-6- WELT AUS LÜGEN
„Diese perfekte Welt definiert sich aber nicht nur dadurch, dass sich die oberen Zehntausend von den Unteren abgrenzen und entscheiden, wer zu ihnen gehört und wer nicht, sondern auch durch andere Dinge." Sie schwieg einen Moment und ich wartete angespannt auf das, was folgen würde.
„Sie sind gefangen in ihrer perfekten Welt", sagte Philine. „Sie können dieser Welt nicht entfliehen. Immer wieder werden sie gezwungen, ihre Rolle weiterzuspielen. Es gibt keine Pausen. Sie können nicht einfach mal in Jogginghose zu Hause auf der Couch liegen und Kinderserien gucken. Sie müssen ohne Unterbrechung perfekt sein. Und das ist auf Dauer anstrengend." Dass es nicht einfach war, rund um die Uhr perfekt zu sein, war mir klar. Ich selbst könnte es auch nicht durchhalten, schon allein daher nicht, da ich nicht darin geübt war. „Aber warum nehmen sie sich dann die Auszeit nicht einfach selbst?", fragte ich. „Es ist doch jedem selbst überlassen, ob er zu Hause in der alten Jogginghose auf der Couch liegt und die Teletubbies schaut."
„Eben nicht", widersprach Philine und schüttelte den Kopf, sodass ihre Haarspitzen mitschwangen. „Wenn du das machen würdest und dich jemand dabei erwischte, würdet ihr lachen und es vielleicht bei der nächsten Gelegenheit zum Besten geben." „Beziehungsweise würden die dann mitgucken und wir würden gemeinsam Teletubbies suchten", schlug ich vor. „Nun stell dir aber mal vor, wie das wäre, wenn Eleonora sich das leisten würde", sprach Philine weiter. „Eines Tages kommt Eleonora mit Jogginghose in die Schule und trägt ein einfaches T-Shirt und Turnschuhe. Was da los wäre."
Ich versuchte mir Eleonora so vorzustellen, so wie Philine sie beschrieben hatte. Es ging einfach nicht. Zu Eleonora gehörten Kleider, Schmuck, darauf abgestimmtes Make Up und hohe Schuhe sowie der dazugehörige, unverwechselbare Klang. Nur unter großer Anstrengung klappte es, Eleonora in Jogginghose vor mir zu sehen. „Die anderen würden sie auslachen und sie wäre das Gespött der ganzen Schule", überlegte ich.
„Das ist der springende Punkt", stimmte Philine zu. „Sie kann es nicht zum Besten geben und sich mit anderen darüber lustig machen. Sie hat einen Ruf zu verlieren, den sie sich über Jahre hinweg aufgebaut hat und der auf einmal verschwinden würde. Wenn die anderen sie so sehen, verliert sie ihre Glaubwürdigkeit und keiner nähme sie mehr ernst. Dann ist all das, was sie sich in den letzten Jahren aufgebaut hat, ihr Freundeskreis, ihr Ansehen, ihre Erfolge, mit einem Mal weg. Unwiderruflich."
„Das wäre nicht sehr schön", sagte ich leise. Egal, dass es sich um Eleonora handelte, aber es war unangenehm und keiner hatte es verdient, in der Mitte einer großen Schülermenge zu stehen, die alle mit dem Zeigefinger auf einen zeigten. Nur, weil man sich einmal erlaubte, etwas zu patzen. Wenn ich verschlief, blieb manchmal auch keine Zeit, zu duschen. Dann nur eine schnelle Katzenwäsche und etwas mehr Deo und den Wecker am nächsten Morgen fünf Minuten eher gestellt. Gut, dieser Fall war bei mir bisher zwei Mal eingetreten, der letzte war drei Jahre her. In diesem Moment kamen wir auch wieder viele peinliche Ereignisse in den Sinn, die sich in den letzten Jahren ereignet hatten.
Wenn man mal etwas Unüberlegtes sagte oder sich anderweitig blamierte. Es gab ja so viele schöne Wege. Ich kniff die Augen zusammen und bekam eine Gänsehaut, wenn ich an bestimmte Momente dachte, die ich so lange verdrängt hatte. Ein paar Tage erinnerte man sich noch an sie, aber dann war inzwischen etwas Anderes passiert, was die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zog und von mir ablenkte. Dann vergaß man es selbst irgendwann. „Wenn dir etwas Peinliches passiert, lacht man ein paar Tage darüber und du musst dir vielleicht ein paar gehässige Kommentare anhören, aber dann passiert es anderen und dann bist du derjenige, der lacht. An sich nicht wirklich kameradschaftlich, aber immer noch akzeptabel", sagte Philine. „Für Eleonora wäre das der Untergang. Sie ist zu bekannt, als dass sie sich Schwächeleien erlauben dürfte. Für sie steht zu viel auf dem Spiel. Also muss sie rund um die Uhr perfekt sein."
„Das ist doch aber mehr als anstrengend", fand ich. Philine nickte. „Inzwischen ist die Gesellschaft so dermaßen geteilt... als die Einzeller noch lebten, gab es noch keine, die über andere bestimmten. Dann trat der Mensch auf den Plan und Oberhäupter waren geboren, die andere zu Sklaven machten. Dieses System hat sich bis heute verfestigt und immer weiter vertieft." „Also ist die perfekte Welt doch nur eine sehr dünne Bevölkerungsschicht in unserer Gesellschaft, die bestimmte Merkmale und Eigenschaften erfüllen und somit zu dieser Schicht zählen."
Ich war stolz auf meine Definition, genauso wie es mein Wirtschafts-Lehrer gewesen wäre, der zu jedem Thema seitenweise Definitionen diktierte, die teilweise so verschachtelt waren, dass man ihren Sinn am Ende nicht mehr verstand. „Von außen scheint es so", bemerkte Philine. „Dabei ist es ganz anders." Ich war verwirrt. Wie sollte es denn „von innen" anders aussehen? „Diese Oberschicht hat sich seit Jahrtausenden gefestigt. Einmal in sie aufgestiegen, kann man ihr nicht mehr entfliehen, es sei denn man nimmt den Verlust von allem in Kauf und dass man am Ende ganz unten ist. Für die, die sich nicht weiter dafür interessieren, mögen diese perfekten Menschen einen besonderen Teil der Gesellschaft bilden, die manchmal etwas komisch sind. Wenn man genauer hinsieht, ist es aber eine Parallelwelt. Sie existiert mitten in der normalen Welt und das hier ist der Übergang."
Ich stutzte. Was wir uns bis eben erzählt hatten, mochte ja alles gut und schön sein. Was Philine aber jetzt sage, sprengte sie Grenzen des guten Geschmacks. „Sicher, dass du das nicht mit einer Fernsehserie verwechselst?", fragte ich. „Ich wüsste nicht mit welcher", entgegnete Philine. „Sei doch ehrlich... du lügst mir hier eiskalt ins Gesicht. Es gibt doch keine Parallelwelten und dass der Übergang zwischen solchen ausgerechnet in einem Vorbereitungsraum in der Schule liegt, ist doch mehr als albern", sagte ich und lachte verbittert auf. Also machte sich Philine doch nur über mich lustig. Ich hatte es gewusst. Am liebsten wäre ich gegangen, aber etwas sagte mir, dass ich noch bleiben sollte. „Ich lüge dich nicht an", fauchte Philine und sie klang wütend. „Ich gebe mir die größte Mühe, dir das zu erklären und du behauptest einfach, ich würde dich anlügen?"
„Wenn du mir auch so einen Schwachsinn erzählst?", schrie ich und stand auf. Ich war wirklich kurz davor, sie einfach hier unten sitzen zu lassen. Sollte sie doch in ihrer Zwischenwelt schmoren, bis sie schwarz wurde. „Das ist kein Schwachsinn", schrie sie zurück und stand ebenfalls auf. „Ach, und warum nicht?", fragte ich bissig zurück. „Nenne mir einen guten Grund, warum ich dir glauben sollte!" Wir standen jetzt genau voreinander, sodass sich unsere Gesichter fast berührten. Sie sah mir fest in die Augen und ich ihr. Es fehlte nur noch, dass sie vor Wut begannen, Funken zu sprühen.
„Ria ist kurz davor, in diese Welt gesogen zu werden", presste sie hervor. „Wenn sie erst einmal in dieser Welt gefangen ist, kann sie ihr nicht mehr entfliehen. Sie wird immer wieder, jeden Tag aufs Neue, ihre Rolle spielen müssen. Man wird von ihr erwarten, dass sie ohne Ausnahmen jederzeit perfekt ist. Aber das wird sie zerstören. Die perfekte Welt fordert ihren Preis. Man verliert seine Seele und ist irgendwann nur noch ein Zahnrad in der großen Maschine des Perfektionismus. Nur darauf fokussiert, dass alles weitergeht und reibungslos läuft." Sie seufzte und wendete ihren Blick nicht ab. Ich bemühte mich, ihm standzuhalten. Es war schwierig, so eindringlich, wie sie mich ansah. „Ria wird es erst bemerken, wenn es zu spät für sie ist. Wenn sie bereits all ihre Menschlichkeit verloren hat. Dann wird sie zum Wrack, zum Opfer ihrer selbst." In ihren Pupillen sah ich das Spiegelbild meines eigenen Gesichts. Ich wendete meinen Blick nicht ab.
„Die perfekte Welt setzt sich jeden Tag zurück, sodass man jedes Mal aufs Neue entscheiden muss, ob man weiterhin mitmacht oder alles verlieren möchte. Und diese Entscheidung, diese Belastung, nichts Anderes mehr tun zu können, außer immer weiter zu machen, zerstört die Menschen. Und es wird auch Ria zerstören." Ihr Blick wurde noch fester. „Du musst auf Ria aufpassen, dass ihr dieses Schicksal erspart bleibt. Du musst Ria vor dieser Gefahr bewahren, wenn du nicht möchtest, dass sie in diesen Teufelskreis der perfekten Welt gezogen wird." Ich drehte mein Gesicht zur Seite, das bescheuerte Weiß blendete mich. Mein Kopf war schwer und ich konnte nicht richtig sehen.
„Du spinnst doch", sagte ich und schnappte meine Tasche. Ohne sie noch einmal anzusehen, lief ich zur Tür. „Du spinnst! Lügnerin!" Ich ließ die Tür ins Schloss fallen, aber meine Wut war damit nicht besänftigt. Ich hätte Philine in diesem Moment gerne alle Schimpfwörter an den Kopf geknallt, die ich kannte, so sehr ärgerte ich mich. Ich ärgerte mich über mich selbst, dass ich Philine all das erzählt hatte und sie sich am Ende nur darüber lustig gemacht hatte und mir zudem noch eine Geschichte als wahr auftischen wollte, die an den Haaren herbeigezogen war. Ich stapfte nach oben. Hinter mir bemerkte ich nichts, das darauf schließen ließ, dass Philine mir folgte.
Sollte sie doch in ihrer perfekten Welt bleiben, wenn sie dort glücklich war. Es klingelte und die erste Stunde Chemie war vorbei, ohne, dass ich anwesend war. In der Eingangshalle sah ich allerdings die anderen aus dem Kurs und mir fiel ein, dass die beiden Stunden ausgefallen waren. Ich hätte meine Zeit auch mit den anderen in der Mensa verbringen könnten oder etwas anderes Sinnvolles machen können, stattdessen hatte ich mich von einer Psychopathin anlügen lassen. Ich war so ein Idiot!
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top