-36- SPHÄREN
Als ich unten ankam, war von den beiden nichts mehr zu sehen. Viele Menschen bahnten sich ihren Weg, überlegten noch, wo sie zuerst hingehen konnten oder ob sie jetzt schon etwas kaufen sollten. Von Philine und Ria keine Spur. Dann fiel mir der Aufenthaltsraum ein, den man für aufgabenlose Schüler eingerichtet hatte. Ich beschloss, dort nachzusehen. Es war unser beliebter Geschichtsraum, wo sich, dank seiner Abgelegenheit, kaum einer hin verirrte. Wenn, dann stellte er schnell fest, dass es dort nichts zu sehen gab, außer ein paar Schülern, die nichts zu tun hatten. Dort saßen schließlich auch Ria und Philine zwischen vielen anderen.
„Na, auch keine Aufgabe?", begrüßte mich Ria „Nö. Ihr auch nicht, oder?", erwiderte ich grinsend. „Wollen wir mal rumschauen?" „Klar", antwortete Philine und sprang auf. „Nein danke, ich bleibe lieber hier. Sind mir zu viele Menschen", erwiderte Ria. Ich war ihr nicht böse, dass sie Philine und mich alleine losziehen ließ. Inzwischen war es fast irgendwie selbstverständlich, dass wir Händchen hielten und ich mochte es, so kitschig das jetzt auch klingen mag. Also schauten wir uns in der Schule um und die Zeit verging schnell. Schließlich kehrten wir wieder in den Raum zurück.
„Es ist richtig viel los", erklärte Philine. „Das war die anderen Jahre nicht so." In meinen Augen waren es immer viele Menschen gewesen und viel ist je bekanntlich auch relativ, aber wenn Philine das sagte... Oder ich hatte es nicht mitbekommen, weil ich abgelenkt war, aus gutem Grund. „Unsere einzige Aufgabe ist es jetzt, abzuwarten, ob Eleonora gewinnt oder nicht", erklärte Ria lachend, als wir uns zu ihr setzten.
Es schien sie nicht zu stören, dass es für sie nicht einmal die Chance gegeben hatte, sich wählen zu lassen. Ich kam nicht dazu, zu antworten, denn anscheinend besaß Eleonora ein Gespür dafür, wenn jemand ihren Namen aussprach. Zumindest hatte diese Person entfernte Ähnlichkeiten mit Eleonora, oder aber sie hatte sich einer Grundsanierung unterzogen. Wann hatte sie angefangen, sich herzurichten? So, wie sie aussah, musste es Stunden gedauert haben, aber damit konnte sie uns nicht beeindrucken. Andere vielleicht schon.
„Diese Frage dürfte ja klar zu beantworten sein", verkündete sie. Es wurde augenblicklich ruhig im Raum, alle anderen unterbrachen ihre Gespräche und hörten zu. Philine verschränkte nachdenklich die Arme und sah Eleonora herausfordern an. „Was macht dich da so sicher?", fragte sie. „Ich habe mich die letzten drei Tage intensiv mit den Schülern beschäftigt", antwortete Eleonora und betrachtete ihre Fingernägel.
„Das kann man wohl sagen", schnaubte Ria belustigt, fing sich kurz darauf einen grimmigen Blick von Eleonora ein. Es war keinem entgangen, dass Eleonora in den letzten drei Tagen in den Pausen umhergewandert war, um ihre Wähler noch einmal ins Gebet zu nehmen. Ich möchte gar nicht wissen, welche Gegenleistungen sie ihnen versprochen hat, wenn man sie wählen würde. Eleonora traute ich in dieser Hinsicht inzwischen alles zu. Sie hatte ein Ziel vor Augen und dafür war sie bereit, alles zu tun, sei es auch noch so niederträchtig.
„Findest du nicht, dass du deine Wähler damit eher nervst?", zweifelte ich. „Nein, sie fanden es sogar sehr angenehm, mit mir zu reden", erwidert Eleonora. Wahrscheinlich empfanden einige auch die Aktionen angenehm, bei denen Eleonora den Mund gehalten hatte. „Was hast du denn gemacht?", wandte sie sich an Philine. Diese grinste und musterte Eleonora von oben bis unten, wie sie sich auf den Tisch gesetzt hatte. Wusste sie etwas, von dem wir nicht wussten? Auf jeden Fall verunsicherte es Eleonora, genau wie bei mir.
„Nichts. Meine Ziele und Vorstellungen haben sich nicht verändert. Wenn es den anderen gefallen hat, werden sie es sich gemerkt und sich zur Wahl daran erinnert haben", erklärte sie ihr. „Ich habe darauf verzichtet, es wie du zu machen. Sie sollen sich für mich als Person entscheiden, wenn ihnen das gefällt, was ich sage und nicht, weil ich es ihnen dreimal eingetrichtert habe, dass sie mich bitte wählen."
Ich nickte zustimmend, genau wie Ria und einige andere, die derselben Meinung wie Philine waren. Eleonora schnappte empört nach Luft. „Wir werden ja sehen, wer von uns beiden recht hat", meinte sie nur. „Ich bin auch froh, wenn ich nicht gewinne", stellte Philine klar. „Oder geht es dir nur ums Gewinnen?" „Nein, natürlich nicht!", antwortete Eleonora energisch, aber ich sah ihr an, dass sie nach den richtigen Worten suchte, um sich zu erklären, aber keine passenden fand. Da war klar, um was es ihr wirklich ging. „Für mich steht schon fest, dass ich die Schülersprecherin werde!" P
hiline beugte sich vor, mit großen Augen und belustigt schnaubend. „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?" Ria und ich wechselten einen Blick und grinsten, genau wie einige andere. „Doch!", antwortete Eleonora schnippisch und richtete sich ihre Haare. War da etwa jemand nervös? „Das mag ja sein, dass es für dich feststeht, aber was ist denn, wenn es doch nicht so kommt?", fragte ich und sah ihr in die Augen. Sie wandte den Blick ab.
„Dann... dann werde ich die Wahl anzweifeln", sagte sie und sah aus dem Fenster. „Du willst was?", fragte Ria nach. „Eleonora, komm, dass meinst du doch nicht ernst." Eleonora schwieg für einen Moment, sie schien sich zu sammeln, während sie aus dem Fenster starrte. Doch dann ruckte sie sich zusammen und wandte ihren Blick wieder uns zu. Sie schien nun so selbstsicher und ruhig wie eh und je und das gefiel mir nicht.
Ihre Stimme war laut und deutlich, ihr Blick klar und eindringlich, ihre Haltung ruhig und gelassen, als sie sagte: „Doch, das meine ich ernst. Wenn Philine die Wahl gewinnt, werde ich das Ergebnis anzweifeln." Damit schwang sie sich vom Tisch und verließ den Raum. Wir sahen ihr verwundert hin und her. Die Tür fiel ins Schloss und man hörte nur noch die Absätze ihrer Schuhe, wie sie über den Fußboden klackerten.
Wir wussten nicht, ob wir lachen oder weinen sollten, doch schließlich entschieden wir uns für lachen, obwohl uns eigentlich nicht danach zu Mute sein dürfte. „Die war aber in ganz anderen Sphären unterwegs", schlussfolgerte Ria. Dann ertönte draußen die Durchsage über den Schulfunk, dass sich bitte alle Interessierten in der Aula einfinden sollten. Das Ergebnis der Schülersprecherwahl würde in zehn Minuten verkündet. Also machten wir uns auf in die Aula.
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