-5- WELT AUS LÜGEN

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„Wie...sie ist in Gefahr? Was meinst du?", stammelte ich und begann mich langsam zufragen, warum ich nicht schon längst die Flucht ergriffen hatte. Es war schon unheimlich, in einem fensterlosen Vorbereitungsraum in der Schule zu sitzen. Wenn dann allerdings noch zwei weiße Quadrate auftauchten, zwischen denen ein Mädchen saß, das mir unangenehme Fragen stellte und das allmählich seine Glaubwürdigkeit verlor, war das mehr als unheimlich. „Dazu muss ich weiterausholen", meinte Philine und streckte sich. Mir lief ein kalter Schauer den Rücken herunter. In Krimis offenbarte der Böse immer dann seinen Plan, wenn er sein Opfer in der Falle hatte und er sich ihm sicher wägte.

Dann erzählte er, was er mit seiner Tat bezwecken wollte. Von vorne bis hinten, jedes kleinste Detail. Mir würde noch kälter, als mir bewusst wurde, dass ich mich in gerade so einer Situation befand. Zwar hatte sich Philine noch nicht als Böse enttarnt, aber so wie sie sich verhielt, stimmte definitiv etwas mit ihr nicht. Den Vorbereitungsraum konnte man auch mit der Falle vergleichen. Wer weiß, wann hier zum letzten Mal einer gewesen war. Es war anscheinend lange her, wenn hier jemand zwei gleißend weiße Quadrate installieren konnte. Welchen Zweck sie auch immer erfüllen zu vermochten.

Inzwischen hielt ich diese weißen Flächen für eine Art LED-Leinwand. So, wie man sie bei Konzerten oft vorfindet. Das ließ mich aber nur noch mehr zweifeln, was dieses ganze Theater hier unten sollte. Philine hatte immer noch nicht geantwortet und ich wurde unruhig. Wollte sie mir nur Angst machen? War Ria am Ende gar nicht in Gefahr und sie log mich nur an? Ich hatte ihr etwas erzählt, was ich sonst keinem erzählt hatte. Noch nie jemandem. Jedes Wort davon entsprach der Wahrheit. Ja, ich war in Ria verliebt und ja, ich würde alles für sie tun. Nur hatte ich das einem Mädchen erzählt, dessen Namen ich seit gefühlten zwanzig Minuten erst kannte. Ich hätte ihr nichts davon erzählen dürfen.

Wahrscheinlich machte sie sich jetzt noch eine Weile über mich lustig und dann rannte sie los, um allen anderen davon zu erzählen, wie unsterblich ich in Ria verliebt war. Am Ende machten sich alle über mich lustig, allen voran Eleonora. Worauf ich verzichten konnte. „Was soll das hier?", fragte ich, obwohl Philine noch nicht einmal auf meine letzte Frage geantwortet hatte. „Ich überlege gerade, wie ich es dir am besten erkläre", meinte Philine und klang abwesend. „Ich habe es noch nie jemandem erklärt." Wusste man als Böser nicht schon vorher, wie man seinen Plan ausschmücken und vortragen konnte, sodass sich das Opfer noch grässlicher fühlte, bevor esumgebracht wurde?

Von daher hätte ich auch seelenruhig den Raum verlassen und nie wieder in diesen Raum zurückkehren können. Ich entschied mich aber, zu bleiben. Wer weiß, warum, ich fühlte mich nicht in der Lage, aufzustehen. „Das hier ist kein normaler Raum", begann Philine zu reden und starrte auf die, von mir ausgesehen, linke Ecke des Quadrats.

„Das sehe ich", kommentierte ich trocken. „Dafür, dass du sonst am liebsten heulen würdest, dass dich ja keiner liebhat, könntest du jetzt deine Klappe halten, bis ich es dir erklärt habe", fauchte sie mich an. Ich setzte mich gerade hin und wusste vor Verlegenheit nicht, wo ich hinsehen sollte. „Das ist die Zwischenwelt", sprach sie ein paar Augenblicke ruhig weiter. „Der Übergang von der normalen Welt zur Welt der Perfekten."

„Bitte, was?", fragte ich nach und riss die Augen auf. „Du kennst sie doch...", meinte Philine, „diese Menschen, die scheinbar perfekt sind. Sie sehen allen voran gut aus, sind beliebt, haben keine finanziellen Sorgen, können etwas hervorragend, wofür andere sie bewundern. Insgesamt führen sie das Leben, was sich so viele wünschen würden. Beyoncé, Rihanna, Justin Timberlake, Leonardo DiCaprio, Lady Gaga..."

„Ich wünsche mir nicht gerade, in solchen Klamotten wie die Gaga durch die Kante rennen zu müssen", überlegte ich. „Das waren Beispiele", seufzte Philine genervt. „Mann, es ist echt schwierig, sowas zu erklären." „Rede erst mal weiter, vielleicht bringt uns das beide irgendwie voran", schlug ich vor. „Wenn du andere Beispiele hören willst... Eleonora, Seraphina, Viviana, Adelina, Dion...", sagte Philine dann wie aus der Pistolegeschossen. „Du vergleichst gerade nicht ernsthaft Eleonora mit Lady Gaga und Rihanna? Da liegen aber Welten dazwischen...", kommentierte ich trocken. „Außerdem, was soll denn das spezielle Talent sein, für das sie bewundert werden?"

„Eleonora hat reiche Eltern, trägt die schönsten Sachen", fing Philine an, aufzuzählen. „Allein, wenn sie jeden Tag anspaziert kommt, müsstest du mal genau beobachten, wie viele ihr neidisch nachblicken." „Ich kann mir die Augen auch passend zum T-Shirt anmalen", schlug ich vor. „Du sähst bekloppt damit aus, aber bei Eleonora passt es einfach", entgegnete Philine. „Außerdem ist sie nicht dumm. Sie gehört zu den Jahrgangsbesten." Ja, das musste ich zugeben, soschwer es mir fiel. Im letzten Jahr hatte ihr Notendurchschnitt ganze drei Zehntel über meinem gelegen. Sie war wirklich nicht dumm.

„Sie sieht also gutaus, ist gut in der Schule, ist sportlich, sie kann wunderbar reden", fasste Philine zusammen. „Ihre großen Reden, die sie schwingt, klingen nicht selten ziemlich gestelzt", erwiderte ich. „Aber hast du Eleonora jemals stottern gehört? Ein ‚Äh' oder ‚Ähm' kam noch nie aus ihrem Mund. Sie findet immer die richtigen Worte, egal, in welcher Situation", überzeugte mich Philine vomGegenteil. Ich ärgerte mich, dass wir in so kurzer Zeit schon so viele positive Dinge von Eleonora aufzählen konnten. „Aber ihre Art, wie sie mit anderen umgeht? Zum Beispiel mit mir oder Bennet?", fragte ich.

„Ihr lasst euch nicht auf sie ein", erklärte Philine. „Wäre ja noch schöner, wenn", schnaubte ich empört. „Ihr habt etwas gegen sie... weil sie eben alles kann. Das ist euch unheimlich. Es gibt nichts, was ihr nicht gelingt. Ausrutscher gibt es so gut wie gar nicht", meinte sie nachdenklich. Ich nickte und erinnerte mich an den Tag, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. Fünfte Klasse war das, als wir alle noch Neulinge an dieser Schule waren. Schon damals hatte sie alle anderen mit ihrem Marken-Ranzen neidisch gemacht, während einige andere noch ihre Ranzen aus Grundschulzeiten hatten, mit aufgedruckten Treckern und Pferden.

Irgendwie war sie sofort beliebt. Bei dem Vorstellungsprojekt, was die Lehrer mit uns durchgeführt haben, wollte jeder mit ihr zusammenarbeiten. Sie verteile Süßigkeiten, die ihr ihre Mutter mitgegeben hatte und spätestens da hatte sie den Großteil auf ihrer Seite. Es dauerte ein paar Jahre, bis sie überheblich wurde und begann, rum zu zicken. Süßigkeiten brachte sie schon lange keine mehr mit und wehe dem, der sich erdreistete, sie etwas wegen einer Matheaufgabe zu fragen. „Irgendwann wurde ihr es zu viel, dass sich alle mit ihr abgeben wollten", schaltete sich Philine wieder ein. Ich begann wirklich zu überlegen, ob sie Gedanken lesen konnte. „Wenn sie dich alle umringen würden, jede Pause,zu jeder Zeit mit dir Kontakt haben wollen, dann wäre dir das doch auch irgendwann zu viel, oder?"

„Sicher, irgendwann würde es nur noch nerven, wenn alle meine Freunde sein wollen", antwortete ich. „Also machst du etwas, um dich von den anderen abzuheben, damit du deine Ruhe hast", schlug Philine vor undich stimmte ihr zu. „Eleonora tat das eben auf die Art, in dem sie anderen nicht mehr half oder freundlich zu ihnen war, was dann dazu führte, dass sie überheblich und arrogant wurde. Immerhin war sie ja die, von der alle waswollten. Sie war die Große." „Und was macht Dion so besonders?", fragte ich. „Außer, dass er jeden Tag im Sakko in die Schule kommt?"

Den Kleidungsstil des Franzosen konnte ich vom ersten Tag an nicht nachvollziehen. Während alle anderen schwitzen, wenn es heiß war, hielt er eisern durch und sein zog seinSakko den ganzen Tag nicht aus. „Im Prinzip dasselbe wie bei Eleonora...Aussehen, Talente... das ganze Programm noch einmal", machte es Philine kurz. „Außerdem kommt er aus Paris, was ihn schon um einiges interessanter macht. Mal ehrlich, wer von euch ist bisher aus dieser Stadt herausgekommen? Abgesehen von Urlauben?"

„Nicht wirklich viele", antwortete ich. „Wir gehen hier ja noch zur Schule und deswegen gibt es ja nur Urlaube, wo man mal woanders hinreisenkann." „Siehst du", meinte Philine. „Dion kommt daher, wo andere gerne Urlaub machen oder machen würden. Paris, die Stadt mit dem berühmten Eiffelturm, mit den kleinen Cafès und dem Louvre, die Stadt der Liebe. Die anderen, allen voran die Mädchen natürlich, wollen mehr über ihn wissen. Sie wollen nicht dumm erscheinen, weil sie ihr Leben bisher auf einem großen Dorf gefristet haben, deswegen zeigen sie Interesse an ihm. Und wenn er dann noch seinen Charm espielen lässt, sind ihm natürlich alle verfallen." Ich wusste nicht, was ichsagen sollte.

Philine hatte durch und durch recht. „Was hat das nun mit der perfekten Welt zu tun?", fragte ich. „Das leiten wir doch schon die ganze Zeither", entgegnete sie verwundert. Herleiten klang wie eine Formel in Chemie und nicht gerade wie die Erklärung dafür, warum wir, während der Unterrichtszeit, in einem Vorbereitungsraum saßen, in dem sich zwei große, weiße Quadrate geschlichen hatten.

„Du selbst nennst sie die High Society", fuhr sie fort.„Damit grenzt du sie klar von anderen ab. Bestimmte Eigenschaften führen dazu, dass man zu einer bestimmten Gruppe von Menschen zählt. Siehe die Stände im Mittelalter oder das Kastensystem in Indien." „Manchmal sagt man ja auch, dass Menschen wie Eleonora und Dion in einer anderen Liga spielen", ergänzte ich, „dass sie in einer anderen Welt leben."

Philine lächelte. „Wir kommen der Sache doch schon näher", freute sie sich.

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