Akt III: Peripetie (IV)

Hallo ihr Herzen <3,
Szene 6 hat mir wirklich den letzten Nerv geraubt. Wie ihr bestimmt schon folgerichtig vermutet, ist sie ein großer Knackpunkt in unserer Geschichte. Deswegen schenkt ihr und mir bitte ein bisschen Liebe! Ich freu mich sehr über eure Rückmeldungen und wünsche euch ganz viel Spaß beim Lesen! Obwohl ich den letzten Teil nochmal aufgesplittet habe, ist es trotzdem ziemlich lang geworden - ungefähr 8500 Wörter. Bringt also besser ein bisschen Zeit und noch besser - eine heiße Tasse Tee oder ein kühles Bier mit. Beides passt irgendwie.
Ich drück euch!
Eure Vikki 

"Iᴄʜ ʙɪɴ ᴇɪɴ ʙɪssᴄʜᴇɴ ᴋᴏᴍᴘʟɪᴢɪᴇʀᴛ, ʜᴀʙ ɴɪᴇ sᴏ ʀɪᴄʜᴛɪɢ ғᴜɴᴋᴛɪᴏɴɪᴇʀᴛ.
Iᴄʜ ʙɪɴ ᴅᴇғᴇᴋᴛ, ᴢᴜ ᴏғᴛ ᴍɪᴛ Mᴇɴsᴄʜᴇɴ ᴋᴏʟʟɪᴅɪᴇʀᴛ ᴜɴᴅ ɪᴍ Eɴᴅᴇғғᴇᴋᴛ ɪsᴛ ᴀʟʟᴇs sᴛᴀ̈ɴᴅɪɢ ᴇsᴋᴀʟɪᴇʀᴛ."
ᴋᴜᴍᴍᴇʀ, ʙᴇɪ ᴅɪʀ


Szene 6: Ein neuer Club. Wieder ein anderer Tag. Später Abend. 

Der Gestank von Wasserstoffperoxid hat sich penetrant in Yoongis Nase festgesetzt. Er hasst den Geruch von Bleichmittel. Für ihn riecht der Dreck nie nach Haarfarbe, sondern immer nur nach 'ner Scheißvergangenheit und dem Versuch, jemand anderes zu sein. Er wollte den Geruch abwaschen, bevor er heute Abend in den Club gegangen ist. Hat sich zweimal die Haare gewaschen, war duschen und hat sich umgezogen. Zwecklos. Der Gestank haftet an ihm wie eine Klette.

Ein paar Stunden später ist er jetzt hier und riecht immer noch nichts anderes als dieses verfickte Wasserstoffperoxid. Nicht mal die schweren Ausdünstungen des heruntergekommenen Clubs können daran etwas ändern. Naja, wenn er das vorhandene Publikum etwas näher betrachtet, ist es vielleicht doch gar nicht so schlecht, dass das fucking Bleichmittel seine olfaktorische Wahrnehmung so hartnäckig besetzt.

An der Bar bestellt er sich zuallererst ein Bier und noch ein zweites für seinen Mitbewohner und stürzt es beinah in einem einzigen Zug hinunter. Scheiße. Yoongi ist ein bisschen nervös. Es liegt an der Umgebung und daran, dass er sich in die Vergangenheit zurückversetzt fühlt. Der schwere Bass dröhnt wuchtig durch die Boxen, die überall im Raum verteilt sind. Der Club ist nicht sonderlich groß, besteht eigentlich nur aus zwei Räumen und einer Garderobe. Seine Jacke hat er aber nicht abgegeben. Das Camouflagemuster gehört zu seinem Bühnenlook, steht irgendwie auf Angriffsmodus. Ohne sie fühlt er sich nicht bereit für den kommenden Auftritt. Was hat sich Jungkook nur dabei gedacht?

Rauchschwaden durchziehen die Luft wie stickiger Nebel. Reflektieren die LED-Lichter und erwecken den Eindruck eines bunten Gewitters. Im hinteren Teil kann er die kleine Bühne erkennen, die er später wieder betreten wird.
Früher war Yoongi oft hier. Hat Ärger und den Konkurrenzkampf gesucht. War immer dabei, wenn es darum ging, jemanden ein paar auf die Fresse zu geben. Egal, ob verbal oder mit den Fäusten. Vor ein paar Jahren war das, in seinem ersten Semester. Damals, als Raptexte für ihn noch solide Lebensentwürfe waren und seine Haare immer tief mintgrün geleuchtet haben.

Jetzt sind sie blond, beinahe schon weiß, weil er einen ätzenden Gelbstich auf jeden Fall umgehen wollte. Deswegen hat sein Mitbewohner etwas mit dem Bleichmittel übertrieben. Er hätte Jin nicht erlauben dürfen, seine Haare zu färben. Ihm hat seine Naturhaarfarbe, das dunkle Braun, beinah schon schwarz, eigentlich ganz gut gefallen. Aber der Hauch von schwerer Melancholie, die ihn schon seit dem Aufstehen begleitet hat, hat ihn schwach gemacht für die hartnäckigen Anfragen des Älteren.

„Oh, hast du ohne mich angefangen?", erkundigt sich Jin, der plötzlich neben ihm aufgetaucht ist und deutet mit einem Kopfnicken auf das Bier in Yoongis Hand. Sie haben sich getrennt, als sie den Club betreten haben, weil Jin noch seine Jacke abgeben wollte. Yoongi ist vorgegangen an die Bar.

„Hab dir auch eins bestellt", erklärt er wortkarg und schiebt das erwähnte Getränk in Richtung seines Gegenübers.

„Wie überaus großzügig von dir, Darling."

„Mhm."
Yoongi lässt seinen Blick lieber durch den Raum schweifen, als dem Gespräch sonderlich viel Beachtung zu schenken. In jeder Ecke stecken Erinnerungen. Die meisten sind schlecht, aber es gibt auch ein paar Gute. Er weiß noch ganz genau, wie aufgeregt er war, als er sich das erste Mal in dem schäbigen Laden für einen Bühnenslot angemeldet hat. Da die Liebe ihn nur ein paar Wochen zuvor herzentreißend enttäuscht hat, hat er es dann eben mit der Musik versucht. Sie war ohnehin bis dahin sein gesamtes Leben so etwas wie seine heimliche Affäre gewesen und hat nur auf ihren Moment in Rampenlicht gewartet.
Damals war Yoongi noch etwas verblendet von der romantisierten Vorstellung, dass er seine Texte performen und die Welt ihm zu Füßen liegen wird. Nachdem er so bitter abserviert wurde, hat er die Anerkennung mehr gebraucht als alles andere. Die Realität sah natürlich anders aus. Seine weichen Wischi-Waschi-Texte sind nur auf taube Ohren gestoßen. Niemand wollte hören, dass sein Herz gebrochen ist. Niemand hat sich dafür interessiert, dass er seinem blauäugigen Wunder begegnet ist. Mitten im Dezember und irgendwie viel zu früh in einem Leben, um die Bedeutung dahinter vollends verstehen zu können. Ein Wunder so gewaltig, dass ihm nicht mal mehr der kalte Winterwind etwas anhaben konnte, seit er ihm begegnet ist. Niemand wollte wissen, wie sie sich das erste Mal geküsst haben und niemand wollte wissen, wie es das letzte Mal war. Keiner hat zugehört, als Yoongi seinen Herzbruch in Zeilen niedergeschrieben und dem Publikum wütend entgegengebrüllt hat. Dass sie sich verloren haben, irgendwo im Schneesturm von Alkohol und Drogen und Eltern, die viel zu gerne die Hand gegen ihren Sohn erhoben haben und einem Jungen, der nur zugucken konnte, aber niemals helfen. Niemand hier wollte den Schmerz mit Yoongi teilen.

Zutiefst beleidigt und in seiner Ehre gekränkt, hat er also zu anderen Waffen gegriffen. Sich das nächste Mal für ein Rap-Battle gemeldet und keine lahme Solo-Performance hingelegt. Yoongi hat all seinen Frust in diese Worte gelegt. Damals hatte er so viel davon. Er war endlos. Auf der Bühne hat er seinen Gegner so lange beleidigt, bis er heulend vor ihm geflohen ist und Yoongi endlich nichts mehr gefühlt hat.

Das Publikum hat gejohlt und geschrien. Es hat Blut geleckt und Yoongi prompt in die nächste Runde katapultiert. Dort musste er nicht mehr gegen einen Newcomer, wie er selbst einer war, sondern gegen ein fortgeschrittenes Kaliber antreten. Hat aber nichts am Ausgang des Geschehens geändert. Auch er hat ein bisschen geweint und nach seiner Mama gerufen, als Yoongi mit ihm fertig war.

Das dunkle Loch in seiner Brust war nach den Auftritten endlich wieder mit etwas Anderem gefüllt als dieser stumpfen Trauer. Und wenn der verbale Austausch nicht gereicht hat, dann hat er sich eben hinter der Bühne oder vor den Türen des Clubs mit seinen Fäusten gegen die schlechten Verlierer verteidigt, bis nichts mehr von diesem Gefühl in ihm übrig war. Irgendwann haben sie's dann gecheckt. Dass mit Yoongi nicht zu spaßen ist, auch wenn seine Haare mintgrün sind, er ein Stückchen zu klein geraten ist und der harte Zug um seine Mundwinkel sich niemals verändern wird.

Dann ist er öfter hergekommen. Hat die johlenden Zurufe genauso sehr genossen wie die Möglichkeit, den diabolischen Gefühlen in seinem Inneren endlich ein Sprachrohr geben zu können. Wenn er seine Kontrahenten bis aufs Letzte beleidigt hat, hat Yoongi immer nur sich selbst gesehen. All seine Worte galten ihm. Die Zurufe haben das Vakuum in ihm langsam gefüllt. Nachdem er einige Wochen als absoluter Einzelgänger durch die Weltgeschichte gewandert ist – denn wie würdest du dich fühlen, wenn du deinem Wunder begegnet bist und es dann wieder verlierst? – hat er im Club endlich wieder Menschen an sich herangelassen. Dieser Teil gehört zu den guten Erinnerungen, die sich irgendwo zwischen dem bunten Gewitternebel verstecken. Die Nähe zu seinem Publikum gefiel ihm besser als die Distanz. Aber die Menschen waren für ihn eben nur das – ein Publikum und es gab nur Nähe, die er bis zu einer gewissen Grenze zulassen konnte. Alles andere hat er in sich verschlossen. Als er irgendwann so beliebt war, dass sie ihn angefragt haben, ob er jetzt nicht doch noch einmal seine Soloshow hinlegen könnte, diesmal würden sie ihm auch zuhören, hat Yoongi abgelehnt. Diese Texte hat er nie wieder performt. Und sich selbst verboten daran zu denken, warum er sie ursprünglich geschrieben hat.

„Du warst früher öfter hier, oder?", versucht Jin das Gespräch zwischen ihnen wieder in Gang zu bringen und folgt Yoongis Blicken in alle Ecken des Clubs. Er sieht nicht das gleiche wie er. Diesen Teil von seinem Leben hat Yoongi niemals mit irgendwem geteilt.

„Kaum der Rede wert", antwortet er und nimmt den zweiten Schluck von seinem Bier, um es leer zu trinken.

„Nur weil du nicht darüber redest", entgegnet Jin wie immer viel zu geschickt mit seinen Worten.

„Du redest mit mir auch nicht über alles", reagiert Yoongi trocken. Jin hat kein Recht dazu, ihm einen Vorwurf zu machen. Yoongi kann nicht mehr zählen, wie oft sie einen Konflikt umgangen sind, anstatt ihn zu lösen. Klärende Gespräche gab es niemals zwischen ihnen. Nicht mal, als Yoongi mit Jins Ex-Freund in der Kiste gelandet ist und sie aufgeflogen sind.
Ups und Wenn es dich stört, dann lass ich's bleiben waren die einzigen Klärungsversuche. Vollkommen fehlgeleitet, um eine wahre Auflösung des Konfliktes zu bewirken. Yoongi kennt Jin. Er weiß, dass sein langjähriger Freund viel zu eitel ist, um eine Verletzung zuzugeben. Also hat Jin abgewunken und das Thema war beendet. Beendet, nicht vergessen. Vieles wartet immer noch unter der Oberfläche auf eine Aufarbeitung, die es nicht geben wird. Brodelt nicht so heiß wie Lava. Eher wie der Eintopf auf deinen Herd, den du zum Warmhalten auf die niedrigste Stufe gestellt hast. So kann er nicht abkühlen, brennt aber auch nicht an. Er könnte noch ewig dort stehen und es würde nichts passieren. Die unausgesprochenen Gefühle zwischen ihnen können noch ewig unter dem Deckmantel der Ignoranz begraben bleiben. Dort bleiben sie warm.

„Ich rede über mehr mit dir, als du vielleicht glaubst...", sagt Jin. Die Emotion in seinen Augen dabei könnte echt sein, zumindest sein Tonfall beherbergt Aufrichtigkeit. Bevor Yoongi sie entschlüsseln kann, schlägt sein Gegenüber die Augen nieder und nimmt ebenfalls einen großzügigen Schluck von seinem Bier.

„Deine ausschweifenden Erzählungen über deine Heimweg-Eskapaden zählen wohl kaum zur Offenbarung von deinem Inneren", kontert Yoongi.

„Und deine Erzählungen über diesen Club würden das tun?"

„Vielleicht."

Eigentlich weiß er gar nicht, ob die Aussage seines Mitbewohners wirklich als Vorwurf gemeint war. Aber er verteidigt sich lieber, bevor er den angreifenden Worten schutzlos ausgeliefert ist. Vielleicht ist es die Umgebung und die Melancholie in seinem Herzen. Aber eigentlich ist es ein Konzept, dass Yoongi schon vor langer Zeit verinnerlicht hat. So war es schon immer zwischen den beiden Freunden. Über die wirklich bedeutsamen Momente in ihrem Leben schweigen sie. Nur so funktioniert ihre Freundschaft. Anstatt aneinander zu wachsen, begegnen sie den Problemen mit stummer Wortlosigkeit, bis es ausgeschwiegen wurde. Es ist ein Weg, aber keine Lösung.

„Du weißt, dass du mir auch dein Inneres offenbaren kannst, wenn du das willst?"

„Sorry Darling" und Yoongi benutzt den Kosenamen absichtlich, weil Jin damit viel zu gern alle Personata in seiner Umgebung bezeichnet. Zieht ihn in die Länge und lässt seine Stimmlage zwei Oktaven höher wandern. „In meinem Inneren herrscht gerade Hochkonjunktur. Leider kein Platz mehr für dich frei. Stell dich bitte hinten an."

Es ist eine einwandfreie Imitation von Jins affektierten Gesprächen, die er mit Vorliebe auf ihrem Balkon in erhöhter Lautstärke führt.

Yoongi verpasst den verletzten Blick aus holzdunklen braunen Augen, als er sich der Bar zuwendet und zwei weitere Getränke für die beiden Freunde bestellt. Als kleine Widergutmachung bestellt er für Jin diesmal einen Prosecco. Er weiß, dass er in dem Versuch sich zu verteidigen und das Gespräch zu umgehen, über das Ziel hinaus geschossen ist. Er hätte ihn nicht nachmachen dürfen. Die charakteristischsten Eigenarten so vors Auge geführt zu bekommen, ist sehr verletzend. Man fühlt sich plötzlich schlecht für Dinge, die einem vorher nicht einmal bewusst waren. Oder zumindest nicht auf die Weise bewusst, dass man ihnen eine negative Außenwirkung zusprechen könnte. Das Sektglas ist die einzige Entschuldigung, zu der Yoongi in der Lage ist. Jin weiß das und nimmt es schweigend entgegen.

Als sie anstoßen, ist der Sekundenkonflikt zwischen ihnen wieder bereinigt. Er gesellt sich zu unserem Eintopf auf dem Herd, damit er nicht anbrennen kann.

„Wo bleibt dein Wirbelwind eigentlich?", erkundigt sich Jin weiterhin um ein Gespräch bemüht, auch wenn er sie jetzt wieder in seichtere Gewässer führt.

„Vermutlich zu spät – so wie immer", nimmt Yoongi das Angeboten dankend an. Für ihn ist wirklich alles gesagt. Die Erinnerungen zwischen den grellen LED-Blitzen gehören nur ihm und den verdreckten Wänden.

„Wann müsst ihr auf die Bühne?"

„So in 'ner halben Stunde."

„Und? Reicht das?"

„Reicht das – wofür?"

„Für deinen Wirbelwind. Um hier noch pünktlich zu erscheinen."

„Ich hoff's für ihn."

Jin grinst ihn aufmunternd an. „Zumindest ist es genug Zeit für uns, dein Lampenfieber mit ein bisschen Alkohol runterzukühlen."

„Ich hab kein Lampenfieber."

„Darling, du bräuchtest schon mein Selbstbewusstsein, um hier kein Lampenfieber zu haben. Aber wir wissen beide, dass du das nicht hast."

„Niemand hat dein Selbstbewusstsein."

„Weil es sich sonst niemand leisten kann."

„Auch wieder wahr", gluckst Yoongi belustigt in sich hinein.

„Also... auf dich. Und auf diesen Abend. Und darauf, dass ich dich heute Abend das erste Mal tatsächlich rappen sehen werde", zur Unterstreichung seiner Worte hält ihm Jin das fragile Sektglas entgegen. Die Flasche von Yoongis Bier ist im Gegensatz dazu viel wuchtiger. Er gibt sich Mühe damit, nur sanft dagegen zu stoßen, damit er nichts kaputt macht. Scherben bringen nämlich kein Glück. Sowas ist Irrglaube. Scherben bringen nur aufgeschnittene Finger und hinterlassen zarte Narben. Wenn Yoongi nur in anderen Bereichen seines Lebens so umsichtig wäre, wie dabei mit seinem Mitbewohner anzustoßen. Vielleicht ginge dann gar nicht erst so viel kaputt.

„Kannst du überhaupt rappen?", fragt Jin, aber wirkt gutmütig dabei. In seinen Augen glitzert nur der Schalk und ein bisschen Übermut, weil er Yoongi durch seine liebevollen Sticheleien von seiner Aufregung ablenken möchte.

Yoongi zuckt mit denSchultern. "Ein bisschen... vielleicht."

„Meine Güte", echauffiert sich sein Gegenüber in gewohnt überdramatischer Positur, „was machen wir dann überhaupt hier?"

„Uns überraschen lassen?"

„Herr, steh mir bei...", flüstert Jin in seinen nicht vorhandenen Bart und faltet die Hände vor sich wie zum Gebet. „Blamier uns bloß nicht, Darling. Die Leute wissen doch jetzt schon, dass ich mit dir hier bin."

„Jin, niemand hier hat uns beachtet? Wir stehen an der Bar. In diesem Kackraum ist so düster, dass man kaum die Bühne sehen kann."

„Dich hat vielleicht niemand beachtet. Mich hingegen..." Jin macht eine bedeutungsvolle Pause. „Sekt, mehr Sekt. Herr BARKEEPER, wir brauchen mehr Sekt!", ruft er dann und lehnt sich mit seinem Oberkörper auf den Tresen, um den Barkeeper mit ausufernden Bewegungen zu sich heranzuwinken.

„Bier für mich", fügt Yoongi der Bestellung monoton hinzu.

* * *

Jungkook schafft es tatsächlich zu spät gekommen.

Als er endlich mit den typischen verstrubbelten Haaren neben Yoongi auftaucht, sind sie schon in den Backstagebereich gerufen wurden. Yoongi hat die letzten Minuten damit verbracht, gestresst in seinen Handybildschirm zu starren, jegliche ungelesenen Nachrichten aus anderen Chats zu ignorieren und dafür Jungkooks Chat hypnotisch anzustarren, als könne er damit bewirken, dass sich der junge Student endlich wie aus dem Nichts neben ihm materialisiert.

„Ich dachte schon, du kneifst", bringt Yoongi statt einer Begrüßung hervor. Eigentlich wollte er sauer sein, zumindest ein bisschen wütend darüber, dass er mal wieder zum Warten verdonnert wurde. Das Gefühl wollte er mit auf die Bühne nehmen, um seinen Rhymes den notwendigen Biss zu verpassen, den er ansonsten sicher in seiner Zuneigung ertränkt hätte. Aber jetzt, wo der jüngere Student ihm gegenüber steht, tropft aus seinen Worten nicht mehr als liebevoller Spott. Was für eine Katastrophe – schon jetzt – für sein rappendes Alter Ego.

„Doch nicht vor dir", entgegnet Jungkook keck. Auch er verliert keinen Ton über sein Zuspätkommen. Vermutlich interpretiert er es nicht mal als ein solches. Er ist rechtzeitig für den Auftritt da und damit für ihn in jeglicher Kategorie pünktlich.

„Aber vielleicht vor dem restlichen Publikum?!"

„No Chance – in keiner Welt hätte ich das Spektakel heute verpasst", antwortet Jungkook und kann dabei seine Aufregung nicht ganz verbergen. Er hibbelt auf seinen Zehenspitzen herum, wippt auf den Fußballen auf und ab und kann keine einzige Sekunde ruhig stehen.

„Aufgeregt?", spricht Yoongi das Offensichtliche aus, hebt spöttisch eine Augenbraue und zwingt sich selbst zur Ruhe. Er hat das hier schon mal gemacht. Zwar in einem anderen Leben, aber gut. Sowas verlernt man ja nicht, sagt er sich selbst und versucht an die Worte zu glauben. Es ist ein kleines Déjà-vu, denn als er diese Bühne das erste Mal betreten hat, da gab es dafür genau zwei Gründe. Er wollte beeindrucken und... aus Liebe. Irgendwie sind die Gründe diesmal wieder dieselben. Er hat es ihm bereits gesagt – ich bin auch verliebt in dichund auch wenn es sich angefühlt hat, wie kotzen, war es trotzdem die Wahrheit. Deswegen möchte er ihn heute beeindrucken. Nicht das gesamte Publikum. Nur den Unwettersturmjungen mit den immer-chaotischen Haaren und dem farbenfrohen Lachen. Es wäre sinnlos es abzustreiten. Wenn es nicht so wäre, hätte Yoongi sich gar nicht auf den heutigen Abend eingelassen. Die Liebe lässt ihn unvorsichtig werden – und blind. Ein Spektakel hat Jungkook es genannt und ja, genau das wird es gleich geben.

„Nicht mehr als du", entgegnet Jungkook und das herausfordernde Aufblitzen seiner Augen lenkt beinah von der restlichen körperlichen Verfassung ab.

Yoongi hätte gerne noch mehr Worte mit ihm gewechselt. Ihn gefragt, was ihn so lange aufgehalten hat und warum er Yoongi eigentlich immer warten lässt. Er genießt es vielleicht ein bisschen zu sehr, sich mit seinem Gegenüber spielerisch zu kabbeln, sich herauszufordern und glühendheiße Blicke auszutauschen, die eigentlich nur für das eigene Schlafzimmer reserviert sein sollten.

Dazu kommen sie natürlich nicht. Ein geschäftig wirkender Mitarbeiter des Clubs kommt mit schnellen Schritten zielstrebig auf sie zu. In seiner Hand hält er einen zerknüllten Zettel. Für ein Klemmbreit hat es scheinbar nicht gereicht. Auf seinen Wangen befinden sich knallrote Stressflecken, die nicht mal die indirekte Beleuchtung im hinteren Bühnenbereich überschminken kann. Die Schweißtropfen auf seiner Stirn glitzern prominent und mit einer unwirschen Bewegung wischt er sie mit seinem T-Shirt ab. Die feuchten Schlieren lassen seinen Gesamteindruck nur noch unseriöser wirken, aber mit was sonst soll man in einem solchen Club auch rechnen?

„Da seid ihr ja endlich", platzt der Mitarbeiter hervor und bleibt atemlos vor ihnen stehen.

„Also für mich siehts ganz danach aus, als wärst du der letzte, der uns mit seiner Anwesenheit beehrt...", kann Yoongi sich die Retourkutsche nicht verkneifen. Vielleicht wird er für Jungkook soft, aber deswegen überträgt sich das Gefühl noch lange nicht auf seine gesamte Umwelt.

Ein pikierter Blick ist die nonverbale Reaktion auf seine Erwiderung. Für einen kurzen Moment sieht es so aus, als würde sich der enorm wichtige Mitarbeiter zu einer patzigen Antwort hinreißen lassen, aber dann erinnert sich wohl wieder an das Geschäft und seinen Auftrag und räuspert sich nur. „Wie dem auch sei... ihr müsst jetzt gleich raus auf die Bühne. Mit welchen Namen soll ich euch ankündigen?" Er blickt jetzt auf das schmierige Stück Papier zwischen seinen Fingern und versucht die Buchstaben zu entziffern. „Min Yoongi und Jeon... Jungkook?", liest er fragend. „Das sind ja sicher nicht eure Künstlernamen."

Min Suga."
Yoongi braucht keine einzige Sekunde, um über seine Antwort nachzudenken. Obwohl er das Synonym so lange nicht mehr ausgesprochen hat, kommt es jetzt über seine Lippen wie ein alter Vertrauter.

Jungkook blickt ihn überrascht an. „War das früher dein Künstlername?"

Der Mitarbeiter des Clubs nickt nur geschäftig und notiert etwas auf seinem Zettel. Es ist zu lange her, als dass er sich an Yoongi erinnern könnte. Auch ihm kommt sein Gesicht nicht bekannt vor. Die Welt der Szeneclubs ist schnelllebig und bist du einmal verschwunden, dann dauert es nicht lange, bis man dich vergessen hat.

„Also Min Suga und...?", wendet er sich jetzt an Jungkook.

Der zuckt nur ratlos mit den Schultern. „Jaykay?", schlägt er ein bisschen planlos vor und man merkt ihm leider deutlich an, dass er sich darüber noch überhaupt gar keine Gedanken gemacht hat. Yoongi wirft ihm ein belustigten Blick zu und lässt sich die neuen Silben auf der Zunge vergehen. Jaykay. Es wäre nicht die Bezeichnung gewesen, die er dem Jungen neben sich gegeben hätte. Andererseits ist es auch ganz gut, dass seine ganzen Kosenamen nur in seinem Kopf existieren und niemals in der Realität vermitteln können, was er tatsächlich über seine Mitmenschen denkt.

„Okay, also Min Suga und Jaykay."

„Jaykayraze", ergänzt Yoongi dann doch noch, weil sich die ersten zwei Silben allein einfach nicht vollständig anfühlen. Auf die verwirrten Blicke reagiert er nur mit einem lässigen Schulterzucken. „Klingt irgendwie cooler, nicht?"

Jungkook nickt bekräftigend. „Ja, man. Machen wir so. Ich bin Jaykayraze und gleich rasier' ich dich so richtig."

Yoongi kann sich das Lachen nicht verkneifen. „Dafür sollten deine Wortwitze aber noch ein bisschen ausgefeilter werden."

„Heb' ich mir alles für die Bühne auf."

„Glaubste doch selbst nicht dran."

„Klar. Irgendwer muss es ja tun."

„Und wenn nicht du, dann niemand, ich verstehe...", foppt Yoongi den Jüngeren weiter, aber kann den liebevollen Unterton dabei einfach nicht aus seiner Stimme vertreiben.

„Also bisher hast du auch noch nie an meinen Fähigkeiten gezweifelt", wirft Jungkook zweideutig ein und zwinkert ihm übertrieben zu, um seine Aussage zu unterstreichen.

„Ich bin in diesen Bereichen ja auch noch nie in den Genuss gekommen."

„Glaub mir, du wirst es genauso sehr genießen, wie alles andere von mir auch..."

Der Mitarbeiter schenkt ihnen nur verständnislose Blicke. In seinen Augen liegt auch irgendwie ein stummes Flehen, dass sich die beiden angeblichen Konkurrenten vor dem Vorhang hoffentlich nicht auch so schamlos anflirten werden, wie sie es jetzt tun.

„Also...", unterbricht er ihr kleines Wortgefecht, „ich geh dann jetzt raus und sag' ein paar einleitende Worte. Sobald ich eure Namen aufrufe, kommt ihr dazu. Ihr habt ein Zeitfenster von 20 Minuten. Teilt es euch so ein, wie ihr wollt, okay? Nur versucht es zu nutzen. Wenn das Publikum euch scheiße findet, schickt sie euch nach zwei Minuten schon wieder rein. Aber das würden wir gerne vermeiden, wenn ihr versteht, was ich meine? Ihr dürft sagen, was ihr wollt, aber bitte unterlasst herbe rassistische Kommentare oder irgendwelche schwulenfeindliche Witze. Sowas ist hier nicht so gerne gesehen. Soweit alles verstanden?"

„Sehen wir so aus wie Rassisten?", entgegnet Yoongi spöttisch.

„Oder so als wären wir homophob?", ergänzt Jungkook und kann sich das leise Kichern in der Stimme nicht verkneifen. Es ist so hinreißend, dass es sogar den Mitarbeiter kurz aus seinem Konzept reißt. Ob er die gleichen Farben sieht wie Yoongi, wenn Jungkook lacht? Vermutlich kann die ganze Welt sie sehen.

„Mh... jetzt nicht so direkt... ich... ich wollt's nur erwähnt haben, ja? Ihr macht das schon. Macht das ja sicher nicht zum ersten Mal. Also... Ich geh dann raus. Haltet euch bereit, ja? Bis gleich."

Die beiden Angesprochenen nicken nur und lassen sich dabei gegenseitig nicht aus den Augen. Yoongi ist versucht nach Jungkooks Kinn zu greifen und ihn in einen harschen Kuss zu zwingen. Vielleicht checkt der semiprofessionelle Dude dann endlich mal, wie wenig schwulenfeindlich sie wirklich sind. Vielleicht spart er sich den Teil der Show aber lieber für das Rampenlicht auf.

Jungkook nutzt die wenigen Sekunden, die ihnen noch bleiben, um nach Yoongis Hand zu greifen und sie fest zu drücken. „Du hast dir die Haare gefärbt", raunt er ihm aufgeregt zu und bewundert die hellen Strähnen mit unleugbarer Begeisterung.

„War Jins Idee", antwortet Yoongi und irgendwie ist seine Stimmlage in ein Flüstern abgerutscht. Er lehnt sich jetzt ganz nah an den stürmischen Jungen und flüstert ihm heiß in sein Ohr. Seine Zungenspitze verirrt sich dabei nach außen und liebkost das Ohrläppchen des Jüngeren.

„Ziemlich gute Idee", keucht Jungkook erstickt und kann sich dabei nicht recht entscheiden, ob er sich der Berührung entgegen lehnen soll oder lieber von ihr abrücken. Wär vermutlich kein kluger Einfall mit nem ausgewachsenen Ständer die Bühne zu betreten. Seine knallengen Skinnyjeans lassen ohnehin nicht viel Spielraum für Vorstellungsvermögen. Yoongi hat noch nie mit fairen Mitteln gekämpft.

„Sag ihm das bloß nicht", fordert er deswegen nur und gibt sich noch etwas mehr Mühe damit, an Jungkooks Ohrläppchen zu knabbern und eine heiße, feuchte Spur mit seiner Zunge über dessen Hals zu ziehen. Er spürt den Puls unter seinen Zungenspitze heftig pulsieren. Ein irrsinniges, beinah stolzes Gefühl durchflutet ihn, weil er genau weiß, dass nur seine Berührung diese heftige Reaktion auslöst. Bis eben war Jungkook zwar aufgeregt, aber jetzt hat sein Herzschlag ein ganz neues Level erreicht. Es läuft auf Hochtouren. So schnell, dass es Yoongi gleich davon laufen wird. Er kann es nicht festhalten. Er merkt nur noch nichts davon, als er seine Zähne harsch in weiche Haut gräbt.

Ihr Ende ist da. Und es wird eingeleitet mit einem tosenden:
„Begrüßt den ersten Kontrahenten des heutigen Abend. MIN SUGA!"

* * *

Yoongis Kopf schwirrt.

Tatsächlich haben sie das vorgegebene Zeitfenster von 20 Minuten beinahe vollständig füllen können. Jungkook hat sich extrem gut auf der Bühne geschlagen. Sein loses Mundwerk ist in Schlagfertigkeit aufgeblüht, als er Min Suga in offener Konfrontation entgegen getreten ist. Vielleicht waren die Blicke, die sie stellenweise ausgetauscht haben, etwas zu intim für eine öffentliche Bühne. Ihre Gesten zu vertraut und ihre Punchlines mit zu wenig Durchschlagskraft. Trotzdem haben sie gut abgeliefert. Yoongi hat so viel Talent dem Jüngeren gar nicht zugetraut. Singen, ja, das hätte vielleicht zu dem stürmischen jungen Mann passen können. Aber rappen? Das hat ihn dann doch überrascht. In der teuren Designerkleidung sah Jungkook beinah aus wie ein Idol aus dem Fernsehen. Wie einer der Jungs von BTS vielleicht. Yoongi hat sich neben ihm etwas schäbig gefühlt. Aus den falschen Gründen natürlich. Nicht mal seine gemusterte Camouflagejacke hat daran etwas ändern können. Deswegen hat er sich auf seine Worte konzentriert. Ein paar alte Rhymes gespickt mit neuen Farben. Dem Publikum hats gefallen. Es hat gejohlt, als Min Suga mit gespieltem Selbstbewusstsein verlauten ließ, dass er sie alle anmacht – mit seiner Zungen Technologie. Das angesprochene Körperteil in einer obszönen Geste in seine Wange gedrückt, um sie auszubeulen. Jungkooks Augen haben ihm entgegen geblitzt.

Bis dahin lief alles gut. Eigentlich lief es sogar hervorragend.

Sein Herz ist beinah losgeflogen. Die Hummeln in seiner Blutbahn haben sich darunter versammelt und versucht, es mit der vereinten Kraft ihrer schlagenden Flügel nach oben zu katapultieren. Ein bisschen lag es ihm danach auf der Zunge.

Bin ich bei dir – ist alles anders, alles inklusive mir. Du hast mich ein kleines bisschen repariert. Denn bist du da – bin ich nicht mehr dieser Wichser, der ich war.

Das hat das Publikum vermutlich nicht hören wollen. Yoongi weiß ja eigentlich, dass sie diesem gefühlvollen Geschwafel nicht unbedingt offen gegenüber stehen. Aber in dem Moment wars egal, es hat ihn nicht interessiert. Er hat Jungkook mit den Augen aufgefressen und ihm sein Inneres vor die Füße geschmissen. Der hats aufgesammelt. Einfach so und es sich in die Tasche gesteckt, für später. Das haben seine Augen mit dem üblichen Blitzen verraten. Für, wenn sie allein sind. Und dann hat er zu einer neuen Salve Worte ausgeholt, die das Publikum mit lauten Anfeuerungsrufen begleiteten.

In Minute Siebzehn ist dann plötzlich alles den Bach runter gegangen.

Yoongis Konzentration ist mit einem einzigen Blickkontakt zu komplettem Müll verkommen. Danach noch einen vollständigen Satz zu formen – ein Ding der Unmöglichkeit.

Unter den euphorischen Anfeuerungsrufen waren ein paar Augen, die ihn viel zu skeptisch gemustert haben. Eigentlich war er mit seinem Blick auf der Suche nach Jin. Wollte kontrollieren, ob sein bester Freund ihn auch anfeuert oder ob er sich schon wieder den Huldigungen neuer Hofnarren hingibt. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn es so gewesen wäre. Verletzt wäre er zwar schon gewesen, klar, aber angesprochen hätte er es niemals.

Jin hat er nicht gefunden. Stattdessen verträumte, braune Augen, denen er das letzte Mal in seinem Bett begegnet ist. Als er ihnen versicherte, dass das hier die guten Zeiten sind. Nun war von Träumen nicht mehr viel darin zu lesen. Stattdessen buchstabierten sie für ihn das Wort „Enttäuschung". Und „Unglaube". Vielleicht. Noch konnte Taehyung den Verrat nicht mit endgültiger Sicherheit bestätigt wissen. Bis dato war es nur eine Vermutung, geschlossen aus den vertrauten Gesten, die auch nur Show sein könnten. Yoongi spielt so viel. Er spielt ständig allen möglichen Leuten was vor. Nur diesmal war er ehrlich. Deswegen hat er den verbalen Schlagabtausch mit Jungkook in Minute Siebzehn nur hektisch abgewunken und die Bühne in blinder Panik verlassen.

Das hat er nun davon.

Ich bring meinen besten Freund mit

hat Jungkook ihm geschrieben und Yoongi hat den Worten viel zu wenig Beachtung geschenkt. Aber was hätte er auch tun sollen, selbst wenn er es geahnt hätte? Den Abend canceln? Was hätte das gebracht? Vermutlich nichts. Zumindest langfristig. Es hätte den Moment nur aufgeschoben, auf den wir so unaufhaltsam zugesteuert sind. Am Ende hätte es nichts geändert. Das ist ja schon geschrieben. Er wäre dann halt an einem anderen Tag aufgeflogen. Darauf vorbereiten hätte er sich eh niemals können.

Jungkook hat Yoongis plötzliche Verabschiedung und den unerwarteten Sieg überrascht hingenommen und sich noch schnell ein paar Mal übertrieben tief verbeugt, sich noch ein, zwei weitere Momente lang euphorisch vom Publikum feiern lassen. Dann ist er Yoongi gefolgt. Viel zu schnell natürlich, so wie es seine Art ist. Leider. Leider ist Yoongi ihm nicht entkommen.

Es gab nicht genug Zeit für Yoongi, als dass er hätte diesen Club überstürzt verlassen können. Nicht, dass er es nicht versucht hätte. Hat er natürlich trotzdem. Wie der Feigling, der er nun mal ist. Aber stehst du einmal im Rampenlicht, lässt es dich nicht so schnell wieder los. Und das verschmähte Publikum hat seine Kapitulation nicht ohne Widerwillen entgegen nehmen wollen. Sie haben mit gierigen Hände nach Yoongi gegriffen und die Panik in seinen Augen nicht bemerkt. Er hat alle Hände abgeschüttelt, aber die kurzen Verzögerungen haben ausgereicht, damit Jungkook ihn erreichen konnte und mit verständnislosen Augen gefragt hat, ob bei ihm alles in Ordnung sei.

War es nicht.

Die braunen Augen verfolgen ihn wie ein Traumata. Ihr Besitzer funkelt selbst in dem schäbigsten Club wie ein verdammter Diamant im Sonnenlicht. Absolut konkurrenzlos. Es grenzt beinah an ein Wunder, dass Yoongi so lange gebraucht hat, um ihn zu bemerken. An einem anderen Tag hätte ihn der Anblick sicher berauscht. Jetzt wird ihm nur noch schlecht davon. Auch wenn er ungefähr weiß, wie er Jungkook gegenüber empfindet, hat er die Sache mit Taehyung noch nicht mit sich geklärt. Der schöne Sonnenuntergangsjunge reizt ihn so sehr. Er wollte ihm das Herz nicht brechen. Zumindest noch nicht.

Die Situation ist zu viel für ihn.
„Ich muss raus", presst Yoongi irgendwie aus den letzten Resten der Luft in seiner Lunge hervor. Diesmal muss er wirklich kotzen. Ihm ist so verdammt übel. Die Hummeln in seinem Herz-Kreislauf-System sind aufgescheuchter denn je. Sie haben sich in eine wilde Horde Hornissen verwandelt und stechen ihn nun an nur jeder erdenklichen Stelle. Sein Herz trifft es zuerst. Oder zumindest den kümmerlichen Rest, der davon bisher noch übrig war. Es wird so oft gestochen, bis es anschwillt und weiter schwillt und platzt. Sein Herz läuft aus.

Yoongi schafft es gerade so vor die Tür, beugt sich vornüber und entleert seinen Mageninhalt auf dem dreckigen Asphalt. Die Hornissen kommen dabei nicht mit heraus. Sie stechen Yoongi weiter von innen auf. Das leere Podest in weiter Ferne wurde mit einem weiteren Organ geschmückt. Es ist wieder mal Yoongis. Er sieht sich selbst dabei zu, wie er sich sein Herz aus der Brust reißt und es auf die scharfe Spitze des Speeres setzt. Der Platz daneben ist leer. Und oh – da ist noch ein leerer Platz. Der Yoongi vor seinem inneren Auge zieht weiter. Jetzt geht er zu Jungkook und greift auch in dessen Brust. Ein schneller Ruck, dann hat er das blutende Herz in seiner Faust umschlungen. Schwere Tropfen fallen auf den Boden. Sie sind pechschwarzrot.

Die Bilder bringen ihn erneut zum Würgen. Yoongi würgt und würgt und versucht zwischendurch ein paar hektische Atemzüge zu nehmen, damit er nicht erstickt. Das hier muss eine Panikattacke sein, oder? Er ist Psychologiestudent, sowas sollte er doch wissen, verdammt. Er hat in Lehrbüchern darüber gelesen. Namjoon hätte wohl doch nicht immer die ganzen Arbeiten für ihn übernehmen sollen. So schlecht hat sich Yoongi jedenfalls noch nie gefühlt. Aber er ist auch noch nie in seiner Maskerade aufgeflogen und auf emotionale Situationen reagierte er bereits in der Vergangenheit nicht sonderlich besonnen (wir erinnern uns an seine erste Gefühlsbekundung gegenüber Jungkook).

„Lampenfieber?", fragt Jungkook irgendwo zwischen panisch-besorgt und dem Versuch, mit einem lockeren Witz auf den Lippen die Situation zu entschärfen. Er hat seine Hand auf Yoongis Rücken platziert und streicht mit sanften Bewegungen auf und ab. Es fühlt sich ein bisschen nach einer besonders hochkonzentrierten Salzsäure an, die Yoongis Wirbelsäule hinabfließt. Wenn noch etwas mehr Kraft in seinen Knochen übrig gewesen wäre, hätte er sich der Bewegung sicher entzogen. So ist er verdammt sie auszuhalten. Wie diese gesamte abgefuckte Situation.

Die knarrende Tür im Hintergrund ist vermutlich ziemlich leise. Jungkook dreht sich nicht einmal danach um. Für Yoongi ist das Geräusch überlaut in seinen ohnehin schon dröhnenden Ohren. Er weiß genau, was jetzt kommt. Sieht, wie er dem Jungen mit den verträumten Augen entgegen tritt, sein Herz mit einem kräftigen Ruck aus der Brust reißt und es auf den letzten freien Speer setzt. Das Dreiergespann ist komplett. Und er kotzt gleich nochmal auf den Boden vor ihm. Fuck. Das ist alles zu viel. Doch nicht hier, nicht heute, nachdem er doch ohnehin schon den ganzen Tag mit den Schatten der Vergangenheit kämpft und Melancholie in seinen Gedanken trinkt wie Wasser.

Seine Beine geben nach und er lässt sich ergeben von Jungkook auf einen kleinen Mauervorsprung ziehen. Er kommt hier niemals rechtzeitig weg. Mittlerweile hat er die Hoffnung aufgegeben und bittere Erkenntnis frisst sich durch seine Blutbahnen. Er wird den beiden Jungen vor ihm nun Rede und Antwort stehen müssen. Und er kann nicht mal jemand anderem dafür die Schuld geben. Genau er ist es, der ihn überhaupt erst in diese Situation gebracht hat. Und vor sich selbst hätte er ohnehin niemals weglaufen können.

„Jungkook? Yoongi? Alles... alles klar bei euch?", die lavendelschwere Stimme tropft nur so vor Skepsis. Yoongi presst die Augen zusammen und versucht zu atmen. Seinen Magen wieder unter Kontrolle zu bekommen und die Hornissen zurück in ihr Nest zu schicken. Nichts davon funktioniert. Er ist und bleibt ein Häufchen Elend. Nicht bereit dazu die gerechte Strafe zu empfangen, die er sich mit seinem Handeln wirklich redlich verdient hat.

„Taehyung?", dreht sich Jungkook mit einem Fragen in der Stimme um. „Alter... Ich hab kein Plan, was abgeht. Eben auf der Bühne war noch alles okay. Dacht ich. Dann ist er einfach abgehauen und... ich hinterher und jetzt... keine Ahnung. Vielleicht was Falsches gegessen oder vorher zu viel gesoffen?!" Aus seinen Worten tropft schwere Sorge. Jungkook bemerkt in dem falschen Gefühl nicht einmal, dass Taehyung einen Namen verwendet hat, den er doch noch gar nicht kennen sollte.

Yoongi schweigt und versucht irgendwie unsichtbar zu werden. Wenn es den Moment in einem Leben gibt, in dem sich der Erdboden wahrhaftig unter ihm öffnet und ihn verschlucken sollte, dann muss es dieser sein. Er betet zu allen Göttern. Und die Tür öffnet sich erneut. Das schwere Knarzen ist wieder genauso laut wie vorher in seinen Ohren. Diesmal hören es auch die anderen. Sie drehen sich geschlossen zu dem Geräusch. Yoongi schafft es gerade so den Blick zu heben.

Es ist Jin.

Er betritt die Bühne mit ruhigem Kalkül. Blickt von Jungkook zu Taehyung und abschließend zu Yoongi. Er ist der Einzige außer ihm, der die Szenerie auf Anhieb komplett durchschaut und genau weiß, wie die einzelnen Fäden miteinander verknüpft sind. Seine Augenbrauen verschieben sich verstimmt. Der Rest von seinem Gesicht bleibt neutral. In seiner Erhabenheit wirkt er mal wieder wahrhaft königlich. Jin versteht sofort, dass die Situation zwar noch nicht eskaliert, aber auch nicht mehr zu retten ist und tut das Einzige, was er jetzt noch machen kann. Er leistet Yoongi stillen Beistand. Stellt sich ohne ein Worte zu sagen neben ihn, löst die Position von Jungkook an seiner Seite rüde ab, quetscht sich einfach zwischen sie und legt stattdessen die Hand auf seinen Rücken. Hilft ihm dabei, sich aufzurichten, weil er schon erahnen kann, dass sein Mitbewohner allein es nicht mehr hinbekommt. Vielleicht es nicht mal hinbekommen will. Aber wenn du dich schon in die Scheiße geritten hast, dann ertrage die Schmach wenigstens mit aufrechtem Blick und nicht kauernd auf dem Boden wie ein Angsthase. Genau das sagt die Hand in Yoongis Rücken. Der König steht hinter ihm. Yoongi wollte doch nie ein Hofnarr sein, sie sind sich doch immer ebenbürtig gewesen. Jetzt kann er in Jins ruhiger Gelassenheit nur diesen riesigen Kontrast zu seiner eigenen mickrigen Statur sehen.

Hat Yoongi schon erwähnt, dass Mut nicht zu seinen stärksten Charaktereigenschaften gehört? Naja, selbst wenn nicht, das wussten wir auch alle schon vorher. Aber Jins Präsenz scheint ihn langsam wieder aufzubauen. Die Hornissen verwandeln sich wieder in die unruhigen Hummeln. Ihr Summen wird leiser. Yoongis Denken klärt sich. Er wird bald etwas sagen müssen. Es ist unausweichlich. Und eigentlich ist es schön zu wissen, dass er danach nicht ganz alleine dastehen wird. Jin wird an seiner Seite bleiben. So wie es immer war.

„Jaaa... vielleicht", entgegnet Taehyung viel zu verzögert auf Jungkooks letzte Aussage und versucht die merkwürdige Konstellation vor seinen Augen zu verstehen. Seine Zahnräder im Kopf rattern so laut, dass Yoongi sie hören kann. Das Geräusch frisst sich durch seine Knochen wie eine Kreissäge.

Jungkook bemerkt die angespannte Stimmung noch nicht. Er ist viel zu verwirrt und abgelenkt von Yoongis heftigen körperlichen Reaktion auf die Stresssituation. Macht sich Sorgen und ist mit seinen Gedanken so weit weg, wie man nur sein kann, von der Vorstellung, dass er hintergangen wurde und der Konflikt nun seine Auflösung finden wird.

„Eigentlich hab ich mir euer Kennenlernen so nicht vorgestellt", beginnt er mit einem schiefen Grinsen auf den Lippen. Bemerkt echt nicht, dass ein gegenseitiges miteinander Bekanntmachen gar nicht notwendig ist. Seinen Körper hat er Taehyung zugewandt und deutet nun mit einer einladenden Handbewegung auf den jungen Mann hinter sich auf der Mauer.

„Das ist Yoongi", stellt Jungkook ihn vor. „Mein Freund."

Wir haben in dieser Geschichte schon öfter darüber gesprochen, dass manche Worte zu schwer sind, um von Yoongi getragen zu werden. Ihre Last zerdrückt ihn wie ein zentnerschweres Gewicht. Manchmal versucht er trotzdem an ihnen festzuhalten, weil es die einzige Art ist, wie man über sich hinaus wachsen kann. Mit Situationen, Dingen und Worten nicht umgehen zu können, ist nichts, was uns schwach macht. Uns den Konfrontationen trotzdem zu stellen ist unsere größte Stärke. Wir dürfen das nicht vergessen. Selbst jetzt nicht. Auch in den Momenten unseres größten Scheiterns, wachsen wir. Und das ist schön, oder? Schöner Scheitern. Vielleicht verstehst du es jetzt.

Jins beruhigende Hand auf seinem Rücken verleiht Yoongi irgendwie die Kraft dazu, sich aufzurichten und Taehyung in die Augen zu sehen. Er wünscht sich ein weiteres Paar davon, damit er auch Jungkook betrachten kann. Den wunderschönen, stürmischen Jungen für den es in Zukunft nur noch herzlose Gewitter geben wird. Er wollte ihm niemals das Herz brechen. Aber um das zu tun, hätte er sich von ihm fernhalten müssen. Er wusste es die ganze Zeit und hat sich doch nicht daran gehalten. Es gibt hier jetzt keine Buße mehr zu tun. Er wird sie beide verlieren.

Taehyung blickt ihm mit atemlosen Augen entgegen. Er ist erstickt an dem schweren Lavendel in seiner Stimme. Jungkooks Worte haben seine Vorahnung besiegelt. Das Glitzern ist von ihm abgefallen wie billige Strasssteine. Glück malt man mit Punkten, Unglück mit Strichen. Er hat gerade gelernt, wie man eine gerade Linie zieht. Ab jetzt weiß er, wie Unglück aussieht.

„Er weiß, wer ich bin", bringt Yoongi schwach über die Lippen. Alle Aufmerksamkeit liegt nun auf ihm. Das hier ist jetzt seine Bühne. Jungkook und Taehyung sind beste Freunde. Als wäre es so nicht schon schlimm genug, was er ihnen angetan hat. Sie sollten sich zumindest nicht gegenseitig über die Wahrheit aufklären müssen. Er wird das übernehmen, während die Hummeln in seinem Inneren neue Kraft sammeln, um ihn bis spät in die Nacht mit neuen Stichen zu quälen. Heute spießt er nicht nur sein Herz auf, sondern auch alle weiteren Innereien. Die gerechte Strafe dafür, dass die Podeste rechts und links von ihm ab jetzt mit Taehyungs und Jungkooks Namen versehen sind.

„Wir... kennen uns", beginnt er langsam und erntet von dem verträumten Jungen mit dem braunen Haaren, der nicht mehr braucht als eine Zigarette am Morgen und eine Tasse dazu, um glücklich zu sein, nur ein spöttisches Schnauben.

„Nette Umschreibung", fällt Taehyung ihm rüde ins Wort.

Jungkook ist vollends verwirrt von der angespannten Stimmung zwischen seinem Freund und seinem besten Freund. Er steht etwas abseits, seitdem Jin ihn kommentarlos von dem Platz an Yoongis Seite vertrieben hat. Er wirkt so verloren. Mal wieder greift er mit einer Hand in seine Haare, um den unordentlichen Chaos auch noch das letzte bisschen Struktur zu nehmen. Ein schwacher Versuch, um sich selbst zu halten. Er tritt unruhig auf der Stelle und räuspert sich dann verhalten.
„Mhm... Ihr... ihr kennt euch? Echt?", in seiner Stimme hängt der Hauch des Verstehens von einem Wissen, dass er eigentlich gar nicht haben möchte. Die Wahrheit klopft so laut an seiner Tür, dass er sie nicht länger aussperren kann. Aber reinlassen möchte er sie auch nicht.

„Woher denn?", schiebt er noch hinterher und in jeder Silbe hängt der verzweifelte Wunsch nach einer Aufklärung, die ein ganz anderes Ende zulässt als das, welches er gerade bloß vermutet.

„Ja, Yoongi, erzähl mal... woher kennen wir uns denn?"
Der beißende Tonfall will überhaupt gar nicht zu Taehyung passen. Die bissige Ironie ist eine ganz neue Seite in seinem Gemüt und steht ihm so viel schlechter als die dankbare Unbeschwertheit, die ihn sonst umgeben hat. Genau das machen gebrochene Herzen mit uns. Sie holen das Schlechteste aus uns heraus.

Jins Hand in seinem Rücken verkrampft sich und streichelt stur ein kleines Stück nach oben, dann wieder ein Stück nach unten.

„Wir haben uns im Club kennengelernt...", beginnt Yoongi noch einmal. „Vor... vor ein paar Wochen schon. Ich hab ihn mit nach Hause genommen."

Jungkook versteift sich. Sein Gesicht bricht in Scherben. Genauso wie sein Herz. Yoongi hasst es, dass er Menschen so gut lesen kann. Er möchte das nicht sehen. Nicht so bildlich und direkt vor ihm. Und doch kann er den Blick nicht abwenden, als er langsam und bröckelnd weiter erzählt.

„So... So..." Er braucht noch einen Ansatz.
„So wie ich dich mit nach Hause... wie ich dich mit nach Hause genommen habe. FUCK", seine Stimme bricht unter dem lauten Fluch.

„Aber... das war nur was Einmaliges, oder?", lacht Jungkook unsicher. „Unglückliche Situation, oder? Unangenehm. Aber hey, versuchen wir doch das Beste daraus zu machen und –..."

Er kommt nicht weiter. Yoongis Innereien verkrampfen sich unter seinem Gestammel. Seine Realitätsflucht ist real. Jungkook will es einfach nicht wahrhaben, obwohl er eigentlich genau weiß, was abgeht.

„Nein, nicht nur einmal", gesteht Yoongi. Das Bedauern in seiner Stimme ist echt. Diesmal ist es echt. „Wir haben uns... mehrfach getroffen. Das letzte Mal... erst vor ein paar Tagen."

„Vorgestern", unterbricht ihn Taehyung erneut. „Wir haben uns VORGESTERN das letzte Mal getroffen, falls es deinem scheinbar löchrigen Gehirn entfallen ist." Seine Stimme klingt immer noch erstickt. Ein bisschen weinerlich. Ein Blick bestätigt Yoongi. Die ersten Tropfen schwimmen bereits auf seiner Wasserlinie. „So wie es dir scheinbar ja auch entfallen ist, mir mitzuteilen, dass du bereits einen Freund hast."

„Ich hab' keinen...", will sich Yoongi im Reflex verteidigen. Er kommt nicht dazu seinen Satz zu beenden. Vermutlich besser so.

„VORGESTERN?", wiederholt Jungkook. Seine Stimme klingt schrill. Da ist sie. Die Wahrheit, die mit einem Rammbock die Tür zu seinem Inneren gesprengt hat.

„Mhm... ja... vorgestern", bestätigt Yoongi, auch wenn es redundant ist. Wiederholungen helfen dabei, Tatsachen zu verstehen, die wir eigentlich viel lieber verleugnen wollen.

„Aber...", Jungkooks Stimme bricht. Aus seinem Mund fließt jetzt nur noch schwarz-weiß. „Da... da waren wir schon zusammen."

Yoongi nickt bestätigend. Es ist die bessere Alternative zur Verleugnung und Diskussion darüber, dass sie das so genau eigentlich nicht untereinander definiert haben. Also gesteht er: „Ja... Ich... Ich hab euch gleichzeitig getroffen. Also nicht gleichzeitig wie zur gleichen Zeit, aber halt... parallel, ne? Ich hab euch parallel getroffen. Mal den einen, dann den anderen. Ich wusste nicht.... Ich wusste nicht, dass ihr euch kennt. Dass ihr befreundet seid."

Es ist das Schlechteste, was er hätte sagen können.

„Und WENN du es gewusst hättest?!", schnappt Taehyung sogleich über. „Hättest du dir dann wen anders gesucht, oder was?! Oder wärst du dann heute Abend nicht gekommen und alles wär' gut gewesen, oder was willst du damit andeuten?!"

Yoongi steht mit dem Rücken zur Wand. Er weiß nicht, wie er auf diesen berechtigten Einwand reagieren soll. Sein Blick liegt stumm auf Jungkooks Figur, die zu Eis erstarrt ist und ihn fassungslos ansieht.

„Ich weiß es nicht", setzt Yoongi daher leise an. „Ich weiß es nicht, okay? Ich wünschte auch, ich könnt euch grade was Besseres sagen...", wiederholt er etwas lauter und strafft sich noch einmal den Rücken, setzt sich etwas aufrechter hin. Seine Hände sind in den Mauervorsprung gekrallt, vor lauter Anspannung schon ganz weiß. „Ich weiß, dass ich das nicht hätte tun dürfen. Dass das falsch ist, euch beide zu treffen. Aber Jungkook ist so... und ich find ihn so... und ich wollte ihn schon viel zu lange. Und Taehyung, du bist so... faszinierend. Ich wollt dich einfach kennenlernen... Ich hab das auch nicht geplant. Nicht so geplant. Was hätte ich denn tun sollen? ... Okay, streicht das. Irgendwie ist das ja klar, aber... Ich wollte euch nicht weh tun. Wirklich nicht. Ich weiß, dass es das jetzt nicht besser macht, aber... es tut mir leid. Es tut mir wirklich, wirklich leid." Yoongis Blick streift Jungkooks in Aufrichtigkeit. Er legt alle Gefühle in seine Stimme, die noch in ihm übrig sind.

„Und warum hast du es dann getan?", stellt wiederum Taehyung die Frage, die auch uns schon 'ne ganze Weile beschäftigt. Warum macht Yoongi das? Warum handelt ein Mensch so, wie er nun mal handelt? Als wäre das in ein paar einfachen Sätzen zu beantworten. Wir sind schon im dritten Akt. 40.000 Wörter später und wir wissen es immer noch nicht. Taehyung darf jetzt wirklich nicht zu viel erwarten.

Yoongi nimmt einen tiefen Atemzug. Seine Antwort formt sich in seinem Kopf zu einem losen Konglomerat von Bildern. Da sind tiefblaue Augen vor ihm, im Winterschnee. Ein Wunder. Fliegende Hände, die Haut treffen mit Gewalt. Fließendes Blut. Aufgespießte Herzen und ein Loch in einer Brust, dass nicht mehr gefüllt werden kann. Trauer und Nichts. Eine dritte Alternative zu den beiden Gefühlen. Die Bilder in seinem Kopf sind ein Gemisch aus der Vergangenheit, seiner Fantasie und dunklen Schatten. Wie formuliert man die Dinge, über die man nicht sprechen kann? Yoongi schafft es nicht. Er belässt es bei dem Atemzug und schweigt. Er schweigt, weil er es nicht sagen kann. Diesmal sind es seine eigenen Worte, die zu schwer wiegen. Er bekommt sie seine Kehle nicht hochgetragen. Er weiß nicht mal, ob es eine Rechtfertigung wäre. Darf man Herzen brechen, nur weil das eigene gebrochen wurde? Gibt es überhaupt irgendeine Legitimation dafür?

„Ich kann es dir nicht sagen", sagt Yoongi schließlich. „Ich glaube... egal. Egal, was ich sagen würde, nichts würde es besser machen, oder? Ich reit' mich nur immer weiter in die Scheiße rein. Fakt ist, ich hab's getan. Ich hab euch beide getroffen. Aber es war nicht gelogen, was ich zu euch gesagt hab. Nicht alles zumindest... Ich mag euch wirklich. Und es tut mir leid. Mehr kann ich leider nicht dazu sagen..."

„Ist das dein Ernst?", erwidert Taehyung mit Hysterie in der Stimme. „Du hast uns... Du hast uns betrogen! Und alles, was wir bekommen, ist ein läppisches Sorry, ich weiß ja, dass man sowas nicht macht? ERNSTHAFT?"

Yoongi zuckt geschlagen mit den Schultern und lässt den Kopf wieder hängen. Er würde komplett in sich zusammensacken, wenn da nicht die Hand in seinem Rücken wäre, die ihn so standhaft aufrecht hält. Er würde sich gerne umdrehen, um einen Blick in Jins Gesicht zu werfen. Was würde er darin erkennen? Mitleid? Besorgnis? Oder vielleicht... Befriedigung? Weil Yoongi jetzt endlich mal so auf die Schnauze gefallen ist, wie er es verdient hatte. Weil er schon viel zu lange mit seinem Handeln durchgekommen ist, ohne mal eine Retourkutsche zu kassieren. So konnte es ja nicht ewig weitergehen. Aber ein bisschen länger noch wäre schön gewesen.

Jungkook sagt gar nichts mehr. Seine Augen sind kugelrund. Er steht vor ihm wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Er ist ein Standbild in einem schwarz-weiß-Film. Alle Farben sind gestorben.

„Und das ist der Typ, in den du jahrelang verliebt warst?", spuckt Taehyung seine Worte mit Verachtung auf den Boden vor sich. Diesmal wendet er sich Jungkook zu. „Von dem du mir seit Ewigkeiten vorschwärmst? Der Typ aus der Uni, den du dich nie getraut hast anzusprechen, weil du dachtest, dass er einen Freund hat?!"

Bei der plötzlichen Ansprache zuckt Jungkook erschrocken zusammen. Der Schuss ist gefallen. Das Reh wurde erschossen. Er nickt mit einer einzigen mechanischen Bewegung. Für Worte hat er keine Kraft mehr. Yoongi kennt das Gefühl. Trotzdem spricht er. Auch das kennt Yoongi.

Jungkook spricht wie im Wahn. Ihm ist gar nicht bewusst, was er gerade von sich gibt. Die Enttäuschung hat ihn betäubt.
„Ich... ich hab ihn gesehen. Mit so 'nem riesigen Kerl mit breiten Schultern und 'ner Brille. Die beiden... waren so vertraut. Ich... Ich hab echt gedacht, dass er vergeben ist..."

„Nun", lacht Taehyung beinah höhnisch. Natürlich nicht über Jungkook, an dessen Seite er sich nun dicht stellt und den Arm um ihn legt. Ihm schenkt er Trost, während er Yoongi mit bitterbösen Blicken bombardiert. Das Geständnis des Wirbelsturmjungen war von ihm kalkuliert. Taehyung wollte, dass Yoongi die Worte nun hört. Damit er sich der Tragweite seiner Handlung bewusst wird. Damit ihm klar wird, wie umfassend dieser Herzensbruch ist, den er gerade verursacht hat.

Taehyung schluckt die eigene Trauer die Kehle herunter, um seinen besten Freund zu verteidigen. Er starrt Yoongi an und aus seinen Augen schreit es: Siehst du, was du getan hast?? WIE KANNST DU NUR?!
Aber statt den stummen Vorwürfen, die Jungkook nur noch mehr bloßstellen würden, entscheidet er sich für Angriff und sagt: „Vielleicht hatte er ja einen Freund. Aber scheinbar hättest du dein Glück ja trotzdem versuchen können. Sowas scheint ihn ja nicht zu stören." Dann breitet sich für einen Moment Stille zwischen ihnen aus.

Yoongi ist von Jungkooks Worten wie paralysiert. Sie sind noch nicht ganz in seinem Gehirn angekommen. Der riesige Kerl mit Brille? Das muss Namjoon gewesen sein. Eine Zeit lang sind sie wirklich oft zusammen über den Campus gelaufen. Deswegen hat sich Yoongi auch nie nach aktiv nach jemand anderem von ihrer Universität umgesehen. Seit Beginn des letzten Semesters befindet sich Namjoon in seinem Praxisjahr. Seitdem sieht man sie natürlich nicht mehr zusammen. Und plötzlich findet der stürmische Junge aus seinen Vorlesungen einen Grund dafür, um Yoongi endlich anzusprechen. Zufall? Schicksal? Oder eher ein verdammt mieses Timing?

Deine Haare waren grün, oder? Ich kann mich noch dran erinnern, wie du das erste Mal in Allgemeine Psychologie eins gestolpert bist

Eigentlich hat Jungkook sich damals schon verraten. Bei ihrem ersten Aufeinandertreffen in der Bibliothek. Aber Yoongi hat es nicht gecheckt. Nicht verstanden, dass der Wirbelwind ihn sogar noch länger schon im Auge hatte als er ihn. Er hat es nicht mal verstanden, als Jungkook ihm so selbstverständlich gestanden hat, dass er sich in ihn verliebt hat. Hat nicht darüber nachgedacht, warum es so schnell geht. Dabei war es gar nicht schnell. Jungkook waren seine Gefühle schon viel länger bewusst. Es war nur der erste Zeitpunkt, bei dem es angemessen war, sie auch auszusprechen.

„Fuck", durchbricht Taehyung mit frustgeschwängerter Stimme die Stille zwischen ihnen wie ein Donnergrollen. „Wir gehen, Jungkook", entscheidet er. „Oder? Oder hast du zu dem Haufen Dreck da drüben noch irgendwas zu sagen?"

Yoongi zuckt bei der Bezeichnung zusammen. Sie tut weh. Er hat sie verdient, aber... sie trifft ihn trotzdem. Er hat sich kein positiveres Urteil von Taehyung erhoffen dürfen. Aber irgendwie wollte er es doch. Absolution. Für seine Taten. Was für ein Jammer. Er hält den Blick weiterhin gesenkt. Schafft es nicht, zu Jungkook aufzublicken und das Häufchen Elend zu bestaunen, was er aus ihm gemacht hat. Er wollte ihm nicht das Herz brechen? Scheiße, er hat es anscheinend vor Jahren schon getan. Und jetzt nochmal. Nur diesmal viel schlimmer.

Jungkook schüttelt den Kopf. Weiterhin in seiner Sprachlosigkeit gefangen.

„Ist auch besser so", antwortet Taehyung für ihn. „Sowas wie der hat dich ohnehin nicht verdient. Sowas wie der hat UNS nicht verdient. Ich kann nicht glauben, was für ein verdammtes Arschloch du bist, Min Yoongi."

Dann drehen sie sich um und gehen.
Sie verlassen die Szene ohne Yoongi einen letzten Abschiedsblick zuzuwerfen. Sein Herz verkrampft sich. Yoongi spürt es, ohne dass sich das Organ in seiner Brust befindet. Sieht das verzweifelte Zucken auf der Speerspitze in seinem Kopf. Es schnürt ihm erneut die Atemwege zu und er zieht viel zu hektisch Luft in seine Lungen.

Jins ruhige Augen bohren sich in sein Sichtfeld, bevor es schwarz werden kann.

„Komm", sagt er. Ganz ruhig und sanft. „Gehen wir nach Hause. Heute Abend schläfst du bei mir." 

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