AKT II - Steigerung (III)

Szene 5: In Yoongis Bett. Fast schon Morgen.

Jungkook liegt in seinem Arm und schläft. Er ist dabei der schönste Junge der Welt.

Es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass sich Yoongi deswegen für sein Aussehen schämt. Er hat den jungen Mann in seinen Armen nicht verdient. Und trotzdem hält er ihn fest, als wäre überhaupt nichts dabei.

Yoongi wollte immer nur von ihm träumen. Ihn nur aus der Ferne beobachten, damit er ihn nicht kaputt machen kann. Jetzt sind sie sich ganz nah. Es fühlt sich an wie der Beginn einer Katastrophe. Und Yoongi liebt jede einzelne Sekunde davon.

Nachdem Jungkook wie ein frischer Wind in seinem Leben in die Bar eingefallen ist, hat es nicht mehr viele Drinks benötigt, bis die beiden auf die Tanzfläche verschwunden sind. In Yoongis Kopf hat sich zu diesem Zeitpunkt schon alles gedreht. Schieben wir das mal auf den übermäßigen Alkoholkonsum. Das ist leichter. Wenn er schon die Kontrolle über sich verliert, dann will er wenigstens die Ursache dafür kennen, um sie beim nächsten Mal aus dem Weg zu schaffen. Beim Trinken ist das kein Problem. Normalerweise schaut Yoongi ohnehin nicht so tief ins Glas. Andere Ursachen wären viel schwerer zu beheben, aber über sowas denkt er nicht nach.

Lieber sinniert er über die rhythmischen Berührungen, die sie nachts miteinander geteilt haben. Jungkook kann sich unglaublich gut bewegen. Sein Körper wurde geschaffen für sündige Hüftschwünge und festes Zupacken. Schon auf der Tanzfläche hat er alle Hemmungen verloren. Weil er es bereits in der Bibliothek und später am Tresen mit latentem Flirten versucht hat, war der enge Kontakt zwischen ihren Körpern nur noch die letzte offensichtliche Einladung, die Yoongi gebraucht hat, um den Verstand zu verlieren.

Er konnte nicht widerstehen. Aber wer hätte das schon?

Zuerst hat er nur unschuldig seine Hände auf Jungkooks Hüften gelegt. Hat sich von ihm den Takt dirigieren lassen, dem Jüngeren überlassen, in welchem Tempo es zwischen ihnen voran gehen soll. Jungkook war nicht so vorsichtig. Scheinbar hat er irgendwann zwischen dem dritten und vierten gemeinsamen Bier gecheckt, dass seine Chancen bei Yoongi zu landen erstaunlich hoch sind. Und dann hat er es drauf ankommen lassen. Als erste Berührung lagen seine Hände auf Yoongis Brust. Nachdem keine Gegenwehr erfolgt ist, sind sie tiefer gewandert. Seinen Hintern hat er geknetet wie ein Stück Fleisch. So, als würde er ihm schon lange gehören.

Und Yoongi hat sich nicht dagegen gewehrt. Stattdessen ist er so weich geworden in diesem Moment. Was ist schon eine gemeinsame Nacht?, hat er gedacht. Er hatte schon so viele One-Night-Stands. Einer mehr würde auch nichts verändern. In der ersten Nacht zusammen macht man noch nicht so viel kaputt. Oder?

Yoongi hat irgendwie vergessen, dass eine Nacht mit Jungkook niemals ein One-Night-Stand sein kann. Seine Faszination für den Jungen hat nichts Singuläres an sich. Er beobachtet ihn schon so lange. Sie werden sich zwangsläufig noch öfter in der Bibliothek gegenüber sitzen. Natürlich ändert es was, dass sie sich jetzt kennengelernt haben.

Natürlich ändert sich was, wenn er sich von Jungkook in dieser abgeranzten Kneipe küssen lässt.

Aber was genau, das hat Yoongi auf der Tanzfläche einfach ignoriert.

Er hat sich den fremden Händen und Lippen widerstandslos ergeben. Ganz so, als würde er Jungkook schon lange gehören.

Dann hat er ihn mit nach Hause genommen. Oder viel mehr der Jüngere ihn, obwohl sie natürlich wieder in der WG gelandet sind. Auf seinem Fahrrad hat er ihn mitgenommen, hinten auf dem Gepäckträger. Es ist Jahre her, dass Yoongi so mit jemanden gemeinsam Fahrrad gefahren ist. Obwohl sich alles so gedreht hat, hatte er in keinem Augenblick Angst zu fallen.

Weil er sich an Jungkook festgehalten hat. Die Arme um ihn geschlungen und den Kopf in seinen Nacken gelegt. Manchmal hat er ihm kleine Küsse dorthin gehaucht. Manchmal hat er auch zugebissen. Der Alkohol hat ihn mutig gemacht. Und ein bisschen verträumt. Ansonsten würde Yoongi so ein Verhalten sich nur als einstudierte Showeinlage an den Tag legen, aber in diesen blauen Stunden so früh am Morgen da hat er es wirklich gefühlt.
Dann haben sie gelacht und Jungkook hat seinen Kopf nach hinten gewandt, um ihn mit heißen Blicken aufzufressen. Die Heimfahrt war ein Vorspiel zwischen ihnen. Nur das Jungkook nichts machen konnte, weil er den Lenker festhalten musste, das Gleichgewicht halten und sich auf die Straße konzentrieren. Yoongi hat seine Macht genossen. Er wusste, dass er sie früh genug wieder aufgeben muss.

Zum Glück war es zum Zeitpunkt ihrer Heimkehr schon sehr spät und sie sind keiner Menschenseele mehr begegnet. Sie hätten sicher nur den Kopf geschüttelt über das romantisch-kitschige Liebespaar auf dem Fahrrad, was die Finger nicht voneinander lassen kann.

Nur, dass sie eben kein Liebespaar sind. Und nie ein Liebespaar sein werden. Aber das weiß ja keiner.

Im frühen Morgenlicht versucht auch Yoongi diesen Umstand zu vergessen.

Er krault durch Jungkooks Haare und ist erstaunt darüber, wie weich sie sich anfühlen, obwohl sie immer so widerspenstig aussehen. Über seine Brust verstreut, liegen sie zum ersten Mal genau richtig.

Der Sex zwischen ihnen war nichts Besonderes. Das Gefühl der Erregung hat sich nicht anders angefühlt. Yoongi war nicht aufgeregt, nur weil er plötzlich den Wirbelsturmjungen im Bett hatte. Den Moment hat er sich oft genug in ihren Vorlesungen vorgestellt.
Vielleicht war die Begegnung etwas stürmischer als der übliche One-Night-Stand-Standard, aber was heißt das schon? Yoongi war einfach ungeduldig. Er hat so lange auf diesen Moment gewartet und ausgeblendet, dass er es sich eigentlich ein Verbot darüber für sich selbst ausgesprochen hat.

Wenn Jungkooks Berührungen auf seiner Haut sprechen, dass ist es einfach die Stimme in seinem Kopf zu ignorieren.

Jetzt ist der Moment vorbei und Yoongi liegt wach und denkt über den vergangenen Abend nach. Versucht zu verstehen, warum es sich nach dem Sex anders anfühlt, obwohl ihm die Situation doch schon so vertraut ist.

Die restliche Welt schläft. Es ist genau dieser Zeitpunkt zwischen tiefster Nacht und frühstem Morgen, wenn die Nachtwachen sich endlich hingelegt haben und die Frühaufsteher noch im Bett liegen. Es sind ruhigsten Minuten eines Tages und Yoongi kommt nicht zur Ruhe.

Vor einer halben Stunde ist Jin nach Hause gekommen. Erstaunlich leise und erstaunlich allein. Aber anders als Yoongi, macht es ihm nicht so viel aus, die Nacht alleine zu verbringen. Er hat vorher seinen Spaß. Danach ist ihm seine eigene Gesellschaft genug. Es gab nach seiner Ankunft erst leises Geraschel aus der Küche, vermutlich hat er schon von irgendwo Brötchen auftreiben können. Jin denkt immer an solche Dinge. Dann ist er weiter gewandert ins Badezimmer und schließlich in seinem eigenen Reich verschwunden.

Seitdem ist es wieder still. Noch nicht einmal das Vogelgezwitscher hat eingesetzt, um den neuen Tag begrüßen zu können. Yoongi wird ihnen heute zuvor kommen. Mit schwindligen Kopf und taumelnden Beinen und dem Gefühl von anders für das er noch keine Kategorie kennt.

Noch wartet er ein bisschen, bis er sich sicher genug sein kann, dass Jin eingeschlafen ist und auch die Atemzüge an seiner Brust so tief und gleichmäßig sind, dass er Jungkook sicher nicht durch eine vorsichtige Bewegung wecken wird. Er schiebt den Jüngeren sanft von sich herunter, greift im gleichen Atemzug nach seiner Boxershorts und einem T-Shirt. Erst als er es anhat, bemerkt er, dass es Jungkooks ist. Egal. Sie haben schon viel mehr miteinander geteilt.

Er braucht jetzt eine Zigarette. Um die Gedanken zu beruhigen und das Drehen in seinem Kopf zu beenden. Er würde gerne noch etwas Schlafen. Aber neben Jungkook fühlt es sich so gut an, dass es ihm schlecht deswegen geht oder vielleicht hat er auch einfach ein bisschen zu viel getrunken und der Kater setzt bereits ein. Egal was es ist, eine Zigarette wird es sicher besser machen können.

Anschließend greift er nach seinem Handy. Es ist schon seit einigen Stunden im Flugmodus. Auf Taehyungs letzte Nachricht konnte er nicht mehr antworten. Das kann er jetzt nachholen.

Auf dem Balkon erinnert ihn selbst das blaue Morgenlicht an den goldenen Jungen, der im Sonnenlicht glitzert. Es dauert keine zehn Sekunden, bis das aktivierte W-LAN Symbol auf seinem Handy die Ankunft einer neuen Nachricht verkündet.

[Taehyung]
Ja. :P Ich würde dich gerne wiedersehen. Vielleicht spiele ich dann auch Cello für dich, vielleicht sogar auch auf der grünen Wiese im Garten. xD Und was spielst du dann für mich, Yoongi?

Ich spiel dir die ganze Zeit etwas vor, denkt Yoongi. Zählt das auch?

[Yoongi]
Ich kann es kaum erwarten. <3 Wann hast du Zeit? :o

[Yoongi]
Ich schreibe ab und an ein paar Songs. Wenn du willst, kann ich dir das anbieten. c:

Er könnte ihm So Far Away zeigen. Er müsste diesmal nicht mal vorgeben, dass er das Lied für ihn geschrieben hat. Andererseits ist Taehyung vermutlich empathisch genug dafür, um die fundamentale Verzweiflung zu verstehen, die dem Song inne liegt. Und das könnte zu Fragen führen, die Yoongi nicht bereit ist zu beantworten.

Vielleicht also lieber First Love. Oder Shadow. Oder Seesaw.

Irgendwie fällt ihm erst in diesem Moment auf, dass alle seine Songtexte eine gewisse Konnotation von Verzweiflung aufweisen.

Er nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette und entlässt den Rauch in den blassen Morgen. First Love beschreibt seine Liebe zur Musik. Wie er früher in seinem Elternhaus Klavier gespielt hat, wie fasziniert er erst von diesem Instrument war, sich dennoch abwandte und später zu ihm zurückkehrte. Weil Taehyung Cello spielt, wird er das Beschriebene bestimmt nachempfinden können. Es ist der richtige Song für ihn, das sagt auch Yoongis Bauchgefühl. Natürlich ist das Klavier nur eine Metapher, aber was in seinem Leben ist denn schon nicht metaphorisch gemeint? Wenn Taehyung danach fragt, wird ihm Yoongi eine andere Bedeutung erklären. Eine weitere Nuance der Wahrheit, die er mittlerweile so stark verdreht hat, dass er sie selbst schon nicht mehr erkennen kann.

Er spielt anderen Menschen ständig vor jemand zu sein, der er nicht ist. Und ist das nicht die größte Metapher von allen?

Die Zigarette ist schneller aufgeraucht, als es ihm lieb ist. Sein Handy bleibt stumm. Um diese Uhrzeit ist wirklich niemand mehr wach und Yoongi sollte auch zurück zu dem Wirbelsturmjungen in seinem Bett. Was er wohl von ihm erwartet? Was für ein Mensch Yoongi wohl für ihn sein wird?

Die Stille gibt ihm keine Antwort auf seine Fragen.

Er selbst kann sie auch nicht beantworten.

Er weiß nicht einmal, was für ein Mensch er jetzt gerade ist.

Szene 6. In der WG. Yoongis Bett. Gegen 13 Uhr.

Das Geräusch von Geschirr in der Küche weckt ihn. Scheinbar ist Jin bereits wach und voll aktiv bei der Frühstücksvorbereitung. Er gibt sich dabei sehr gerne inbrünstig viel Mühe, exorbitant großen Lärm zu machen, damit Yoongi auch ja aufwacht und an seinen meisterhaften Kochkünsten teilhaben kann.

Sobald Jin aufsteht, betritt er eine Bühne. Und ab diesem Moment benötigt er Publikum. Wahrscheinlich hat er nur deswegen Yoongi dazu genötigt, mit ihm in eine Wohnung zu ziehen. Natürlich gestalteten sich die Umstände damals etwas komplizierter, aber bevor wir dem Protagonisten noch so etwas wie verborgene Gutherzigkeit zusprechen müssen, belassen wir es lieber dabei.

Ein Blick aufs Handy verrät ihm die aktuelle Uhrzeit. Schon fast 13 Uhr. Keine neuen Nachrichten. Zum Glück hat er in der vergangenen Nacht noch geistesgegenwärtig an die Reaktivierung des Flugmodus gedacht. Eine Erfindung der Götter. Denn die sind im alten Griechenland doch alle einander fremd gegangen, oder? Kein Wunder, dass sie auch die heutige Gesellschaft dabei unterstützen wollen.

Am liebsten würde sich Yoongi die Decke bis über den Kopf ziehen. Zum Glück hat er keine Kopfschmerzen, aber für die kommende Begegnung fühlt er sich trotzdem nicht gewappnet. Die schweren Vorhänge in seinem Zimmer können das Sonnenlicht nicht komplett aussperren, sondern lassen es lediglich dunkelgrau erscheinen. Alle Umrisse sind deutlich erkennbar und ein schwarzer Haarschopf ist scheinbar durch seine Bewegung auf ihn aufmerksam geworden.

Jungkook liegt mit einer absolut desaströsen Frisur (mal wieder) neben ihm. Seine Haare stehen wirklich in alle Richtungen. Er ist mit dem Gesicht zu Yoongi gedreht, ihre Beine sind ineinander verschlungen. Sein Oberkörper liegt mit ein bisschen Abstand zu ihm, sodass er mit einer Hand sein Smartphone bedienen kann, ohne Yoongi mit der Bewegung zu stören. Er legt es jetzt neben sich, das Display noch aktiviert – ist das Pokémon go? – und lächelt ihn sanft an.

„Hey", murmelt Jungkook mit einer verschlafenen Morgenstimme, die noch etwas kratzig von den vielen Zigaretten ist, die sie gestern Abend zusammen geraucht haben, und die seine Lunge in der Quantität ganz sicher nicht gewohnt ist. „Gut geschlafen?"

Er lässt es alltäglich erscheinen. Dieses gemeinsame Aufwachen nach einer durchgefeierten Partynacht. Er stellt eine der romantischsten Fragen der Welt und wirkt dabei so, als wäre wirklich überhaupt nichts dabei. Hat keine Berührungsängste, zieht seine Beine nicht weg, sondern streichelt mit seinem Fußrücken federleicht an Yoongis Unterschenkeln entlang. Vielleicht ist Yoongi nicht der Einzige von ihnen, der bereits mehr als genug Erfahrungen mit One-Night-Stands gesammelt hat.

Seine Reaktion ist nicht mehr als ein Grummeln.
„Mhm... Passt schon", sagt er und zieht die Silben dabei müde in die Länge. Ein erneutes Scheppern aus der Küche lässt ihn die Augenbrauen verstimmt zusammenziehen. Was zur Hölle veranstaltet Jin da? Bereitet er ein verdammtes Bankett vor?

„Dein Mitbewohner?", erkundigt sich Jungkook interessiert und lässt den Blick in Richtung Tür fallen. Sie ist teilweise verglast, aber Yoongi hat große Poster vor den gläsernen Teil gespannt, sodass man nun kaum noch was von der Welt außerhalb seines Zimmer durch sie hindurch erahnen kann.

Er nickt. „Scheiß Frühaufsteher...", nuschelt er und versucht weiterhin nicht dem Drang nachzugeben, sich erneut unter der Bettdecke zu verkriechen und den Tagesanbruch nur noch ein bisschen vor sich herzuschieben.

Ein Kichern lässt ihn den Blick nach rechts drehen.

„Wir haben schon fast Mittag...", erklärt Jungkook mit einem frechen Hasenzahngrinsen auf seinem Lippen. Yoongi hat das Lächeln schon oft gesehen. In den Vorlesungen, auf dem Campus, in der Cafeteria. Immer aus einiger Entfernung und mit sicherem Abstand zwischen sich und dem unwiderstehlichen Jungen, der alles verdient hat, aber ganz sicher kein gebrochenes Herz. Aus der Nähe raubt es ihm den Atem. Jungkook ist durch das schwache Licht in seinem Zimmer nur schwarz-weiß und trotzdem erstrahlt er in allen Farben, wenn er ihn so anlächelt.

„Sag ich ja...", erwidert Yoongi kraftlos und wünscht sich, er wäre zu mehr in der Lage.

Jungkook hingegen stützt sich in einer fließenden Bewegung auf seine Unterarme. Ihre Beine trennen sich dabei, die Decke fließt von seinen Schultern. Er ist immer noch nackt. Seine Oberarmmuskeln stehen durch die Belastung prominent hervor. Selbst im Dämmerlicht kann Yoongi die ausgeprägte Brustmuskulatur erkennen. Er ist den einzelnen Muskelsträngen in der vergangenen Nacht mit der Zunge bis ganz nach unten gefolgt. Er erinnert sich an jedes Detail. Auch an den salzigen Geschmack seiner Haut. Dem leisen Keuchen. Den ungezügelten Bewegungen. In der Dunkelheit hat es ihn selbstbewusst gemacht. Jetzt macht ihn die Erinnerung ungewohnt verlegen.

„Eher so der Morgenmuffel, mh?", fragt ihn Jungkook mit einem nachsichtigen Funkeln in den Augen.

„Du etwa nicht?", erwidert Yoongi träge, weiß bei dem Anblick nicht, wohin er seine Aufmerksamkeit lenken soll.

„Geht eigentlich. Hab mir irgendwann angewöhnt, gegen die Müdigkeit anzutrainieren und geh oft morgens ne Runde laufen..."

...und schaffst es anschließend nicht pünktlich in die Vorlesung. Oder dir deine Haare zu frisieren.

Seine Erwiderung klingt nur in seinen Gedanken nach. Kurz nach dem Aufwachen steht er wirklich noch zu nah bei sich selbst. Er ist so abgelenkt, dass er seine analytischen Blicke vergisst. Manipulatives Verhalten funktioniert nicht ohne eine fundierte Beobachtung. Aber er starrt nur. Und träumt. Von mehr solcher Morgende mit dem Wirbelsturmjungen, die es nicht geben darf.

Eine Nacht macht nicht viel kaputt. Aber wie sieht es bei der zweiten oder dritten Nacht aus?

„Gruselig...", sagt Yoongi stattdessen und wendet seinen Blick ab. Das Kichern neben ihm verleitet ihn zurückzusehen. Er darf der Versuchung nicht nachgeben. Muss endlich mal klarkommen auf diese verkackte Situation, in die er sich biertrunken und kopfüber gestürzt hat, ohne die Konsequenzen zu überdenken.

Er will ihm nicht wehtun. Aber er weiß gar nicht mehr, wie das überhaupt funktioniert.

Vielleicht wäre es ein erster Schritt gewesen, sich nicht nachts aus dem Bett zu schleichen, um einem anderen zu schreiben, dass er ihr nächstes Treffen kaum abwarten kann. Klar, bedeuten Yoongi solche hohlen Worte nichts, aber woher soll eine außenstehende Person das wissen?

Er könnte auch sein heutiges Treffen mit Namjoon absagen. Stattdessen Jungkook fragen, ob sie den Tag miteinander verbringen wollen. Vielleicht könnten sie gemeinsam an ihrem Vortrag weiterarbeiten. Oder einfach das Geschehen von letzter Nacht wiederholen. Diesmal weniger angeheitert. Eigentlich würde es auch schon reichen, wenn sie einfach nur im Bett liegen und Filme gucken würden. Yoongi würde auch dämliche Videospiele mit ihm zocken, wenn das Jungkooks Wunsch wäre. Wenn jemand schon als erste Amtshandlung am Morgen Pokémon Go auf seinem Smartphone öffnet, dann ist er bestimmt anderen Spielen gegenüber auch nicht abgeneigt. Yoongi kann mit sowas eigentlich nicht viel anfangen. Wenn man so viel mit fremden Gefühlen spielt wie er, dann reizen einen nicht mehr die unendlichen Möglichkeiten in einer virtuellen Welt. Alles, was er tun möchte, tut er einfach in der Realität.

Außer jetzt. Jetzt macht er nichts anderes außer Schweigen und die Decke anstarren. Jins fröhlichem Geklimper aus der Küche zu lauschen und sich zu fragen, warum gottverdammt sich heute Morgen alles so anders anfühlt als sonst.

„Du siehst süß aus", durchbricht erneut die Stimme von Jungkook die aufkommende Stimme. Ein bisschen ist es wie mit Taehyung am vergangenen Morgen. Er scheint sich auch rundum wohl in der neuen Situation zu fühlen. Scheint nicht viel von Yoongi zu brauchen, damit er zufrieden ist.

„So voll verpennt, mein ich. Deine Augen sind noch ein bisschen geschwollen und du hast voll die süßen Wangen...", grinst der Jüngere von ihnen und streckt die Hand aus, um sanft über die angesprochenen Stellen in Yoongis Gesicht zu fallen.

„Oh, baaaahh", grollt dieser beleidigt und dreht seinen Kopf inklusive Körper in die andere Richtung. Weg von Jungkook und dieser Sanftheit, der er absolut nichts entgegenzusetzen hat. „Lass das. Ich seh' morgens richtig beschissen aus... Kann ja nicht jeder so'n Supermodel sein wie du..."

Jungkooks unbeschwertes Lachen lässt das Zimmer in Farben explodieren, obwohl die Vorhänge natürlich weiterhin zugezogen sind. Es vibriert in aufschäumenden Wellen durch das Zimmer und nimmt mühelos jede Ecke und jeden Winkel ein. Es legt sich auf Yoongis Haut wie eine Gänsehaut.

Er lässt sich von der rüden Reaktion nicht abschrecken. Greift nach Yoongis Hüfte und dreht ihn mit einer gezielten Bewegung zurück zu sich. Es macht ihm keine Mühe, das viele Training hat sich nicht nur für seinen Körper bezahlt gemacht. Er ist viel kräftiger als Yoongi und schiebt sich mithilfe seiner linken Hand über ihn, damit der Ältere nicht mehr entkommen kann. Sein Kinn stabilisiert er vorsichtig mit der rechten Hand. Hindert ihn damit wegzublicken.

„Du hältst mich für 'n Supermodel?", fragt er fröhlich, wieder dieses breite Grinsen auf dem Lippen, dass jeden Bodybuilder schwach machen würde.

„Ich halte dich vor allem für ein rotzfreches Balg ohne Manieren oder das Gefühl von Anstand", erwidert Yoongi, weil harsche Worte die einzige Verteidigung sind, die er noch hat. Ansonsten ist er schutzlos. Vielleicht ist es deswegen so anders als sonst. Mit einem auffälligen Augenaufschlag deutet Yoongi nach unten, wo sich Jungkooks nackter Körper gegen seinen presst.

„Du hast mein T-Shirt an", zwinkert der wiederum nur vergnügt, nachdem er einen auffordernden Blick über Yoongis Körper geworfen hat. „Da blieb mir nichts anderes übrig, außer nackt zu bleiben..."

Yoongi verdreht die Augen. Gott sei Dank hat er sich zumindest so weit unter Kontrolle, dass er bei der Entdeckung nicht schamesrot anläuft wie ein verdammtes Schulmädchen.

„Ich find dich wunderschön", haucht Jungkook als Kuss auf seine Wange. „Und heiß", ein Kuss auf die andere Wange. „Und sexy", ein Kuss auf die Nasenspitze. „Und unglaublich süß, wenn du so morgenmufflig bist".

Erst dann küsst er ihn richtig. Mit einem breiten Lächeln auf den vollen Lippen, die sich so mühelos an Yoongis schmiegen, als hätten sie die Bewegung schon hunderte Male ausgeführt. Jetzt kann er die Farben auch durch die geschlossenen Augenlider erkennen. Dass er sie geschlossen hat, war echt nur ein Reflex. Eigentlich wollte er den Kopf wegdrehen, aber Jungkooks Hand hat ihn sanft daran gehindert. Er ist für so nen schnulzigen Kram echt nicht zu haben. Er macht das selbst nur, wenn es unbedingt sein muss.

Wenn Jimin mal wieder schmollt, weil sie sich zu lange nicht gesehen haben. Wenn Namjoon mal wieder zu intelligent für sein eigenes Wohlergehen ist. Wenn sich irgendjemand anderes gegen Yoongis Avancen wehrt und ihm vorwirft, es doch gar nicht ernst zu meinen.

Jetzt gerade besteht keine Notwendigkeit für Jungkook. Er macht es freiwillig. Vermutlich ernst gemeint. Wie reagiert man auf sowas? Es sollte doch nur ein One-Night-Stand sein. Eigentlich nicht mal das. Aber dieser Moment fühlt sich nach so viel mehr an.

Yoongi küsst ihn einfach zurück. Es ist das einfachste. Intensiviert die Bewegung ihrer Lippen und lässt in einem geschickten Augenblick seine Zunge in Jungkooks Mund gleiten. Im Zweifel ist vielleicht auch Angriff die beste Verteidigung. Und Leidenschaft hat schon immer gegen dämliche Gefühlsduseleien geholfen. Hauptsache er muss auf die schmalzigen Worte nichts erwidern. Er würde es nicht mal schaffen, Jungkook jetzt in die Augen zu blicken.

„Daaaarliiiing!", trillert Jins affektierte Stimme durch die geschlossene Zimmertür. Dann klopft er. „Frühstück ist fertig. Darf ich reinkommen?"

„Nein!", donnert Yoongi noch bevor er Luft geholt hat und sich seine Lippen so unverhofft von Jungkooks trennen mussten. Er ist ziemlich laut dabei und deutlich zu verstehen, aber natürlich öffnet sich seine Tür trotzdem.

„Habt ihr gerade Sex?", fragt Jin ungeniert, während er den Blick durch den Raum schweifen lässt, an Jungkooks Brustmuskulatur hängenbleibt und sein Körper sich schließlich auf dem Schreibtischstuhl niederlässt. Immerhin nicht auf der Bettkante direkt neben ihnen. Nicht so, als wäre das nicht auch schon vorgekommen. Während Yoongi wirklich Sex hatte. Diskretion ist immer nur dann Jins Stärke, wenn es um ihn selbst geht. Yoongi sollte sich angewöhnen, seine Zimmertür abzuschließen.

„Nein?", erwidert Jungkook fragend, etwas überfordert mit der übergriffigen Handlung des Mitbewohners und scheinbar unsicher darüber, ob er verärgert auf die Störung reagieren oder die eigentliche Handlungsprämisse Yoongi überlassen sollte. Dieser beschränkt sich jedoch auf ein paar recht aussagekräftige Blicke, die wohl in ihrer Eiseskälte jeden anderen zumindest nervös schlucken lassen würden, wenn nicht zu einem sofortigen Rückzug überreden.

Jin stört sich nicht daran. Er kennt ihn doch schon viel zu lange. Er grinst vergnügt und lehnt sich auf seinem Sitzplatz mit einer solchen Selbstverständlichkeit zurück, als hätte sich Yoongi in der letzten Nacht in der Tür geirrt und sie hätten irrtümlicherweise das Zimmer seines Mitbewohners okkupiert. „Schön", sagt er mit einem erhabenen Schmunzeln in der Stimme, „dann könnt ihr ja auch aufstehen. Ich hab schon alles vorbereitet, Kaffee ist auch gekocht, mein lieber Yoongi. Ich habe nicht damit gerechnet, dass ihr noch so lange liegenbleibt. Eigentlich ist er morgens nicht so verkuschelt, musst du wissen... Jungkook, oder? Entschuldige meinen desolaten Zustand am gestrigen Abend und falls mein Gedächtnis mich im Stich lassen sollte."

Die fragende Nuance in seiner Stimme klingt beinah echt. Als würde Jin nicht genau wissen, wen er da gerade in Yoongis Bett vorgefunden hat. Sie haben oft genug über Jungkook gesprochen, darüber, dass er Yoongi in der Vorlesung aufgefallen ist. Dass er im erst im letzten Moment zu den universitären Veranstaltungen erscheint. Dass er irgendwie stürmisch ist, genauso wie sein Haar, und dass Yoongi sich von ihm fernhalten wird. Weil er einen Sicherheitsabstand zwischen ihnen braucht, weil er nun mal an nichts Ernsthaftem festhalten kann und die losen Geschichten in seinem Leben mehr Destruktivität verbreiten, als er dem jungen Student antun möchte. Er kann sich an das aufgeregte Glimmen in Jins Augen erinnern, als er die beiden gestern Abend einander vorgestellt hat.

Jungkook lässt sich langsam von ihm runtergleiten. Stützt seinen Kopf lässig auf dem linken Arm auf, während er den rechten weiterhin besitzergreifend über Yoongis Brust geschlungen hält. Er nickt nur, ein nachsichtiger Ausdruck in seiner Mimik. Er hat sich wohl dazu entschieden, nicht verärgert über die plötzliche Korruption ihres romantischen Moments zu sein und nimmt die Unterbrechung mit einer ruhigen Gelassenheit hin. Vielleicht will er auch einfach einen guten Eindruck hinterlassen. Die meisten seiner Bettaffären versuchen sich gut mit Jin zu stellen. Als würde das irgendwas daran ändern, wenn Yoongi sich dazu entschließt, genug von ihnen zu haben.
„Richtig, Jungkook. Ist nicht schlimm. Ich glaub, ich war gestern... auch nicht mehr in dem zurechnungsfähigsten Zustand."

„Ach was, du warst äußerst charmant. Du hast unseren Griesgram ja regelrecht verzaubert, so handzahm hab ich ihn wirklich lange nicht erlebt..."

Ein Knurren ist die Reaktion. Bis jetzt hat sich Yoongi aus dem Gespräch rausgehalten, aber es ist für ihn immer noch früh am Morgen und er ist beschäftigt genug damit, seine Gefühle und Gedanken in Richtung Jungkook in geordnete Bahnen zu lenken, da kann er sich nicht auch noch mit seinem affektierten Mitbewohner herumärgern, der wieder deutlich zu gesprächig ist, als es Yoongis Nervensystem zuträglich wäre.

„Okay, danke Jin", er dehnt die Worte in exakt dem müde-genervten Einklang, dass sie keinen Raum für Widerspruch übriglassen. „Wir kommen dann gleich in die Küche. Wenn du so gütig wärst, uns bis dahin noch einen kurzen Moment Privatsphäre einzuräumen?!"
Er hat sich auf seine Unterarme gestützt und bedeutet Jin mit einer forcierten Handbewegung das Zimmer zu verlassen.

„Lasst mich nicht zu lange warten", flötet Jin, während er sich enthusiastisch von seinem beobachtenden Posten erhebt und den Raum mit einem Augenzwinkern verlässt. „Nette Muskeln im Übrigen, Kookie-Bunny. Keine schlechte Wahl, Mr. Griesgram!"

„Oh HILFE", lässt sich Yoongi ergeben in seinem Bett zurückfallen und schlägt die Hände vor dem Gesicht zusammen. Das amüsierte Kichern Jungkooks verwundert ihn nicht einmal.

„Er ist nett", deklariert der Jüngere viel zu vorschnell.

„Er ist furchtbar", widerspricht Yoongi mit tiefer Inbrust in der Stimme.

„Warum wohnt ihr dann zusammen?", stellt Jungkook die logische Anschlussfrage. Verwundert über die beinharte Ernsthaftigkeit, die sich in seiner Stimmlage widergespiegelt hat. Morgens ist Yoongi wirklich oft besonders verzweifelt über seinen aufmerksamkeitsbedürftigen Mitbewohner, dessen unverfrorenes Auftreten viel zu häufig ein gewisses Maß an Pietät vermissen lässt.

„Er ist mein bester Freund", gibt Yoongi ergeben zu und lässt die Hände von seinem Gesicht sinken. Er wüsste gerne, in was für eine Misere er sich in seinem letzten Leben begeben hat, um in diesem mit dieser schrecklichen Frohnatur gestraft zu sein.

„Das hab ich gehört, Darling! ICH LIEBE DICH AUCH!", zwitschert Jin fröhlich aus der Küche. Natürlich hat er beim Verlassen des Raums alle Türen sperrangelweit offenstehen lassen, damit er auch ja jedem Wort ihrer Unterhaltung nahtlos folgen kann.

„Das war keine ZUNEIGUNGSBEKUNDUNG!", brüllt Yoongi doppelt so laut zurück.

„Oh doch, DAS WAR ES!", lässt sich Jin nicht beirren.

Eine dritte Stimme mischt sich in müheloser Harmonie in ihre, lässt jegliche Diskrepanzen zu bloßen Lappalien verkommen.

Jungkooks lautes, befreites Lachen dringt durch die gesamte Wohnung, als wäre es schon immer die perfekte Ergänzen zu ihren liebevollen Streitigkeiten gewesen. Aus dem Missklang wird ein Einklang. Dreiklang.
Er lacht mit geöffnetem Mund und ohne Zurückhaltung. Das Geräusch ist genauso stürmisch wie sein gesamtes Wesen und macht vor Nichts halt. Es legt sich in jede Ecke von Yoongis grauem Zimmer. Lässt es in anderen Farben erstrahlen. In warmen Tönen. In Rot und Orange und Lebendigkeit. In diesen Nuancen, die nicht mehr abwaschbar sind, wenn sie einmal den Untergrund berührt haben.

Es ist viel zu leicht, sich daran zu gewöhnen.

Yoongi blickt weg, weil er den Anblick des vollkommen gelösten Jungkooks nicht ertragen kann.

Sein Handy ist immer noch im Flugmodus.

Er muss daran denken, Namjoon nach dem Frühstück zu schreiben, dass es heute später wird. Vielleicht kann er zwischendurch noch kurz bei Jimin vorbei, dann spart er sich den Stress morgen. Er möchte Taehyung eigentlich zeitnah wiedersehen und sollte das in seiner Wochenplanung berücksichtigen. Er möchte das Aufholen, was sie in ihrem ersten Treffen zwischen zahlreichen Küssen und leidenschaftlichen Berührungen versäumt haben. Ihm dabei zu sehen, wie selbst das goldene Sonnenlicht gegen den funkelnden, Cello-spielenden Taehyung verblasst.

„Lass uns frühstücken gehen", gibt Yoongi seine irrläufigen Gedanken auf.

„Hast du vielleicht vorher noch was zum Anziehen für mich oder denkst du, es wär für Jin in Ordnung, wenn ich mich so an den Tisch setze?", erkundigt sich Jungkook vergnügt und hebt dabei nur eine Winzigkeit der Decke an, die gerade noch so eben seinen unteren Körper verdeckt. Er hat keine Ahnung davon, dass der Junge neben ihm bereits die nächsten Treffen mit mindestens drei anderen Männern plant. Ihr Zusammensein ist für ihn das Einzige, was zählt. Ansonsten wäre er niemals so mühelos, so ungezwungen. Beinahe schon... glücklich.

Jungkook trägt nichts unter der Decke. Yoongis streifendem Blick begegnet er nur mit einem frechen Augenzwinkern. Der Einladung nach mehr. Einer Wiederholung. Sein nackter Körper ist die letzte Bezeugung ihres verbotenen Treibens von gestern Nacht.

„Vollkommen OKAY", tönt da schon wieder Jins penetrante Stimme durch die geöffnete Zimmertür.

„Ich geb' dir was von mir", reagiert Yoongi geschlagen und verlässt mit einer fließenden Bewegungen diesen sündigen Anblick in seinem Bett.

In seiner Brust ist immer noch etwas anders.

Aber das Bild des Friedens ist dem eines aufgespießten Herzens so konträr, dass es selbstredend vollkommen verständlich ist, dass unser Protagonist das Gefühl nicht benennen kann und es achtlos hinter sich zurücklässt. 

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