ABSCHIEDSSZENE.

"ᴅɪᴇ Lᴇᴜᴛᴇ sᴀɢᴇɴ 'ʙʟᴇɪʙ ᴡɪᴇ ᴅᴜ ʙɪsᴛ',
ᴀʙᴇʀ ɴᴇɪɴ, ᴛᴜᴛ ᴍɪʀ ʟᴇɪᴅ,
ᴠɪᴇʟʟᴇɪᴄʜᴛ ʀᴇɪᴄʜᴛ ᴍɪʀ ᴅᴀs ɴɪᴄʜᴛ.
ᴠɪᴇʟʟᴇɪᴄʜᴛ ғɪɴᴅ ɪᴄʜ ᴅᴀs, ᴡɪᴇ ɪᴄʜ ʙɪɴ,
ɢᴀʀ ɴɪᴄʜᴛ ᴍᴀʟ sᴏ ɢᴜᴛ."
- ᴋʀᴀғᴛᴄʟᴜʙ, ᴡɪᴇ ɪᴄʜ

Szene 4: Auf dem Weg zur Praxis. Mehrere Monate später.

Der Winter in dieser Stadt besteht eindeutig nur aus brauner, matschiger Scheiße. Yoongi betrachtet etwas angeekelt das Desaster vor seinen Füßen. Die braun-schwarzen Klumpen haben die Bezeichnung Schnee kaum verdient. Sie türmen sich am Straßenrand. Es hat letzte Nacht erst geschneit und es ist tatsächlich einer dieser seltenen Tage, an denen der Schnee nicht bereits in den Morgenstunden schon wieder verschwunden ist. Wahrscheinlich wird er erst gegen Mittag geschmolzen sein, aber noch ist es klirrendkalt und scheiße früh. Absolut nicht seine Zeit. Aber er kann sich die Termine nun mal leider nicht aussuchen.
Der Schnee knirscht unter seinen Füßen. Er kann die Fußspuren sehen, die er darin bereits hinterlassen hat. Obwohl sich Yoongi mit der Bezeichnung Schnee echt schwer tut. Schnee sollte weiß sein, hat er mal gehört, und nicht so ein ekelhaftes kackbraun. Tja, für weiße Wintermärchen ist hier scheinbar echt kein Platz.

Yoongi zieht sein Handy aus der Hosentasche und macht im Vorbeigehen ein Bild von der winterlichen Katastrophe am Straßenrand.

[Yoongi]
Bock auf 'ne Schneeballschlacht?

[Taehyung]
Baaahhhhh. Was bitte ist DAS?!

[Yoongi]
Schnee

[Taehyung]
Bah. Fass' mich damit nicht an

[Yoongi]
Relatable :D

[Taehyung]
Bist du schon unterwegs?

[Yoongi]
Ja, eben losgegangen :x

[Taehyung]
Viel Erfolg <3 Willst du danach vorbeikommen?

[Yoongi]
Wollen ja c: Aber ich muss danach in die Bibliothek, meine Hausarbeit verlangt nach einem dringendem Date mit mir :x

[Taehyung]
Oh, böse Hausarbeit! Muss ich eifersüchtig sein?

[Yoongi]
Ich denke schon :> Sie nimmt sehr viel Zeit von mir in Anspruch

[Taehyung]
Dann komme ich dich später retten, ok? Mittagessen dann?

[Yoongi]
Mittagessen klingt gut. Bis dann :*

[Taehyung]
Ich freu mich <3

[Yoongi]
<3

Als nächstes öffnet Yoongi Pokémon Go. Das Weihnachtsevent hat schon vor zwei Tagen gestartet und er hat sich fest vorgenommen, dieses Pikachu mit Weihnachtsmütze als schillerndes Exemplar zu fangen, sprich, in der seltenen Version. Es ist so süß. Yoongi will es unbedingt. Er mag es immer noch, seltene Dinge zu besitzen.

Nach wenigen Minuten muss er sein Handy jedoch zurück in die Tasche packen. Seine Hände sind vor Winterkälte schon krebsrot. Der eiskalte Wind macht es noch schlimmer. Er sollte dringend darüber nachdenken, sich Handschuhe zu kaufen, mit denen er den Touchscreen bedienen kann. Ansonsten wird aus seiner Karriere als Pokemonmeister nichts. Obwohl er jetzt schon mehrere Monate spielt, ist er trotzdem erst Level 32. Dabei ist sein Ehrgeiz so viel größer, mindestens schon auf Level 50. Er hasst es, dass der Winter ihn ausbremst. Yoongi vergräbt sein Kinn in dem dicken Schal, der um seinen Hals gewickelt ist. Vor dem Wind schützt ihn das leider kaum. Seine Wangen sind schon ganz taub. Er verzieht sein Gesicht zu ein paar Grimassen, um die Durchblutung zumindest etwas anzuregen. Seit er sein Wintermärchen damals verloren hat, kann er mit der kalten Jahreszeit einfach nichts mehr anfangen. Und dass sie ihn jetzt auch noch vom Pokemonspielen abhält, macht es nicht besser. Yoongi seufzt genervt und beschleunigt seine Schritte. Vielleicht wird ihm ja dadurch ein bisschen wärmer.

Die Praxis seiner Psychologin ist nur wenige Meter entfernt. Den Bus zu nehmen, würde keinen Sinn machen und Yoongi versucht, trotz der eisigen Kälte, die paar Schritte zu genießen. Normalerweise nutzt er die Zeit, um erst ein paar Pokémon zu fangen und sich anschließend auf die kommende Therapiesitzung vorzubereiten. Meistens überlässt die Psychologin erst ihm das Feld. Yoongi darf alles äußern, was ihm in den letzten Tagen durch den Kopf gegangen ist. Jeden einzelnen schlimmen Gedanken und jedes furchtbare Bild. Er ist nicht immer bereit, über alles davon zu sprechen (das Schlachtfeld in Yoongis Kopf ist immer noch sein Geheimnis. Es fühlt sich zu verrückt an, darüber zu sprechen. Ist das verrück?), aber er probiert es zumindest. Meistens überlegt er sich bereits vorher, ob es ein Thema gibt, über das er überhaupt nicht sprechen möchte. Meistens will er über die Dinge nicht sprechen, für die er sich am meisten schämt. Dann zwingt er sich dazu, damit anzufangen.

Seine Psychologin hat ihm bereits in ihrer ersten Sitzung erklärt, dass Yoongi bei der Erzählung seiner Geschichten immer am Anfang beginnen muss. Sie könne ihm nur helfen, wenn seine Berichte vollständig sind. Damit hat Yoongi sich bisher immer am schwersten getan. Seine Wahrheit, seine Geschichte, war niemals vollständig. Er ist immer am besten damit zurecht gekommen, wenn er eine Variante der Realität erzählen konnte. Eine, die an einem Punkt begonnen hat, der ganz sicher nicht den Anfang markiert hat. Aber genau das war die Voraussetzung dafür, dass all seine Lügen immer wie süße Versprechungen klingen konnten. Auch wir haben irgendwo in der Mitte begonnen. An einem Punkt, an dem Yoongi sich bereits gewünscht hat, ein anderer zu sein und kann das wirklich jemals ein Anfang sein?

Ich denke nicht. Wenn wir uns wünschen, jemand anderes zu sein, muss schon ganz schön viel mit unserer jetzigen Version falsch gelaufen sein. Und das ist traurig. Wir sind nicht unbedingt immer ein Arschloch, nur weil wir etwas tun, was Arschlöcher tun würden. Manchmal sind wir traurig. Manchmal fühlen wir die Dinge nicht. Egal, was es ist, wenn wir den Anfang der Geschichte nicht kennen, dürfen wir auch nicht darüber urteilen.
Geschichten spielen damit. Denn sie beginnen zwar an einem Anfang, aber es ist nicht der Anfang. Es gibt immer eine Vorgeschichte, die wir erst einmal nicht kennen. Wenn wir Glück haben, erfahren wir im Verlauf der Story ein bisschen was darüber. Vollständig ist es meistens nicht. Yoongis Geschichte ist auch nicht vollständig, oder? Und sie wird es auch nicht werden.

Nur mit seiner Therapeutin musste Yoongi deswegen über den wirklichen Anfang reden. Weil er nicht wusste, wo das sein soll, hat er bei seiner Kindheit begonnen. Sie haben oft über seine Kindheit gesprochen. Über das Verhältnis zu seinen Eltern und zu seinem Bruder. Yoongi hat ihnen bislang noch nichts von seiner Diagnose erzählt und dass er sich in einer laufenden Therapie befindet. Über Weihnachten wird er ein paar Tage Zuhause verbringen. Dann wird er das Thema ansprechen. Vielleicht nicht direkt am 24ten. Er möchte die Stimmung nicht ruinieren. Aber vielleicht am Tag danach. Oder am Tag danach. Es ist egal, Hauptsache er sagt es, bevor er wieder abreist.

In der Therapie lernt Yoongi, die Worte auszusprechen, die ihm immer zu schwer vorkamen. Sie sind auch heute noch schwer, aber über die Wochen und Monate hinweg, ist Yoongi stärker geworden. Irgendwie ist die Therapie ein bisschen wie ein Krafttraining. Es stärkt ihn von innen heraus.

Das bedeutet nicht, dass er nichts mehr falsch macht. Unwillkürlich tastet Yoongi mit seiner Hand nach seinem Handy. Mittlerweile ist die Farbe lila nicht mehr das einzige, an das Taehyung ihn erinnert. Vor allen Dingen erinnert er ihn an das Wort Vergebung. Irgendwie musste Taehyung ihm vergeben, damit Yoongi selbst damit beginnen konnte. Seitdem versucht er es. Es ist nicht leicht. Eigentlich ist es tonnenschwer.

Der Wind weht ihm ständig seine Haare in die Augen. Yoongi flucht leise vor sich hin, während er sie quasi im Sekundentakt zur Seite streicht. Sie sind mittlerweile echt lang geworden. Er sollte dringend mal wieder zu einem Friseur. Und wenn er ohnehin shoppen geht, um sich diese verdammten Handschuhe zu kaufen, könnte er vielleicht auch gleich noch ne passende Mütze dazu drauflegen. Oder, noch besser, er fragt Jin danach, ob er ihm eine Mütze und Handschuhe zu Weihnachten schenkt. Sein älterer Mitbewohner liegt ihm bereits seit Wochen in den Ohren damit, dass Yoongi sich etwas von ihm wünschen soll. Mit der Antwort Zigaretten war er nicht so richtig einverstanden. Zu unkreativ. Pah. Zigaretten sind nicht unkreativ. Sie sind praktisch. Aber vermutlich ist es wirklich kein gutes Geschenk, einen guten Freund dabei zu unterstützen, sich selbst möglichst früh Lungenkrebs zuziehen. Also dann doch die Mütze und die Handschuhe. Wenn Jin schon auf Weihnachtsgeschenke besteht, dann kann er wenigstens ordentlich dafür blechen und Yoongi hätte damit wenigstens zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Jin würde endlich Ruhe geben, Yoongi würde im Winter Pokémon Go spielen können und endlich auch in stürmischen Zeiten etwas Sehen können.

„FUCK", flucht er übertrieben laut, als die nächste Windböe seine Sicht versperrt. Es kommt, wie es früher oder später kommen musste. Yoongi läuft prompt in das nächste Hindernis hinein, dass seinen Weg kreuzt. In diesem Fall einer dieser verrückten morgendlichen Jogger, die ihren Tag mit einem gemütlichen Lauf um den Block beginnen. Auch bei Minusgraden. Wie verrückt muss man sein?

Yoongi hat der schwungvollen Kollision nichts entgegenzusetzen. Er fällt um wie ein Fähnchen im Wind und landet natürlich mitten in der braunen Scheiße, die sich Schnee schimpft.

Seine Jeanshose wird quasi augenblicklich klamm und zieht sich voll mit eis-, wirklicher eiskalter Flüssigkeit. Verdammte Dreckshurenscheiße.

„Spinnst du?", flucht er lautstark. „Hast du keine Augen im Kopf, oder was ist falsch mit dir?" Die helfende Hand in seinem Sichtfeld ignoriert Yoongi, hievt sich selbst zurück auf die Füße, verschwendet keinen Blick an den lebensmüden Jogger und klopft sich möglichst schnell und inbrünstig den ganzen Matsch von seinen Klamotten.

„Sorry, ich hab' dich nicht gesehen. Ich war abgelenkt von... - Moment -
YOONGI?"

Sie haben sich seit Monaten nicht gesehen. Yoongi hat bei der Wahl seines Stundenplans darauf geachtet, dass sie keine gemeinsamen Veranstaltungen haben. Ein Seminar hat er sogar nachträglich noch gewechselt, als er den unruhigen Sturm in der ersten Reihe wahrgenommen hat. Eigentlich wollte er selbst gerne dort Platz nehmen. Yoongi sitzt nicht mehr gerne in der letzten Reihe. Er hat also stattdessen eine andere Veranstaltung belegt. Er weiß, dass das feige war. Seine Psychologin hat ihm aber gesagt, dass es okay ist, feige zu sein. Distanz kann erheblich dazu beitragen, dass Wunden heilen können. Und dass mussten sie wohl beide erst.

Jeon Jungkook und Min Yoongi stehen sich das erste Mal seit Monaten gegenüber. Irgendwie fühlt es sich wie ein erstes Mal an. Jeon Jungkook ist zwar immer noch der Sturmjunge mit den zerzausten Haaren, die niemals auch nur ansatzweise an eine Frisur erinnern, aber Yoongi...

... Yoongi wünscht sich jetzt nicht mehr nur anders zu sein.

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