emotionen zu artikulieren), kann Jungkook vielleicht anhand der Musik erkennen, was Yoongi ihm eigentlich sagen wollte.
Die ersten zwei Vorträge ziehen an Yoongi vorbei, ohne dass er auch nur eine einzige Silbe davon mitbekommen hat. Naja, immerhin muss er sich dann nicht von seiner Konkurrenz einschüchtern lassen. Es ist immerhin der erste Vortrag, den er ohne die Mithilfe von Namjoon halten wird. Das könnte ein Grund sein, aufgeregt zu sein, aber dafür ist Yoongi zu abgebrüht. Determinanten von Emotionen lautet das Referatsthema. Er ist sich ziemlich sicher, es auch alleine gut zu machen. Namjoon hat er nur aus Bequemlichkeit gebraucht und nicht, weil er selbst es nicht kann. Seine Notizen liegen fein säuberlich vor ihm gestapelt. Die PowerPoint-Präsentation befindet sich auf seinem Laptop und wurde unzählige Male aufgerufen, kontrolliert und korrigiert. Es können sich gar keine Fehler mehr darin befinden. Wie mit Jungkook besprochen, wird er die Einleitung ihres Vortrages übernehmen. Die öde Theorie abarbeiten, bevor der Jüngere mit einem konkreten Fallbeispiel weitermacht. Es geht schließlich nicht nur darum zu verstehen, wie verschiedene Emotionen entstehen, sondern auch darum zu begreifen, warum eine Person aufgrund ihrer Gefühle auf diese oder jene Weise handelt.
„JEON, JUNGKOOK und MIN, YOONGI!", werden sie laut und deutlich von ihrem Professor aufgerufen.
Yoongis Knie zittern trotzdem. Aber nicht wegen dem Vortrag. An solche Dinge geht er mit einem gesunden Selbstbewusstsein heran. Was ihm Angst macht, ist der Moment danach. Wenn er mit Jungkook alleine in einem Raum ist und endlich besprechen kann, was eigentlich schief gelaufen ist. Er hofft so sehr, dass es kein Abschiedsgespräch sein wird. Er hat für die Chance eine Beziehung mit Jungkook zu führen, alle seine Affären gehen lassen. Zu spät, ja, aber immerhin ist er jetzt wirklich Single. So sehr Single, dass er sogar alleine geschlafen hat. Das letzte Mal ist so lange her. Er hofft, dass er Jungkook deutlich machen kann, was das für ihn bedeutet.
Jungkook räuspert sich bereits nervös, als Yoongi endlich vorne neben ihm ankommt. Von der letzten Reihe ist der Weg zum Rednerpult nun mal etwas länger. Außerdem hat er sich Zeit damit gelassen, den Sturmjungen zu beobachten, der verlegen seine Aufzeichnungen von rechts nach links geschoben hat und kaum den Blick in Richtung Publikum heben konnte. Yoongi stupst ihn vorsichtig mit der Schulter an, während er sich nach vorne beugt, um den Laptop mit dem Beamer zu verbinden.
„Das wird schon", murmelt Yoongi beruhigend und so leise, dass nur Jungkook ihn verstehen kann. „Bis ich mit meinem Teil fertig bin, sind eh alle eingepennt."
Eventuell hat er mit dieser Einschätzung sogar Recht. Die verschlafenen Zombiegesichter seiner Kommilitonen lassen auf wenig andere Möglichkeiten schließen. Scheinbar haben ihre Vorredner ganze Arbeit geleistet. Lediglich der Dozent blitzt ihnen mit aufmerksamen Augen entgegen und deutet ein aufmunterndes Kopfnicken an.
Jungkook geht auf keinerlei Aufmunterungsversuche ein. Im Gegensatz - er schenkt Yoongi nicht einmal einen Blick. Stattdessen ist er merkwürdig ruhig. Nicht nur wortwörtlichen Sinne, sondern auch bezogen auf seine Aura. Ansonsten ist es immer stürmisch um ihn herum gewesen. Man hat ihn gespürt, bevor man ihn gesehen wird. Jetzt ist es windstill. Jungkook ist zwar da, aber gleichzeitig auch... nicht. Yoongi schiebt die seltsame Stimme auf die Aufregung. Und ganz ehrlich, wer bemerkt denn auch schon die Ruhe vor dem Sturm?
„GUTEN MORGEN", beginnt Yoongi übertrieben enthusiastisch. Wird Zeit, die Scheiße hier hinter sich zu bringen. Er hat Wichtigeres zu tun. Und er sieht es gar nicht ein, dass er das einzige Opfer ist, dass sich das antun muss. Er schlägt absichtlich einen extrem lauten Tonfall an, um wenigstens ein paar der dösenden Gestalten wieder aufzuwecken. Sein Plan geht nicht ganz auf, denn am meisten erschreckt sich wohl der junge Mann neben ihm, der merklich zusammenzuckt, aber den Blick weiterhin gesenkt hält. Yoongi sieht ihm verliebt dabei zu. Er legt alle Gefühle in seinen Blick, sollte Jungkook doch zwischendurch mal hochsehen. Dann wird er sehen, was der ältere Student denkt. Nämlich, wir schaffen das und damit meine ich nicht nur den Vortrag. Yoongi hat nicht einmal mehr Angst davor, dass seine Kommilitonen die Blicke bemerken könnten. Nachdem er sich seine Gefühle endgültig und so, so elendig vor Jin eingestanden hat, kann ruhig auch der Rest der Welt davon erfahren. Es gibt niemanden mehr, vor dem er es geheim halten müsste. In seinen Gedanken sieht er ihre Versöhnung ganz deutlich vor sich. So deutlich, dass es keine andere Option gibt. Klar, geht er ein Risiko ein. Emotionen sind immer ein Risiko. Aber der Sturmjunge mit der chaotischen Frisur ist es wert.
„Mein Name ist Min Yoongi und das ist mein Referatspartner Jeon Jungkook. Gemeinsam stellen wir euch heute das Thema „Determinanten von Emotionen" vor. Im theoretischen Teil gehen wir zunächst auf die Bedeutung von körperlichen Reaktionen für das Emotionserleben ein. In diesem Zusammenhang erklären wir die Zwei-Faktoren-Theorie von Schachter & Singer und erörtern ebenfalls die Kritikpunkte, die an das Modell gerichtet wurden. Anschließend beschäftigen wir uns mit der Bewertungstheorie von Scherer, um die Bedeutung von kognitiven Bewertungen für das Emotionserleben zu beleuchten. Um den theoretischen Teil abzurunden, gehen wir abschließend noch einmal auf bewusste und unbewusste Auslöser für Emotionen ein.
Wenn ihr bis hier hin tapfer durchgehalten habt, wird es danach ein wenig angenehmer. Jungkook wird euch anhand eines Fallbeispiels anschaulich erklären, inwiefern uns diese Theorien und Modelle bei unserer praktischen Arbeit unterstützen können."
Während Yoongi spricht, blendet er im Hintergrund das Inhaltsverzeichnis ihres Vortrages ein. Es fällt ihm schwer, den Blick von Jungkook abzuwenden und stattdessen auch mal ihren Dozenten oder die anderen Studenten anzublicken. Sie interessieren ihn nicht, aber das hier ist ein notwendiges Übel.
Professionell gleitet er über den ersten Punkt ihres Vortrages hinweg. Insgesamt haben sie ca. 20 Minuten Zeit eingeplant, daher kann er die einzelnen Aspekte ohnehin nicht en détail erläutern. Insgesamt geht es nur darum zu verstehen, dass es verschiedene Einflussfaktoren gibt, die für unsere Emotionsbildung verantwortlich sind. Das sind zum einem die körperlichen Reaktionen. Schachter & Singer haben kurz gesagt postuliert, dass wir nicht zittern, weil wir Angst haben, sondern Angst haben, weil wir zittern. Eine bestimmte körperliche Handlung löst also als Reaktion eine Emotion aus. Fun Fact in diesem Zusammenhang: Deswegen hilft ruhiges und kontrolliertes Atmen gegen eine Panikattacke. Wir gaukeln unserem Körper vor, dass er sich im Ruhezustand befindet. In der Hoffnung, dass sich unser Emotionserleben der körperlichen Reaktion angleicht. Dass die Theorie von Schachter & Singer nicht als vollständig zu betrachten ist und deswegen von einigen Seiten kritisiert wurde, ist irgendwie selbsterklärend, oder? Wie schön wäre es auch, wenn wir unsere Gefühle mit so einfachen Taschenspielertricks kontrollieren könnten. Die meisten Dinge sind nicht so leicht. Vor allen Dingen nicht Gefühle.
Als zweiten Einflussfaktor erklärt Yoongi das kognitive Erleben. Das Vortragen geht ihm mittlerweile richtig flüssig von den Lippen. Er hat seinen Platz hinter dem Pult verlassen und geht entspannt vor den Studenten in der ersten Reihe auf und ab. Mit der kleinen Fernbedienung in der Hand, kann Yoongi von jedem Punkt aus die angezeigten Folien verändern.
„Wir sind ständig irgendwelchen Reizen ausgesetzt", erklärt er jetzt mit Selbstbewusstsein in der Stimme. „Und diese Reize werden von uns Menschen dauerhaft bewertet, durchlaufen sogenannte Bewertungssysteme. Nehmen wir die momentane Situation als Beispiel. Mein Vortrag ist ein Reiz und wird von euch bewertet. Je nachdem, wie diese Bewertung ausfällt, erlebt ihr ein anderes Gefühl, während ich vortrage. Die einen sind vielleicht interessiert, andere überrascht und wieder andere gelangweilt. Scherer unterscheidet fünf Ebenen der Reizbewertung, die dafür sorgen, dass jeder von euch den gleichen Reiz anders auffasst und interpretiert und in Schlussfolgerung davon ein anderes Gefühl erlebt. Abhängig davon, welcher Ebene ihr selbst die meiste Bedeutung zusprecht.
Ebene 1: Die Bewertung eines Reizes anhand der Unterscheidung, ob euch der Reiz bisher vertraut ist oder eben noch nicht. Wieder bezogen auf die momentane Situation: Wenn ihr alles schon wisst, was ich hier gerade von mir gebe, dann ist euch der Reiz vertraut. Infolge davon langweilt ihr euch. Aber wenn der Reiz neu für euch ist, dann wird euch das neue Wissen sicherlich wahnsinnig interessieren, weil ihr so fleißige Psychologiestudenten seid.
Ebene 2: In dieser Bewertungsebene erfolgt die Einschätzung darüber, wie valent der Reiz für euch ist. Valent = mit welcher Wertigkeit der Reiz für euch verbunden ist. Sprich, ob der Reiz eine motivierende Anziehungskraft auf euch ausgewirkt wird oder nicht. Einfaches Beispiel: Ihr seht ein sehr hübsches, attraktives Mädchen. Vorausgesetzt ihr steht auf Frauen, wird die Situation von eurem Gehirn als ein extrem valenter Reiz eingeschätzt. Steht ihr auf Männer, ist der Reiz eher uninteressant.
In anderen Fällen können Valenzen auch ganz schnell verändert werden. Wiederum im Bezug auf unsere momentane Situation. Wenn unser geschätzter Professor nun aufsteht und das Referatsthema als prüfungsrelevant deklariert... nun... ich bin mir sicher, dass die Valenz des Reizes, den ich auf euch ausübe, augenblicklich signifikant in die Höhe schnellen würde.
Ebene 3: Hier erfolgt die Bewertung eines jeden Reizes im Hinblick auf die Befriedigung der aktuellen Bedürfnisse. Sprich: Je hungriger, durstiger, müder oder whatever ihr gerade seid, desto weniger wird euch mein Vortrag interessieren. Ein Hamburger hingegen oder ein heißer Kaffee oder noch besser – ein warmes Bett – erscheinen dann für euch geradezu unwiderstehlich.
Ebene 4: Sie beinhaltet die Bewertung eines Reizes anhand der eigenen Bewältigungsmöglichkeiten und der Kontrollierbarkeit der Situation. Um bei unserem aktuellen Beispiel zu bleiben: Ein Vortrag über „Determinanten von Emotionen" ist für die Person am relevantesten, die ihn hält. Sprich – für mich. Ihr könnt die Situation nicht kontrollieren und nichts dazu beisteuern, sondern nur passiv konsumieren. Entsprechend wird die Bewertungsebene relativ uninteressant für euch. Wäre ich jedoch der Dozent und könnte euch jederzeit mit Fragen löchern, deren Antwort sich auf eure Abschlussnote auswirkt, würde dieser Vortrag sicherlich einiges an Relevanz für euch gewinnen und zu einem anderen Gefühl führen, als er es jetzt tut.
Und abschließend kommen wir zur letzten Ebene. Die Ebene 5. Hier erfolgt die Einschätzung des Reizes gegenüber gesellschaftlichen und individuellen Normen, also ein Abgleich mit individuellen und konventionellen Wertesystemen. Wieder ein Beispiel, keine Angst, es ist jetzt auch mein letztes: Mal angenommen, ihr seid so genervt von mir und meinem Vortrag, dass ihr mich am liebsten schlagen wollt, damit ich endlich Ruhe gebe. Es ist in diesem Moment euer größtes Bedürfnis, die Bewertungsebene drei zeigt einen vollen Ausschlag in positiver Richtung. Trotzdem werdet ihr eurem Verlangen nicht nachgeben, weil eure individuellen Normen – ihr seid vermutlich alle eher so der friedliche Typ Mensch – und auch die gesellschaftlichen – man schlägt niemanden, nur weil er einen scheißlangweiligen Vortrag in der Uni hält – euch davon abhalten. Bewertungsebene fünf wird damit als wichtiger interpretiert als die Bewertungsebene drei und schwupps – es entsteht wiederum ein anderes Gefühl. In dem Fall gegebenenfalls Hilflosigkeit in Anbetracht der Tatsache, dass ihr nichts dagegen tun könnt, bis ich endlich freiwillig aufhöre zu reden.
Ihr seht, abhängig davon auf welcher Bewertungsebene ein Reiz und damit eine Situation, eine Person oder ein Handeln von uns interpretiert wird, entsteht eine andere Emotion. Scham, Wut, Freude, Zorn, Langeweile, Überraschung. Scherer deckt mit seinem Modell das gesamte Spektrum ab."
Puh.
Endlich geschafft.
So viel hat Yoongi seit Jahren nicht mehr auf einmal geredet. Punkt zwei von drei ist abgehakt und scheinbar macht er seinen Job gar nicht so schlecht, denn immerhin sind immer noch ein paar der Studenten in einem recht aufmerksamen Zustand. Immerhin. Auch der Dozent erscheint recht zufrieden. Nur Jungkook steht weiterhin hibbelig an seiner Seite und weicht immer noch jedem Versuch aus, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen. Gibt es eine gute Erklärung dafür? Vielleicht. Vielleicht würde es ihn nur noch mehr verunsichern, redet sich Yoongi zwischen seinen Atempausen selbst ein. Er versucht zwar grenzenloses Selbstbewusstsein auszustrahlen und für Jungkook der Fels in der Brandung zu sein, aber vielleicht löst das in seinem Referatspartner nur einen noch höheren Erwartungsdruck aus. Yoongi wendet sich also ein letztes Mal von ihm ab und den Studenten vor sich zu und atmet ein, um auch den letzten Punkt zu erläutern. Er fliegt nur so darüber hinweg. Was soll er auch groß dazu sagen? Natürlich spielen auch ein paar unbewusste Aspekte dabei eine Rolle, wie eine Emotion in unseren Gehirnen entsteht. Wie gesagt, es wäre viel zu leicht, wenn wir wirklich alles im Bezug auf Gefühle erklären könnten.
Ein Blick auf die Uhr verrät ihm, dass er bis hier hin zehn Minuten gebraucht hat. Sie liegen also gut in der Zeit.
Yoongi klatscht einmal laut in die Hände, um das Ende des ersten Abschnittes zu markieren. Außerdem erschreckt er dabei noch ein paar müde Studenten. Der Anblick ist einmalig. „Soooo....", sagt er gedehnt. „Ich darf euch und Ihnen gratulieren. Ihr habt es erfolgreich durch den trockenen, theoretischen Teil geschafft. Als Belohnung wartet etwas Praxis auf euch. Also hört bitte gut zu, damit wir die letzten fünf Minuten für eine kurze Diskussionsrunde nutzen können."
Er blickt Jungkook noch einmal auffordernd an. Tritt sogar näher, um dem Jüngeren noch einen aufmunternden Anstupser mit seiner Schultern zu verpassen. Er bringt den Sturmjungen damit vollkommen aus dem Gleichgewicht. Jungkook wirkt, als wäre er aus einer tiefen Meditation oder Trance erwacht, als er mit unsicheren Schritten das Pult umrundet.
„Danke... Yoongi... für die... gute Überleitung. Öhm... also...", beginnt Jungkook verunsichert. Man merkt ihm wirklich an, dass er sich vor Publikum nicht wohlfühlt. Er lässt eine Hand durch seine Haare gleiten. Sollte das Nest auf seinem Kopf jemals einer tatsächlichen Frisur geglichen haben, ist jede Erinnerung daran bereits vollständig verblasst. Trotzdem ist er wunderschön. Yoongi kann seine Augen nicht von ihm abwenden und bemerkt befriedigt, dass der junge Student schließlich seine Schultern strafft und seiner Körperhaltung ein wenig Destination verleiht. Ein lauer Windzug kommt auf und Yoongi begrüßt ihn erfreut. Das hier ist sein Jeon Jungkook und er muss sich vor nichts fürchten. Der Sturmjunge sieht danach aus, als hätte seine Meditation letztendlich doch zu einem Ergebnis geführt und er hätte ebenfalls endlich eine Entscheidung getroffen. Yoongi weiß, wie gut und befreiend sich das anfühlen kann. Der Wind wird stärker.
Als Jungkook beginnt zu sprechen, richten sich sogar ein paar Figuren in den hinteren Reihen wieder auf. Yoongi schnaubt. Pf. Verräter. Natürlich ist die Theorie oft trocken, aber sie ist nun mal auch die Grundlage für ihr praktisches Handeln. Ein paar Mädchen haben ihre Köpfe verzückt auf ihren Händen abgestützt und schauen mit funkelnden Augen nach vorne. Okay. Scheinbar ist Yoongi nicht die einzige Person im Raum, die in regelmäßigen Abständen (ca. alle zwei Sekunden) von Jeon Jungkook umgehauen wird. Auch diesmal wird er es wieder. Aber mit der Wucht des Schlages hat er nicht gerechnet.
„Also... wir wollen mit unserem Beispiel an die Inhalte der vorherigen Veranstaltungen anknüpfen... wie wir bereits in den vorherigen Vorlesungen kennengelernt haben, gibt es... öhm... verschiedene Persönlichkeitsstörungen. Die paranoide Persönlichkeitsstörung, die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung, die dissoziale Persönlichkeitsstörung und so weiter... Alle Persönlichkeitsstörungen stimmen darin überein, dass Reize von außen anders interpretiert werden als es bei einem „gesunden" Menschen der Norm entspricht. Manche Bewertungsebenen werden extrem berücksichtigt, während andere beinahe vollkommen außer Acht gelassen werden. Dadurch bilden sich unterschiedliche Emotionen aus, die letztendlich die Begründung für Handlungen sind, die wir rational nicht nachvollziehen können. Als Anwendungsbeispiel haben für uns für die narzisstische Persönlichkeitsstörung entschieden...", führt Jungkook aus.
Nein, ergänzt Yoongi in Gedanken, nein, dafür haben wir uns nicht entschieden. Als Fallbeispiel haben sie die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung gewählt. Eine Jugendliche mit Borderline-Störung. Darüber haben sie gesprochen. Nicht über Narzissmus. Warum...?
Irgendwas in Yoongi gefriert zu Eis. Alle Farben bleiben plötzlich stehen. Der Wind wird zu einem Sturm und irgendetwas fällt zu Boden. Vielleicht ist es die rosarote Brille der Hoffnung, die Yoongi bisher getragen hat. Sie hält dem Sturmjungen nicht stand. Ohne die Brille kann Yoongi jetzt viel klarer sehen. Der Blick in Jungkooks Augen. Der letzte Blick vor der Bibliothek. Damals sah es aus wie Trauer. Er hat Trauer und Schmerz hinter den dicken Wänden in Jungkooks Augen gesehen. Jetzt wird Yoongi klar, dass das nicht gestimmt hat. Er hat nur gesehen, was er sehen wollte.
„Vielleicht wisst ihr noch, was eine narzisstische Persönlichkeitsstörung ausmacht?", fragt Jungkook in die Runde. Er versucht das Publikum bereits zu diesem Punkt miteinzubeziehen. Auch das war nicht abgesprochen. So viel zur Diskussionsrunde in den letzten fünf Minuten.
Yoongi atmet tief ein und aus. Versucht, den ersten Schock aus seinem Gesicht zu vertreiben. Er weiß nicht, warum Jungkook den Plan geändert hat, ohne es mit ihm abzusprechen. Aber das muss nichts Schlimmes bedeuten, oder? Er muss aufhören damit, den Teufel ständig an die Wand zu malen und immer nur Schlechtes von den Menschen um sich herum zu erwarten. Kein Wunder, dass er niemanden genug vertraut, um ihn wirklich nah an sich heranzulassen. Aber Yoongi hat sich dazu entschlossen, Jeon Jungkook zu vertrauen. Er kann doch nicht so schnell wieder damit aufhören. Er bildet sich schließlich auch die Farben nur ein, die er sieht, wenn Jungkook lacht. Sicher bildet er sich jetzt auch diesen Sturm ein. Für die Planänderung gibt es sicher eine ganz rationale Erklärung. Vielleicht ist Jungkook mit dieser Art der Persönlichkeitsstörung ja besser klar gekommen. Im Endeffekt geht es hier ja auch primär um die Note und um nichts anderes. Er war doch so aufgeregt. Dann nimmt man auch lieber ein Thema, mit dem man sich beim Vortragen wohlfühlt... Und vielleicht war es auch eine ganze spontane Entscheidung?! (Und warum hat er dann Karteikarten mit Stichpunkten dabei, Yoongi?)
„Übertriebenes Selbstbild", wirft ein Junge aus der ersten Reihe in den Raum. Er gehört zu der Gruppe, die Jungkook immer einen Platz freihalten. Scheinbar will er seinem Kumpel durch die Mitarbeit wohl den Rücken stärken. Er zeigt dem Sturmjungen sogar unauffällig zwei Daumen hoch.
„Genau!", stimmt das Mädchen neben ihm zu. „Narzissten halten sich für großartig und überlegen gegenüber anderen Menschen."
„Trotzdem haben sie ein geringes Selbstwertgefühl. Deswegen brauchen sie die Anerkennung und Bewunderung von außen. Weil sie nicht selbst dazu in der Lage sind, ihren Selbstwert aufrecht zu erhalten", äußert sich ein weiteres Mädchen. Sie kommt Yoongi nicht bekannt vor, aber ihm ist nicht entgangen, dass sie eben noch den Kopf in die Hände gestützt hatte, um Jungkook verliebte Blicke zuzuwerfen. Biest. Scheinbar will sie die Gelegenheit nutzen, um Kontakt mit dem Sturmjungen aufzunehmen. Als würde sie ihm mit ein bisschen Fachwissen imponieren können.
„Fehlende Empathie", kommt es aus der vorletzten Reihe.
„Aggressionen oder depressive Verstimmungen als häufig auftretendes Verhalten. Damit kompensieren Narzissten oft, wenn ihr Geltungsbedürfnis von anderen nicht ausreichend befriedigt wurde..."
Jungkook nickt still vor sich hin und verteilt mit Handzeichen das Wort. Seinen Stichwortzetteln wirft er hin und wieder einen rückversichernden Blick zu, damit kein wichtiger Aspekt der narzisstischen Persönlichkeitsstörung ungesagt bleibt. Erst als er zufrieden ist, erhebt er selbst wieder das Wort: „Okay, super. Vielen Dank. Nachdem wir all diese Eigenschaften gesammelt haben, schließt bitte die Augen und stellt euch einen potenziellen Patienten mit einer solchen Störung vor. Ihr seid der Therapeut und er ersucht euch um Hilfe."
Die Studenten folgen der Anweisung und sogar ihr Dozent schließt die Augen. Yoongi ist zwar noch skeptisch, sieht noch einmal zu seinem Referatspartner hinüber, der jedoch weiterhin stur seinen Blick vermeidet und macht dann auch die Augen zu. Augen zu und durch, heißt es doch? Er weiß noch nicht, worauf das hinauslaufen wird, aber bisher ist nichts Schlimmes passiert. Womit hat er denn auch gerechnet? Dass Jungkook ihren Disput im Vorlesungssaal austragen wird? Unsinn. Sowas macht doch niemand. Und was hat Yoongi denn überhaupt auch mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung zu tun? Er ist doch kein Narzisst. Quatsch.
„Damit wir alle eine ähnliche Vorstellung haben, gebe ich ein paar Attribute vor", führt Jungkook aus. „Unser Patient ist männlich, 25 Jahre alt, ca. 1,74m groß. Er hat einen älteren Bruder und kommt aus einem funktionierenden Elternhaus. Sein Vater ist beim Militär, seine Mutter im Verkauf. Die Haare hat er gefärbt – mintgrün - ..."
Yoongi reißt die Augen auf. Will Jungkook ihn verarschen? Seine Welt bleibt wieder kurz stehen, als ihm Jungkooks Blick endlich offen begegnet. Es gibt diese Art von Sturm, die so stark ist, dass du nicht mehr einatmen kannst. Der Druck presst dir jegliche Luft aus der Lunge. Jungkooks Blick hat die gleiche Wirkung auf Yoongi. Die Mauer in Jungkooks kastanienbraunen Augen ist gefallen. Dahinter tobt ein Orkan. Und jetzt kann Yoongi auch erkennen, dass es wirklich keine Trauer ist. Es ist Wut. Und sie wird von Rache vorangepeitscht. Alles in Yoongis Körper versteift sich. Seine inneren Hummeln fallen augenblicklich tot zu Boden und werfen ihn mit ihrem Gewicht beinah mit um. Er muss seine Füße hüftbreit auseinander stellen, um den Sturz abzufangen. Die Hummeln haben sofort erkannt, was Yoongi noch nicht wahrhaben möchte. Es ist September geworden. In diesem Vorlesungssaal, im Zeitraum eines Wimpernaufschlags, ist es September geworden.
Jungkooks nächste Worte sind schwer. So schwer, dass Yoongi es nicht fassen kann, dass der Jüngere sie tatsächlich nach ihm wirft. Es gibt keinen Panzer, um dich vor einer solchen Situation zu schützen. Die schlimmsten Enttäuschungen sind immer die, auf die du dich nicht vorbereiten kannst. Die Momente, in die du die größten Hoffnungen gesetzt hast. In dem Moment, in dem du dir das Happy End am meisten wünschst, ist die Erkenntnis am bittersten, dass es keines geben wird.
Yoongi hat sich eine Aussprache gewünscht, aber irgendwie ist er davon ausgegangen, dass sie zu zweit stattfinden wird und nicht fünfzig weitere Studenten ihre Meinung dazu abgeben werden.
„Euer Patient, nennen wir ihn Suga – so hat er sich zumindest bei seiner ersten Sitzung bei euch vorgestellt – ist bisher nicht richtig mit euch warm geworden. Ab und an habt ihr euch schon gefragt, warum er eigentlich in eurer Behandlung ist, wenn er doch immer alles besser zu wissen scheint. In der heutigen Sitzung schildert er euch den folgenden Vorfall: Er war auf einer Party mit seiner Freundin. Dabei sind sie seiner zweiten Freundin begegnet. Er hat nämlich mehrere davon, erzählt er euch. Auf der Party kommt es daraufhin zu einem großen Streit und die beiden haben sich getrennt. Jetzt will Suga sie zurück. Die Freundin, mit der er ursprünglich auf die Party gegangen ist. Nun meine erste Frage an euch – warum will er sie zurück?", fragt Jungkook. Er malt damit Yoongis Herz an die Tafel. Er lässt es wie eine Zielscheibe aussehen und eröffnet das Feuer.
„Weil er ein Narzisst ist", kommt die erste Antwort wie aus der Pistole geschossen. Die Kugel trifft Yoongi mittig zwischen die Augen. Der Schütze ist ein Student, der sich bisher nicht in die Diskussion eingemischt hat. Er sieht eigentlich recht unschuldig aus. Aber vielleicht ist das so, wenn einem gar nicht bewusst ist, dass man gerade eine Waffe in der Hand hält. Worte sind auch Waffen. Wir haben sie die ganze Zeit, jederzeit, 24 Stunden am Tag, sieben Tage der Woche in der Hand. Gehst du mit ihnen so behutsam um, wie mit einer Waffe? Ich hoffe, dir ist klar, dass du keine Pistole brauchst, um auf einen Menschen zu zielen.
„Ist doch logisch. Er kann mit der Kränkung nicht umgehen, verlassen wurden zu sein. Das macht sein Ego nicht mit", ergänzt der Schütze seine vorherige Aussage.
„Seht ihr das auch so?", wendet sich Jungkook an die restlichen Studenten. Es folgt ein verhaltenes Nicken. Der Dozent enthält sich natürlich einer Antwort, aber er wirkt amüsiert. Er hat keine Ahnung, was für eine Schmierenkomödie hier abgeht und Yoongi kann nichts anderes tun, als stumm danebenzustehen und zuzusehen.
„Aber wenn er als Patient in meine Praxis kommt", wendet ein Mädchen schüchtern ein, „dann weiß ich ja noch gar nicht, dass er unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leidet. Dass muss ich doch erst herausfinden."
„Super Einwand!", bemerkt Jungkook lobend. „Aber wir kennen ihn ja schon ein bisschen länger und haben deswegen bereits eine Vermutung. Welche Aspekte seiner Persönlichkeit können wir bislang als Anzeichen für eine narzisstische Persönlichkeitsstörung interpretieren?"
„Dass er dich als Therapeut nicht ernst nimmt", antwortet sofort ein Student aus der ersten Reihe. Es ist diesmal nicht Jungkooks Kumpel, aber die meisten ihrer Kommilitonen haben sich mittlerweile aufgerichtet, um an der Diskussion zu antizipieren. Yoongi wünschte, sie würden alle weiterschlafen. Das hier ist nichts, was in einem Vorlesungssaal diskutiert werden sollte. Seine Psyche gehört ihm. Seine Gedanken gehören ihm. Sein Verhalten gehört ihm. Er lebt noch. Nichts davon sollte hier exerziert werden wie eine Leiche bei der Obduktion. Trotzdem nimmt sich Jungkook das Recht heraus, als Pathologie aufzutreten und die Zuschauer in dem Moment noch ein Stück näher heranzuwinken, als er die Schädeldecke öffnet. Damit auch wirklich alle sehen können, wie verrottet das Gehirn im Inneren schon ist. Vergiftet von bösen Gedanken und bösen Taten und bösen Gefühlen. Hat Yoongi das verdient? Was denkst du?
„Vielleicht auch die grünen Haare? Und sein Name – Suga? Alles Merkmale, um aus der Masse herauszustechen und die Aufmerksamkeit zu bekommen, die er braucht."
„Genau! Und dass er mehrere Freundinnen hat. Narzissten neigen zur Selbstüberschätzung. Sie gehen davon aus, dass sie mit allem durchkommen können und brauchen ständig die Aufmerksamkeit von außen. Vielleicht hat deswegen eine Freundin nicht gereicht."
„Auch das Elternhaus könnte ein Anhaltspunkt sein. Ein älterer Bruder und damit verbunden vielleicht Erwartungsdruck, den Suga im direkten Vergleich nicht erfüllen konnte? Vielleicht haben sich seine Eltern nur auf den älteren Sohn fokussiert und er wurde hinten angestellt? Ein Vater beim Militär... das kann auch ein Indiz für eine strenge Erziehung sein, in der Suga für seine Taten nicht die gebührende Anerkennung bekommen hat..."
NEIN, will Yoongi schreien. MEINE ELTERN WAREN GUT ZU MIR. SIE HABEN NICHTS DAMIT ZU TUN. Aber stattdessen steht er leichenblass und totenstill daneben und betrachtet das Schauspiel vor sich wie einen Horrorfilm. In seinen Gedanken sieht er die gleichen grausamen Bilder wie immer. Die aufgespießten Herzen rasen an ihm vorbei wie in einer Zeitraffer. Das Bild bleibt stehen, als es sein eigenes Herz erreicht. Er sieht Jungkook, wie er das Organ von seinem spitzen Podest hebt. Es fängt an hoffnungsvoll zu schlagen, die ergraute Oberfläche errötet wieder. Die Farben von Jungkook laufen auf sein Herz über. Und dann zerreißt er es. Jungkook zerreißt es und tritt darauf rum und das Blut spritzt und Yoongi wird schlecht. Ihm ist so schlecht. Vielleicht muss er den Rest seines Herzens auskotzen.
„Okay. Das sind alles gute Gründe, um unsere Vermutung zu stützen", fasst Jungkook die bisherigen Ergebnisse zusammen. „Wir gehen also davon aus, dass unser Patient unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leidet und nur deswegen seine Freundin zurückmöchte. Wie können wir unsere Annahme überprüfen? Denkt bitte an den ersten Teil unseres Vortrages zurück."
„Über die Art und Weise, welche Emotionen er in Bezug auf einen bestimmten Reiz entwickelt?", schlägt ein Mädchen vor, das Gesicht halb in ihren Notizen versteckt.
„Ding, Ding", macht Jungkook. Die meisten Studenten lachen. Yoongi wird noch ein bisschen schlechter. Ihr Dozent grinst immer noch gutmütig vor sich hin. Er ist bestimmt begeistert von der lebhaften Diskussion in seinem Vorlesungssaal. Gemessen an der Beteiligung wird ihre Note vermutlich hervorragend sein. Aber wie kann bitte der Sturmjunge in einer solchen Situation noch zu Scherzen aufgelegt sein? Rache ist so grausam.
„Welche Ebenen der Reizbewertung spielen für eine narzisstische Persönlichkeit deine eine besondere Rolle?", stellt wiederum Jungkook die nächste Frage an sein Publikum. Er ist wieder dazu übergegangen seinen Referatspartner zu ignorieren. Bisher war es nur ein einziger Blick. Nur um Yoongi mitzuteilen, dass es hier um ihn geht. Und dass er besser zuhören sollte. Es ist makaber, wie Jungkook ihn auf dem Präsentierteller serviert, ohne ihm auch nur eine Winzigkeit von Aufmerksamkeit zu schenken. Die Studenten springen direkt auf seinen Köder an. Wieder diskutieren sie über Yoongis Psyche als wäre sie eine Delikatesse, die man mit den Händen verzehrt. Dreckige Gliedmaßen reißen an seinem Gehirn, pflücken es auseinander und stecken es in hungrige Mäuler. Yoongi fühlt sich ausgezehrt. Seine ganze restliche Kraft wird darin investiert, aufrecht stehen zu bleiben.
„Die Bewertung nach der Valenz! Lust und Unlust!"
„Und Nummer drei, oder? Nummer drei ist doch am wichtigsten. Die Bewertung des Reizes bezogen auf die eigenen Bedürfnisse. Das muss ja nicht immer nur Hunger und Durst oder sowas sein. Aufmerksamkeit ist auch ein Bedürfnis und das wird beim Narzissten ja nie gestillt."
„Hingegen ist Einschätzung des Reizes bezogen auf die gesellschaftlichen Norman ja eher irrelevant. Für den Narzissten zählt nur er und nicht, wie die Gesellschaft auf ihn reagiert. Vielleicht kann man das nutzen, um herauszufinden, ob wirklich ein Narzisst vor einem sitzt?"
„Man könnte auch einfach 'nen NPI-Test machen, oder? Das Testergebnis zeigt doch dann an, ob wir es mit einem Narzissten zu tun haben oder nicht?", schlägt ein besonders gewitzter Student vor. Yoongi sieht sich schon bei seiner nächsten Prüfung. Vielleicht schreibt er in diesem Semester keine Klausuren, sondern nur den Narzissmus-Test. Und Jungkook wird wie jetzt vor ihm stehen und ihn bewerten.
Wiederum grinst der Sturmjunge, als hätte er die Antwort bereits erwartet. Das Zucken der Mundwinkel ist so unangemessen, dass wir eigentlich gar nicht darüber sprechen wollen. Schließlich erzählen wir diese Geschichte aus Yoongis Sicht. Wir leiden gerade mit ihm, oder? Niemand will in so einer Situation sein, wie er es gerade ist. Und Jungkook hat auch noch Spaß dabei. Aber manchmal ist das so. In manchen Situationen amüsiert uns Grausamkeit. Vor allen Dingen dann, wenn sie mit Rache verbunden ist. Dann kennen wir auch keine Grenzen mehr. Es gibt kein Stoppschild, dass uns sagt, dass wir gerade dabei sind, eine Grenze zu überschreiten. Wenn es das geben würde, dann wären wir ja gar nicht bis zum fünften Akt gekommen. Jungkook überschreitet vielleicht diese Grenze, aber Yoongi hat schon unzählige vor ihm überschritten. Gebe es eine Grenze, dann wäre Yoongi nicht so oft fremd gegangen, dann hätte er nicht so viele Herzen gebrochen und Jungkook wäre nie motiviert gewesen, einen Rachefeldzug per excellence zu planen.
„Alles richtig. Vor allen Dingen die letzte Antwort. Natürlich machen wir mit Suga über kurz oder lang einen NPI-Test, um unsere Vermutung als tatsächliche Diagnose zu sichern. Aber irgendwer muss diesen Test ja auch einmal entworfen haben. Und um das zu können, muss man vorher wissen, auf welche Art und Weise im Menschen Gefühle entstehen. Wir müssen die Bewertungsebenen kennen, die körperlichen Reaktionen folgerichtig interpretieren und auch die unbewussten Aspekte der Emotionsbildung lernen", erklärt Jungkook mit ruhiger Stimme. Die Grausamkeit hat ihm seine Nervosität genommen. Jetzt, nachdem er Yoongis Herz zu einem matschartigen Brei verwandelt hat, ähnlich wie es sein eigenes vermutlich von Yoongi wurde, ist er ganz ruhig. Es ist alles kalkuliert. Ein eiskaltes Kalkül. Auch jetzt. In dem Moment, in dem er sich endlich zu seinem Referatspartner herumdreht.
„Dann habe ich jetzt noch eine letzte Frage an euch. Angenommen, wir hätten nicht Suga vor uns sitzen, sondern seine Freundin, die aufgrund der schwierigen Situation, um euren Rat bittet. Schließlich will ihr narzisstischer Freund sie zurück und zieht dabei alle Register. Weil Narzissten nun mal nur schwerlich ein „Nein" akzeptieren können. Was würdet ihr der Freundin raten? Sollte sie Suga zurücknehmen? Was denkst du, Yoongi?"
Jungkook stellt diese Frage nicht an die Studenten. Er richtet sie nur an Yoongi.
Nein, sollte er antworten. Nein ist die richtige Antwort auf diese Frage. Er schafft es nicht. Aber weil fünfzig Augenpaare auf ihn gerichtet sind, sein Herz wie eine zerschossene Zielscheibe in Fetzen von der Tafel hängt und seine Psyche wie eine dunkle Matschpfütze vor seinen Füßen zerläuft, schüttelt er zumindest den Kopf. Das reicht aus. Nicht alle Worten müssen gesagt werden. Dieses eine ist auch ungesagt so schwer, dass Yoongi nicht einmal versucht, es zu tragen. Er wird anstandslos von ihm zerquetscht.
Nein.
Das war ihre Chance. Sie haben es vermasselt.
Yoongi wollte nie Jungkooks Herz brechen. Er hat nie darüber nachgedacht, dass auch sein eigenes Herz brechen könnte.
Die Bienenkönigin stirbt. Sie ist ein Kollateralschaden. Sie wird im nächsten Jahr kein neues Volk gründen können. Es ist September jetzt. Und dieses Mal gibt es den September nur in Schwarz-Weiß.
* * *
Hallo ihr Herzen <3
Willkommen zurück zu "Schöner Scheitern". Ich habe mich dafür entschieden, die letzten Szenen einzeln zu veröffentlichen und nicht - wie gewohnt - als Doppel. Zum Einen denke ich, dass jede Szene für sich alleine schon lang genug ist, um als eigenständiges Kapitel zu gelten. Aber noch viel wichtiger ist für mich, dass jede Szene sehr... viel... ist, emotional anstrengend. Zumindest waren sie das für mich beim Schreiben.
Ich hoffe, euch geht es gut danach und ihr habt es gut verkraftet. An dieser Stelle muss auf jeden Fall noch der Hinweis darauf erfolgen, dass ich für Yoongis Vortrag leider keine Garantie mehr für fachliche Richtigkeit geben kann. Ich habe kein Psychologiestudium hinter mir. Die Entstehung von Emotionen in unserem Gehirn ist sehr komplex und ich habe mein Bestes gegeben, es irgendwie verständlich wiederzugeben. Die Vereinfachung hat vermutlich nicht mehr viel mit der Realität zu tun, aber ich hoffe, dass es trotzdem überzeugend dargestellt werden konnte.
Ich versuche schnell mit dem Korrigieren weiterzumachen, damit wir "Schöner Scheitern" noch diesen Monat beenden können. Bis dahin freue ich mich sehr über euer Feedback! Was haltet ihr von Jungkooks Aktion im Vorlesungssaal? Konntet ihr ihn verstehen? Eure Meinung interessiert mich sehr.
Ich hoffe, es geht euch allen gut.
Liebste Grüße
Vikki
P.S. "Schöner Scheitern" wird tatsächlich die erste Geschichte von mir sein, der ich ein Kapitel mit behind the scenes-Material widmen werde. Es gibt einfach noch so viel, was ich dazu mit euch teilen möchte. Es kommt nach dem Epilog. Ich hoffe, ihr könnt mit sowas etwas anfangen.
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