Bird Set Free
Sie stand auf, noch unsicher auf den wackligen Beinen. Einen Moment brauchte sie, damit sich ihr Gleichgewicht wieder ordnete, aber dann stand sie fest auf beiden Füßen. Es fühlte sich anders an, nicht mehr so gebrochen. Die Last war abgefallen, die sie am Boden gehalten hatten. Sie konnte aufrecht stehen, den Kopf gerade halten.
Vorher war ihr das nicht möglich gewesen. Vorher hatte sie etwas nach unten gedrückt und dort versucht, festzuhalten. Nun, wo dieses Etwas verschwunden war, konnte sie endlich frei sein. Wie war wieder sie selbst. Vorsichtig machte sie den ersten Schritt als sie selbst. Lange war es her. Noch immer etwas schwach und unsicher, schwankte sie, aber schon beim nächsten Schritt wurde es besser.
Bald setzte sie Fuß vor Fuß, ohne nach unten zu schauen, dass sie auch nicht über sich selbst stolperte. Sie stand sich von nun an nicht mehr im Wege. Wie lange wäre es noch so weitergegangen? Sie blieb vor dem Spiegel an der Wand stehen. Ja, das war wirklich sie. Mit dieser einen widerspenstigen Strähne im Gesicht, die sich einfach nicht bändigen ließ, von der sie sich aber nicht trennen wollte.
Wie hatte sie sie vermisst! Sie lächelte und seit langer Zeit fühlte es sich wieder echt an. Es stand ihr, fand sie. Das hier, was sie im Spiegel sah, mochte nicht dem entsprechen, was die anderen für schön hielten. Aber das hier war doch nicht für anderen, sagte sie sich. Das hier, das war für sie und für niemanden sonst. Es hatte die anderen nicht zu interessieren, wie sie herumlief, wenn sie sich gut dabei fühlte.
Selbstbewusst musste sie das zeigen, dann würden die anderen gleich gar nicht auf die Idee kommen, dass sie nicht den perfekten Vorstellungen entsprach. Sie drehte sich leicht hin und her und betrachtete sich im Spiegel. Sie sah sich selbst, nach so langer Zeit. Sie hatte sich wiedergefunden.
Nicht noch einmal wollte sie sich verlieren, dafür war es viel zu wertvoll als es achtlos wegzuschmeißen. Keiner war gemacht, um den anderen zu gefallen. Sie selbst störte es nicht, dass der Pickel unter dem Kinn so herausstach oder dass die eine Augenbraue etwas schiefgewachsen war. Ihr linker Mittelfinger bog sich etwas zur Seite und die Narbe an ihrem rechten Unterarm schien zu leuchten, weil sie so viel heller war als die Haut rund herum.
Das wollte sie nicht mehr verstecken, dann all diese kleinen Macken und Mängel, das war sie und sie gehörten zu ihr. Warum wurde ihr das erst jetzt bewusst? Sie sah ihr Spiegelbild an und fragte sich, was los gewesen war, dass sie sich selbst so fremd erschien. V
on nun an würde sie sich selbst nicht mehr fremd werden, schwor sie sich, wie sie sich da im Spiegel betrachtete. Sie würde zurückschlagen, laut und unerschrocken. Sollten die anderen doch mitbekommen, dass sie zu ihren Macken stand und es regelrecht aus ihr herausschrie, dass sie nicht makellos war.
Aber frei.
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