Prolog


Scheinwerfer kreisen in allen möglichen Farben über die kreischende Menge.
Musik pulsiert in meinem Blut, fließt durch meine Adern, vernebelt meine Sinne.
Es gibt nur noch die Sänger auf der Bühne vor uns, nur noch die tanzende Masse, nur noch die bunten Lichter.
Meine Haare wirbeln in der drückenden Luft, als ich meinen Zopf löse.
Einzelne Strähnen fallen in mein Gesicht, während sich mein Herzschlag dem Beat anpasst.
Das Lied geht unter die Haut, hypnotisiert mich, lässt mich alles andere vergessen.
Die Menge passt sich dem Takt an, bewegt sich, als würde sie zusammengehören.
Den Text im Kopf singt sie mit, immer lauter, nur die Lautsprecher an den Wänden der riesigen Halle übertönen sie.
Vor mir ist nur noch die silbrig-matte Abgrenzung, hinter welcher die Sicherheitskräfte in Lederjacken jeden Einzelnen hier beobachten.
Über mir die Lautsprecher, und nur wenige Meter weiter rechts die fünf Sänger.
Mein Herz klopft kräftig, pumpt Adrenalin wie Blut durch meinen Körper.
Ich will rennen, doch stattdessen lege ich all meine Energie in den atemraubenden Tanz. Stickige Luft füllt meine Lunge, doch mein Gehirn ist ausgeschaltet, reagiert nur auf die Musik.
Heute Abend will ich keine Angst haben, ich will feiern, schließlich ist eine so große Band nicht immer ausgerechnet dort, wo ich bin.
Ein Knall folgt auf den Takt, ich verziehe das Gesicht, der Beat wurde zerstört.
Schwer atmend stütze ich mich mit einer Hand auf den Zaun, sehe mich in der Halle um, höre die jubelnden Schreie der Menschen.
Ich bin mir sicher, dass meine Haut vor Anstrengung und Hitze gerötet ist,
dennoch werfe ich mir wieder die dünne Jacke über, die ich bis eben noch um meine Hüfte gebunden hatte, und die mich so in meiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt hat. Mit dem Fuß klopfe ich einen Rhythmus, schließe die Augen, bis zum nächsten Knall.
Der darauffolgende Schrei geht in der Musik unter, im Jubeln der Masse, und doch ist er hörbar und viel zu klar zuzuordnen.
Das Adrenalin in meinem Körper drängt sich an die Oberfläche, meine Hand zittert und mir ist übel, als ich den Sicherheitsmann vor mir antippe.
Meine Stimme bricht, doch ich zwinge mich dazu, ruhig zu bleiben.
Zu schreien, anders wird er mich bei der wahnsinnigen Lautstärke nicht verstehen.
Ich muss mich zwingen, die Tränen zu unterdrücken, obwohl ich es doch schon so gut kenne.
Obwohl ich doch so gut darauf vorbereitet bin.

Eigentlich.

Nur, dass ich keine Ahnung habe, was ich sagen soll. Mein gesamter Körper ist der Meinung, dass ich einfach rennen sollte, weg von hier, immer weiter.
Nur mein Verstand sträubt sich, wehrt sich mit aller Kraft dagegen.
Ich kann keine Menschenmasse ihrem tödlichen Schicksal überlassen. Ich kann nicht am Tod Tausender schuldig sein. Ich kann nicht.
„Hier... hier drin. Sie sind hier drin!", schreie ich schluchzend gegen den ohrenbetäubenden Lärm an. Von der Seite ernte ich die ersten Blicke, schockiert, verängstigt, ohnmächtig vor Panik. Die Sicherheitskräfte springen über den Zaun, drängen sich in die Halle.
Manche von ihnen versuchen, die Quelle der Angst auszumachen, andere zwingen uns mit ihrer unmenschlichen Kraft, die Halle zu verlassen.
Es ist ein einziges Gerangel, Menschen fallen zu Boden,
ich zerre einen kleinen Jungen wieder auf die Füße.
Alle versinken in ihrer Panik, und grade das macht mir Mut,
als ich mich gegen den unerbittlichen Strom wende und ein Mädchen sehe,
grade so alt wie ich damals, welches verloren inmitten der Halle steht.
Für den Bruchteil einer Sekunde steht alles still, dann sprinte ich los, nur dieses eine Ziel vor Augen:

Sie retten. Koste es mein Leben.

Stetiges Murmeln lag im Saal, erwartungsvolles Wispern erhob sich und brachte die Luft zum Schwirren. Die hellen Kronleuchter schienen in jeden Winkel, machten jede noch so dunkle Ecke zu einer Bühne, auf der ihre Lichtstrahlen tanzen konnten. Begeistert wippend saß das junge Mädchen, welches grade erst ihren dritten Geburtstag gefeiert hatte, auf einem der dunkelroten Sessel in der ersten Reihe, den Blick starr auf die Bühne geheftet, auf welcher sie sogleich ihre Mutter sehen wollte. Noch verwehrte jedoch der schwere, samtene Vorhang jegliche Chance auf einen Einblick, was hinter den Kulissen passierte. Sie wusste nicht, ob ihre Mutter dort stand, oder ob das Orchester grade die letzten Notenblätter einsammelte, um dann den Gang entlangzueilen, welcher es zu seinem Platz führte. Sie wusste es nicht, und ihr Unwissen machte sie nur noch aufgeregter, sodass der Mann neben ihr Mühe hatte, sie zur Ruhe zu bringen, als die Lichter wie in der Abenddämmerung gedimmt wurden. Nur der dunkle Stoff des Vorhangs wurde sanft beleuchtet, als er geräuschlos und von einer unsichtbaren Macht an die hohe Decke gezogen wurde. Die Scheinwerfer fingen an zu strahlen und tauchten den Nebel auf der Bühne in ein schauriges Licht. Doch in dieser magischen Atmosphäre stand, engelsgleich, ihre Mutter, welche sie jegliche Angst sofort vergessen ließ. Sie wollte sich nur tragen lassen, tragen von den sanften Melodien, von den lieblichen Stimmen der Spieler, ganz so, wie ihre Mutter es ihr geraten hatte. Mit geschlossenen Augen lauschte sie, verzaubert von der Magie im Saal, bis die Luft von einem lauten Knall zerrissen wurde. Schockiert sprang sie auf, nicht anders als alle anderen Anwesenden, und drehte den Kopf in die Richtung, aus der sie das furchterregende Geräusch vermutete. Ihr Begleiter jedoch, der die Ruhe in Person verkörperte, nahm sie auf den Arm, verdeckte ihre Augen und, so gut es ging, ihre Ohren, und ging mit sicheren Schritten auf den Notausgang zu. Einzig und allein er bemerkte den Anflug eines Zitterns in seinem gesamten Körper, als die Schreie der Leute immer lauter und grausamer wurden.

Einen Tag später kündigte der Sicherheitsmann und ließ das Mädchen, welches in dieser Nacht ihre Mutter verloren hatte, allein in der Obhut einer Sängerin zurück, welche gut mit der Mutter befreundet gewesen war.

Dieses Mädchen bin ich.

Schreie, direkt neben mir. Ich erwache aus meinem tranceartigen Zustand, verdränge jegliche Erinnerungen, die aufquellen, als ich das kleine Mädchen sehe, verloren, verängstigt, ahnungslos.
Ich hatte damals nicht mal den Anflug eines blassen Schimmers, was passierte, doch sie weiß es genau. Haargenau.
Und wenn ich mich nicht beeile, wird sie bald nicht nur wissen, was bei einem Anschlag passiert – Sie wird es am eigenen Leib erfahren.
In rasender Geschwindigkeit löse ich mich aus meiner Starre, auch wenn es sich falsch anfühlt, meine Glieder zu bewegen. Ich bin wie festgefroren, bis einer der Fliehenden gegen mich stößt und mich so zu Boden wirft. Wie eine unbewegliche Hülle schlägt mein Körper auf dem harten Grund auf, ohne dass ich mich abfangen kann.
Doch dann bin ich wach, hellwach, rappele mich auf und beginne zu rennen. Was gegen den Strom aus Menschen schwerer ist, als gedacht, doch das Adrenalin, welches durch meinen Körper schießt, lässt mich weiterlaufen, immer weiter.
Ich verliere das Mädchen nie aus den Augen, sehe genau, wie sich einer der Angreifer ihr von hinten nähert. Angst mischt sich zu dem Adrenalin, auch mein Verstand will jetzt nur noch eins:
Weg von hier. Doch ich will nicht, kann nicht, muss weiter. Ich kann nicht zulassen, dass sie stirbt, fühle mich schuldig für ihre Angst.
Schritt für Schritt nähere ich mich ihr, versuche, mich und meine Absicht hinter den Flüchtenden zu verbergen.
Noch bin ich nicht aufgefallen, die Leute sind blind vor Angst, noch immer fallen Schüsse und Menschen, tödlich getroffen. Sie soll nicht so enden wie die Toten auf dem Parkettboden, nicht, wenn ich es verhindern kann. Die Menschen rennen panisch an mir vorbei, die Menge hört nicht auf, in diesen Saal passen bestimmt Zehntausende, auch, wenn schon viele in diesem hoffnungslosen Kampf gefallen sind.
Einzig und allein das Mädchen hat mich im Blick. Sie sieht mich, nimmt mich wahr, Hoffnung schimmert in ihren traurigen Augen. In diesem kurzen Moment, in dem ich sie einfach anstarre, kommt sie mir so erwachsen vor, und mir wird endlich schmerzlich bewusst, an wen sie mich erinnert.

Dieses Mädchen erinnert mich an mich selbst.

Sogar ich wurde nach dem ersten Anschlag anders behandelt, erwachsener, schonungslos. Sie wird ebenfalls keine Kindheit mehr haben.
Sollte sie es überhaupt überleben.
Tief durchatmend verdränge ich alle Gedanken, wende mich wieder vollkommen dem kleinen Mädchen zu.
Ein letztes Mal nicke ich ihr ermutigend zu, dann stürze ich hastig weiter, ihr entgegen.

Und nicht nur ihr.

Auch die Angreifer rücken immer näher, doch ich drehe nicht um.

Du kannst nichts dagegen tun. Du kannst dich retten, dich und andere, wenn du dich für sie nicht in Gefahr begeben musst."
„Aber Daddy hat mich doch auch gerettet, und er hätte gar nicht erst da sein müssen. Daddy hat sich für mich in Gefahr begeben."
„Daddy ist nicht mehr da. Er hat sich einmal für dich den Haien zum Fraß vorgeworfen, und will es jetzt nie wieder tun. Jetzt ist er nicht mal mehr ein Sicherheitsmann. Er hat seinen Job als Daddy und Sicherheitskraft aufgegeben. Für dich."
„Aber ich will nicht, dass Daddy geht!"
„Er ist schon längst gegangen. Du kannst nichts mehr dagegen tun. Du kommst jetzt mit mir mit, und deswegen darfst du keine Angst haben, hörst du?"
„Und wenn ich keine Angst habe, kann ich dann Menschen retten?"
„Wenn du dein Leben für sie riskieren willst. Dir muss immer klar sein, du kannst dabei sterben."
„Aber die Sicherheitskräfte doch auch!"
„Das ist ihr Job. Du bist doch nur ein kleines, junges Mädchen."
„Ich bin schon groß!"
„Du verstehst nicht, was hier los ist. Wenn du das verstehst, komm zu mir. Dann bist du groß."

Die Stimme meiner Pflegemutter hallt in meinem Kopf, als ich mich zielsicher durch die Menge bewege. Die Erinnerung hat mir den letzten Rest meiner Angst genommen, mir ist es egal, ob ich sterben werde, solange das Mädchen überlebt.

Du verstehst nicht, was hier los ist."

Oh doch, das tue ich. Wir leben in einem Zeitalter des Kriegs, der Aufstände, der Anschläge.
Man darf sich nicht wundern, wenn man zum Opfer wird, auch wenn man sich so lange in Sicherheit gewogen hat. Das alles, das gesamte Leben, kann sich innerhalb weniger Sekunden ändern.
Die Anschläge lassen sich nicht vorhersagen wie das Wetter, man kann nur schätzen, große Plätze meiden, sich verbarrikadieren. Und selbst dann ist man nicht sicher.
Der heutige Tag beweist es. Schon morgens wurde von einem Attentat berichtet, welches in der Nacht stattgefunden hat.
Nicht mal einen Tag später, jetzt, passiert es schon wieder.
Ein Schrei drängt sich in mein Bewusstsein. Mir ist nicht klar, dass ich es war, die geschrien hat, erst, als der Schmerz sich ausbreitet, mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit von meinem Knöchel nach oben schießt, bis er in jeder winzigen Faser meines Körpers sitzt, wir es mir bewusst.
Ich knicke ein, der Schmerz raubt mir den Atem, Tränen verschleiern meine Sicht. Das Mädchen schaut mir in die Augen, während ich auf dem Boden liege, Blut quillt aus der Wunde an meinem Fuß.

Ich habe versagt.

Schon wieder. Wie damals, bei meinem ersten Anschlag, bei dem meine Mutter ums Leben kam. Ich hätte sie retten können, da bin ich mir sicher.
Und wie damals, bei meinem zweiten Anschlag...
Noch heute erinnere ich mich an das verzweifelte Gesicht des Jungen, als er im Sterben lag und seine Kleidung rot gefärbt wurde.
Ich war nur wenige Schritte entfernt, hätte mich vor ihn werfen können.

Ich bin schuld am Tod zweier Menschen.

Und nun sind es drei.
Der Schrei des Mädchens vernebelt meine Sinne.
Dann wird es schwarz.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top