Freeze You Out
Die Kälte raubte ihr die Sinne und nur mit Mühe gelang es ihr, das Atmen nicht zu vergessen. Kalte, schwere Luft formte sich zu blassen Atemwölkchen, die sie ihrer Gegenüber ins Gesicht röchelte. Deren Miene ließ sich jedoch nichts anhaben, siegessicher starrten sie die beiden Augen an. Kalte, eisblaue Augen. Nach den tausend kleinen Nadelstichen kam die Taubheit, die ihren Körper ergriff. Nur ihre Gedanken waren noch wachsam und sagten ihr, dagegenzuhalten und sich nur nicht zu ergeben. Ihre Gegenüber umfasste ihre Kehle mit beiden Händen und drückte zu, sodass sich die Kälte auf ihre Haut brannte.
Sie bekam keine Luft mehr und versuchte, die Hände auf die der Anderen zu legen, um sie von sich wegzuschieben. Kaum, dass sie schwach die Arme heben könnte, würde es ihr wohl nicht gelingen, sich aus dem festen Griff der Anderen zu winden. Sie würde sie umbringen! Das hier war ihr Ende, wenn sie sich nicht wehrte. Im nächsten Moment ließ die Andere los und trat einen Schritt zurück, während sie ihr Werk zufrieden betrachtete.
Nur langsam verließ die Kälte sie. Langsam tastete sie mit den Fingerspitzen ihre Kehle ab. Dort, wo bis eben noch die Hände der Anderen gelegen hatten, war nichts außer kalten, harten Eis. Sie wollte den Kopf drehen, aber das Eis hielt sie fest. Panik stieg in ihr auf. Wenn die Andere genug vom Anblick ihres Meisterwerkes hatte, würde sie verschwinden. Ein Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus, das genauso kalt war wie alles andere auch an ihr. Sie hatte an der Kälte Gefallen gefunden.
Damit war es so einfach, die anderen auszuschalten. Als wollte sie ihr ihre Ohnmacht vorführen, drehte sie den Kopf und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Dieser Ort gefiel ihr nicht, aber es war der richtige, um sie hier zurückzulassen, wo sie keiner finden würde. Die Eiswände würden sie lange gefangen halten. So lange konnte sie außerhalb davonmachen, was sie wollte. Die Andere war sie und sie war die Andere, da draußen würde man keinen Unterschied merken. Nur, wie es innen aussah, das machte einen Unterschied.
Sie ließ die Andere nicht aus den Augen, während diese durch den Raum schritt und ihr Werk bewunderte. Durch die hohen Fenster fiel weißes Licht. So weiß, dass sie nichts erkennen konnte, was sich außerhalb befinden mochte. Mitten durch den Raum verliefen die dicken, undurchdringbaren Wände aus Eis, die die Andere gezogen hatte, während sie noch in der Lage gewesen war, sich zu wehren. Nun stand sie trotzdem hier, vor Kälte gelähmt und musste der Anderen das Feld überlassen.
Als hätte diese den Gedanken gehört, drehte sie sich zu ihr um und lächelte sie teuflisch an. Sie verengte die Augen und erwiderte den Blick. Nicht einmal im letzten Moment würde sie ihr die Würde nehmen können. Und dann war sie weg, zwängte sich durch einen schmalen Spalt zwischen den Eiswänden. Sie hörte, wie das Eis knackte und sich der Spalt verschloss. Die Andere war durch den Kampf nicht schwächer geworden, im Gegenteil, er hatte sie gestärkt und jetzt war sie nur noch kälter. Ihre Knie gaben nach und sie konnte sich nicht mehr halten. Ein Knacken ertönte, als sie auf den Boden aufschlug.
Die Arme waren immer noch am Körper festgefroren, mehr als die Hände konnte sie nicht bewegen. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Ihr Brustkorb konnte sich unter der Eisschicht nicht bewegen, aber die Luft reichte gerade so aus, dass sie nicht das Bewusstsein verlor. Mit Mühe drehte sie sich auf den Rücken, sodass sie nach oben sah. Hoch über ihr ragten sie Eiswände auf, mit dem weißen Licht, dass durch sie hindurch fiel. Lange Zeit lag sie einfach da und betrachtete die verschiedenen Schattierungen des Blaus.
Es wäre ein Kunstwerk, wäre sie nicht darin gefangen. Sie verfiel nicht in Panik, obwohl sie wusste, was die Andere da draußen trieb. Wie gerne hätte sie sie erledigt, für all das, was sie ihr angetan hatte! Mit der Zeit war die Andere stärker geworden und dank ihrer Kälte, die sie allen und jedem entgegenbrachte, nicht aufzuhalten. Ein Tropfen rann über ihre Stirn und ließ sie zusammenzucken. Sie konzentrierte sich, bis sie sicher war, dass dort wirklich ein Tropfen über ihre Stirn rann, über die Wange kullerte und auf den Boden tropfte.
Der Aufprall dröhnte ihr in den Ohren, obwohl es doch nur ein kleiner Tropfen war. Sie zitterte. Das Eis taute! Mehr Tropfen folgten. Bald waren ihre Haare durchnässt, die Finger schrumpelten. Immer weiter zog sich das Eis zurück. Mit einem Knack löste sich ein Stück und gab ihren Hals wieder frei. Es dauerte nicht lange und sie konnte die Arme wieder bewegen. Sie strich mit den Händen immer wieder über das Eis, das ihren Körper noch bedeckte, damit es schneller taute. Bald trat die Haut rosa hervor und erst da hörte sie auf. Sie konnte sich erheben und sich aufsetzen. Noch immer etwas steif, aber immerhin nicht mehr ganz ohnmächtig, sich zu bewegen. Nicht lange danach fühlte sie sich in der Lage, aufzustehen. Wie lange war es her gewesen, dass sie sich bewegen konnte?
Die vergangene Zeit schien endlos lang gewesen zu sein. Ihre Ohren vernahmen den Klang von weiteren Tropfen. Ihre Erinnerung sagte ihr, dass es genauso klang, wenn ein Regenschauer aufkam. Das Eis taute! Von den Wänden tropfte es und bald fielen schon erste Brocken herunter. Die Kälte verschwand zunehmend. Warum passierte das? Hatte die Andere ihr nicht geschworen, dass sie hier keiner finden würde? Verlor sie an Macht? Oder hatte man sie da draußen doch noch nicht vergessen? Gab es jemanden, der die Andere durchschaute und sich nicht von ihrer Kälte abhalten ließ?
Sie lief zu den Eiswänden, zu der Stelle, an der sie sich zu erinnern vermochte, dass die Andere hier herausgeschlüpft war, als sie sie zurückließ. Noch war das Eis so dick, dass sie sich darin spiegelte, aber das Bild war verschwommen, von den vielen Tropfen, die es kreuzten. Sie zweifelte nicht mehr daran, dass es jemanden da draußen gab, der gekommen war, um sie zu holen! Freude breitete sich in ihr aus, unbändige Freude. Wie lange hatte sie schon nicht mehr fühlen können? Das Eis hatte ihren Körper verlassen, sie war wieder frei. Euphorisch vor Glück wusste sie nicht, was sie tun sollte.
Nicht einen Moment länger als nötig wollte sie warten, bis sie hier rauskam! Sie griff einen der Splitter, der von den Eiswänden abgefallen war. Noch waren ihre Arme schwach, aber sie erinnerten sich daran, dass sie vor langer Zeit einmal kräftig gewesen waren. Sie hackte auf die Eiswände ein. Zuerst fielen nur kleinste Stücken heraus, dann größere Brocken. Immer riesiger wurden die Stückchen, in die sich die Eiswand auflöste. Irgendwann ging ein Ruck durch die Wand. Ein Riss breitete sich aus, wie ein Spinnennetz.
Schnell und laut bahnte er sich seinen Weg durch die schwach gewordene Wand. Etwas sagte ihr, dass sie zurücktreten musste. Zu der Eiswand blickend, stolperte sie in die Mitte des Raums zurück und betrachtete von dort aus, wie ihr Gefängnis einstürzte. Der Riss hatte sich gespalten und die komplette Wand ergriffen. Laut polternd fiel sie in sich zusammen. Schützend hielt sie die Arme über den Kopf und merkte, wie kleine Eisstücke sie trafen. Dann war es plötzlich ruhig und sie wagte, wieder hinzusehen. Ihr Gefängnis war verschwunden. Sie hatte recht gehabt. Inmitten der Eistrümmer stand jemand.
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