Alive

Sie schlug die Augen auf und starrte an die Decke. Der Ventilator dort oben drehte langsam seine Runden, ein paar Luftschlangen hingen an einem Flügel. Ihr Arm war eingeschlafen und kribbelte unangenehm. Für einen Moment wusste sie nicht, wo sie war. Die Decke unter ihrer Haut fühlte sich komisch an. Ruckartig setzte sie sich auf. Es war seltsam ruhig in dem Raum. Sie hatte bis eben auf dem Bett gelegen, quer, die Beine hingen auf dem Boden. Sie trug nur noch einen Schuh, der andere Fuß lag nackt auf dem Bettvorleger.

Alle anderen im Raum schliefen noch. Zwei andere Personen lagen noch in dem Bett, ein Junge schlief seltsam verrenkt auf der Truhe, die am Ende des Bettes stand. Ein anderer war sitzend am Schreibtisch eingeschlafen, sein Kopf lag nun auf der Unterlage, in einer Pfütze eines Getränkes, dessen Glas umgekippt war. Weitere Personen schliefen verteilt im Zimmer, einige übereinander, eine saß sogar auf dem Regal.

Sie kannte keine dieser Personen. Ihr Kopf fühlte sich seltsam leer an. In ihren Erinnerungen sah sie nur noch bunte Lichter, der Gedanke an den lauten Bass verursachte ihr Kopfschmerzen. Sie fasste sich an die Schläfen. Kurze Momente später ließ der Schmerz nach. Sie blieb noch auf dem Bett sitzen. Draußen ging die Sonne auf, ihre Strahlen ließen die dunkle Gewitterfront noch bedrohlicher aussehen. Die Augen schmerzten, angesichts des hellen Tageslichts. Zu lange hatten sie in Dunkelheit geblickt.

Es war nach elf Uhr morgens. So sehr sie sich auch zu erinnern versuchte, was in den letzten Stunden passiert war, wollte ihr nicht mehr einfallen. Sie streifte den anderen Schuh ab, denn sie bezweifelte, dass sie den anderen jemals wiederfinden würde. Barfuß ging sie zur Tür und trat auf den Flur hinaus. Der Teppichboden fühlte sich angenehm weich an, wenn auch an manchen Stellen rote Flecken zu sehen waren. Eine Flasche lag verloren am Rand herum. Sie betrat wahllos das Zimmer auf der anderen Seite des Flures. Es war das Badezimmer. In der Badewanne lag ein Mädchen, mit offenem Mund schlafen, die Schminke in farbigen Bächen auf ihrem Gesicht verlaufen. Sie drehte den Wasserhahn auf, das kalte Wasser machte ihren Verstand wieder klarer.

Dann sah sie in den Spiegel, sah ihr Gesicht, auf dem die Tränen zwischen all den Wassertropfen gar nicht auffielen. Langsam kam die Erinnerung wieder hoch. Die Vorfreude. Die Aufregung. Der Rausch. Der Absturz. Was sie wohl alles getan hatte, während sie nicht Herrin ihrer Sinne war? Rasch überschnitten sich die Szenen in ihrem Kopf... wie sie inmitten der Feiernden stand, sich die Seele aus dem Leib tanzend, die bunten Lichter, die im Takt flackerten, die Nebelmaschine, das Konfetti, das von der Decke auf sie nieder rieselte. Ein gelber Papierschnipsel hing noch immer in ihren Haaren.

Schnell klaubte sie ihn heraus und spülte ihn mit viel Wasser durch den Ausguss. Sie ballte die Faust und hob sie vor ihr Gesicht, versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Mit der Faust schlug sie in die andere Hand. Sie würde sich nicht unterkriegen lassen. Dann ging sie wieder zurück auf den Flur. Von unten drang leise Musik zu ihr, also lief sie zur Treppe. Schon auf der Galerie konnte man den Hauptschauplatz der Party sehen. Das Podest, auf dem der DJ gestanden hatte, in einer Ecke, davor die Tanzfläche, die sich im Laufe des Abends durch das ganze Haus ausgedehnt hatte. Luftschlangen und Konfetti bedeckten den Boden in der Mitte der Eingangshalle fast vollständig.

Die vielen Füße hatten es in alle anderen Zimmer verteilt. Langsam lief sie die Treppe nach unten, hielt sich mit einer Hand am Geländer fest. Ihre Füße wollten ihr noch nicht ganz gehorchen. Dann stand sie unten. Ihr Kopf projizierte die Partywütigen wieder auf die Tanzfläche. Der Abend war schnell eskaliert. Zerbrochene Gläser mischten sich unter das Konfetti und zeugten von der Feierlaune.

Hier hatten sie sie abgefüllt. Die Bestien. Sie sah genau ein Gesicht vor ihr. Ein schönes Gesicht, schön von all der Schminke, die man aufgetragen hatte. Ihr Gehirn ließ das Gesicht zu dem einer Bestie werden, faltig, grau und hässlich. So wie ihr wahrer Charakter. Sie ballte erneut die Faust, um die Wut zu unterdrücken. Tanzende, feiernde, trinkende Bestien. Was hatte sich in diesem Haus noch alles abgespielt? Sie lief in die Küche, wohlwissen, dass sich kleinste Glassplitter in ihre nackten Füße bohrten. In der Küche lagen Essensreste auf dem Boden verteilt, auf dem Herd war etwas übergekocht. Der Inhalt eines anderen Topfes war zu einer festen, braunen Masse verkommen, auf der sich eine Haut gebildet hatte. Die Flaschen lagen leer herum. Zwischen ihnen weitere Bestien.

Das Erbrochene war einer von ihnen in den Haaren festgetrocknet. Bevor sie sich selbst übergeben musste, lief sie zurück in die Eingangshalle. Genau in die Mitte, wo sie den ganzen Abend mit ihr gefeiert hatten. Es gab kein Zurück mehr. Was gestern passiert war, war passiert. Sie konnte es nicht mehr rückgängig machen. Dann kniete sie sich hin und nahm eine große Glasscherbe in die Hand. Der Schmutz der Dämonen sollte nicht länger an ihren Händen kleben. Langsam schlitzte sie sich mit der Scherbe erst die eine Handfläche, dann die andere auf. Das Blut floss an ihren Händen herunter, über ihren Arm, bevor es am Ellenbogen auf den Boden tropfte. Obwohl die Schmerzen alles andere betäubten und unerträglich waren, presste sie die Handflächen auf die Konfettireste.

Die Papierschlangen und die Schnipsel färbten sich rot. Ihr Blick verschleierte sich von den Tränen, die sie nun nicht mehr unterdrücken konnte. Sie hatten es ihr genommen. Schluchzend presste sie das Blut aus ihren Handflächen, bis sie sich taub anfühlten. Sie hob den Kopf und sah nach oben. Über ihr hing der schwere Kronleuchter. Warum hatte sie das getan? Es gab kein Zurück mehr. Nein. Nie mehr. Nie zurück.

Die aufgeregten Schreie von anderen Personen lenkten sie ab. Sie versuchte, herauszufinden, wo die Schreie herkamen. Aus Richtung des Wohnzimmers trugen zwei Jungen eine Person. Obwohl sie ihre um Hilfe rufenden Münder sehen konnte, hörte sie es nicht mehr. Immer dumpfer und dumpfer wurde ihre Welt. Aus anderen Ecken kamen weitere Personen angelaufen. Die beiden Jungen ließen ihren Freund nach unten. Sie knieten sich um ihn, fühlten seinen Puls und suchten nach seinem Atem.

Ihr wurde schwarz vor Augen und während sich alle um den Jungen scharrten, kippte sie nach hinten. Das Konfetti dämpfte den Aufschlag ihres Kopfes nur wenig.

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