Breathe Me

Der Junge auf dem Stuhl starrte auf das Quadrat. Die Fläche war nicht nur länger weiß. Langsam verfärbten sich Teile davon, wurden dunkler, bekamen Kontrast. Sie formten ein überdimensionales Gesicht. Große, grüne Augen. Schwarze Haare, zu einer perfekten Frisur geformt. Dunkelrote Lippen, aufeinandergepresst. Dunkle Lidschatten, die Wimpern eindrucksvoll. Keine Unreinheit war auf der Haut zu erkennen. Rosa Flecken auf den Wangen, die die Rundungen betonten. Das Gesicht war wunderschön.

Es starrte den Jungen einen Moment lang an, dann begann es sich zu verändern. Die Pupillen waren nicht länger schwarz. Lampions wurden darin sichtbar. Wie sie an einer Kette aufgefädelt zwischen zwei Bäumen hingen. Der Blick des Mädchens schwenkte nach unten, auf den Vorgarten eines Hauses. Windlichter schmückten den Weg zur Veranda, wo sich schon einige andere Personen versammelt hatten. Die Augen zeigten, wie sich das Mädchen auf sie zubewegte. Das Haus war groß, alle Fenster hell erleuchtet.

Als die anderen Personen sie bemerkten, freuten sie sich und umarmten das Mädchen. Sie alle trugen schöne Kleider oder feine Anzüge. Auch auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Die Mundwinkel gingen nach oben und der Junge war sich sicher, noch nie so ein schönes Lachen gesehen zu haben. Das Mädchen lief die drei Stufen nach oben, die anderen folgten ihr. Ein Junge legte den Arm um sie. Für einen Moment sahen sich die beiden glücklich an. Dann betraten sie das Haus. Zwei weitere Mädchen begrüßten sie. Sie befanden sich in einer großen Eingangshalle, in der sich schon etliche Feiernde versammelt hatten. In einer Ecke hatte der DJ sein Pult aufgebaut. Noch war die Musik leise.

Auf der anderen Seite führte eine Treppe nach oben, die in einer Galerie endete. Von der Halle aus gingen weitere Türen in andere Zimmer. Aus ihnen drang bereits Gelächter und die gute Laune breitete sich im ganzen Haus aus. Der Blick ging wieder nach oben, auf den großen, eindrucksvollen Kronleuchter, der sein warmes, glänzendes Licht ausstrahlte. Ein Junge lief mit einem Tablett voller Gläser vorbei und blieb bei den gerade Angekommenen stehen. Sie nahmen sich jeder eines der Gläser. Mit dem Jungen, der immer noch den Arm um sie gelegt hatte, stieß sie an. Dann schien sich alles im Zeitraffer abzuspielen. Die Halle füllte sich, die Musik wurde lauter. Irgendwann machte man den großen Kronleuchter aus und schaltete die Scheinwerfer an, die aus sämtlichen Ecken Licht der verschiedensten Farben auf die Menge warfen.

Eine Diskokugel ließ die Kringel, die ihr Aussehen stetig wechselten, über die Wände streifen. Unten tanzten die Gäste wild zur Musik des DJs. Sie war so laut und eindringlich, dass man sich ihr nicht entziehen konnte. Das Mädchen tanzte genau in der Mitte der Menge, die beiden Mädchen, die sie begrüßt hatten, neben ihr. Es schienen die Gastgeberrinnen zu sein. Sie konnten sich nicht unterhalten, dafür war die Musik zu laut. Es brauchte keine Worte, sie verstanden sich auch so blendend. Das Mädchen warf den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Genau über ihr hing der Kronleuchter, dessen Gläser mal rot, im nächsten Moment blau und dann gelb leuchteten. Dann sah sie wieder nach unten und plötzlich stand der Junge wieder vor ihr. Er hielt ihr die Hand hin und sie sah ihn für einen Moment nur an, bevor sie die Hand ergriff.

Die anderen Mädchen kreischten begeistert auf, als die beiden begannen, richtig zu tanzen. Sie wirbelten über das Parkett und die anderen schienen sie anzufeuern. Dann war das Lied zu Ende, er hielt sie noch in den Armen. Dann kam sein Gesicht plötzlich näher und das freudige Kreischen und Johlen der Umstehenden übertönte die Musik fast. Der Moment war viel zu schnell vorbei und die Musik lief weiter. Später standen sie mit Gläsern in der Hand in einem anderen Raum. Auf den Sofas hatten sich auch andere zurückgezogen, die für einen Moment dem Trubel in der Halle entfliehen wollten. Doch dann kamen ein paar Jungen angelaufen, die sichtlich schon zu viel Alkohol getrunken hatten.

Sie zerrten den anderen Jungen mit sich und dieser griff schnell nach ihrer Hand, damit sie ihm auch folgte. Dann tanzten sie weiter. Auf dem Gesicht verschwand das Lachen plötzlich und es nahm ernste Züge an. Das Mädchen tanzte inzwischen mit der Flasche in der Hand und musste einen Schluck ausspucken. Ihre Bewegungen waren abgehackter und kantiger, das euphorische Gefühl steigerte sich aber noch. Dann zog sie der Junge aus der Menge heraus. Sie folgte ihn am ausgestreckten Arm nach oben, hatte gerade noch Gelegenheit, die Flasche auf einen kleinen Tisch zu stellen, als sie die Treppe hochstolperte.

Das nächste, was man sah, war ein Zimmer, in dem sich anscheinend niemand aufhielt. Von draußen leuchtete eine Straßenlaterne hinein und als die Tür ins Schloss fiel, klang die Musik nur noch seltsam gedämpft zu ihnen herauf. Er öffnete den Reißverschluss an ihrem Kleid, streifte es von den Schultern, sodass es nach unten fiel. Zu spät bekam sie mit, was er von ihr wollte. Sie wehrte sich, aber sie war nicht mehr Herr über ihre Sinne und ihre Versuche, sich von ihm zu lösen, schlugen fehl. Die Augenlieder schlossen sich und als sie sie wieder öffnete, rann eine Träne aus ihren heraus, lief über die Wange.

Sie zog eine schwarze Spur hinter sich her. Mehr und mehr Tränen folgten ihr, die das perfekt gemalte Gesicht zerrinnen ließen. In ihren Augen sah man nur noch schnell aneinandergereihte Bruchstücken von den der Party. Wie sie die Decke anstarrte, während sie mit ihm auf dem Bett lag. Wie sie schließlich aus dem Zimmer kroch, das Kleid nicht richtig angezogen. Wie er wieder nach unten lief und sie einfach zurückließ. Wie sich andere an ihr vorbeiliefen und sie neugierig musterten, während sie auf dem Fußboden lag.

Mit einem Schlag war es Morgen und das Mädchen wachte auf. Das Gesicht war von schwarzen und roten Rinnsalen überzogen, unter ihren Augen zeichneten sich Ringe ab, die nicht aufgemalt waren. Die Frisur war zerzaust, die Haare standen wild ab. Die Schönheit war gegangen. In ihren Augen sah er, wie sie, immer den Blick auf den Boden gerichtet, nach unten lief. Dort lagen die Hinterlassenschaften der letzten Nacht auf dem Boden. Irgendwann fand sie sich in der Mitte der Halle wieder, unter dem Kronleuchter, wo sie getanzt hatten und wo er sie küsste.

Sie kniete in den Konfettiresten, unter die sich die Scherben eines zerbrochenen Glases gemischt hatten. Im nächsten Moment nahm sie eine der Scherben, einen Wimpernschlag später schlitzte sie sich damit die Handflächen auf. Das Blut schoss aus ihnen hervor. Aus den Augen kamen jetzt keine winzigen Tränen mehr, sondern Blutstropfen, die immer größer wurden und kurz darauf ununterbrochen strömten. Aus ihren Mundwinkeln rann das Blut, aus ihren Nasenhöhlen kam es geschossen.

All das unreine Blut. Das Mädchen schloss die Augen und augenblicklich blieb alles stehen. Aus der Fläche, aus dem Gesicht, trat das Mädchen. Sie fiel auf die Knie und blieb erschöpft am Boden liegen, während ihr eigenes, zerronnenes Gesicht auf sie niederblickte.

Der Junge stand auf und lief zu ihr. Er half dem Mädchen auf und schloss es in die Arme. Sie legte den Kopf auf seine Schulter und schlang die Arme um ihn. Er streichelte ihr sanft den Rücken. Endlich hatte sie Halt gefunden.

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