-31- AN DIE SPITZE
„Findest du nicht, dass wir etwas über das Ziel hinausgeschossen sind?", fragte ich Dion, der mich jedoch nur skeptisch durch die Webcam ansah. Er reagierte nicht. „Bist du noch da?", fragte ich nach, denn in den letzten Minuten war die Verbindung nach Paris ein paar Mal unterbrochen. „Ja, alles gut, ich bin noch da", antwortete Dion. Er schien zu überlegen. „Warum denkst du denn, dass ihr über das Ziel hinaus seid?"
Nun war ich derjenige, der skeptisch guckte. „Ich habe irgendwie das Gefühl, dass wir daran schuld sind, also, dass es zu dieser Aktion gekommen ist", erklärte ich. „Schließlich haben wir es ja gewissermaßen provoziert." „Ihr seid doch nicht schuld daran", widersprach Dion. „Trotzdem", beharre ich. „Vielleicht hättest du nicht wieder zurückgehen müssen, wenn..." „Passiert ist passiert", unterbricht mich Dion. „Wir können es nicht ändern."
Schon wieder tauchte der Ladekreis in der Mitte des Bildschirms auf und das Bild darauf fror ein. Es war kurz nach Mitternacht und ich skypte mit Dion. Irgendwie kam es mir immer noch unwirklich vor, dass er von jetzt auf gleich seine Sachen gepackt hatte und zurück nach Paris gefahren war. „Wärst du noch länger hiergeblieben, wenn das nicht gewesen wäre?", fragte ich, als der Kreis verschwunden war.
Seitdem er abgereist war plagten mich Schuldgefühle. Ursprünglich hatten wir mit unserem Plan etwas ganz Anderes bezwecken wollen, aber gerade Eleonora hatte man heute in die zweite Rund gewählt, wo sich die Wähler zwischen ihr und Philine entscheiden mussten. „Natürlich. Das Schuljahr ist ja noch lange nicht um", erklärte Dion. „Ich hatte aber schon vorher mit meinen Eltern ausgemacht, dass ich jederzeit zurückkommen kann, wenn es nötig sein sollte. So schwierig ist es ja nun nicht, ein Zugticket zu buchen und ein paar Mal umzusteigen." „Deine plötzliche Abreise hat für ziemlich viel Gesprächsstoff gesorgt", sagte ich und erzählte ihm von den Siebtklässlern, die sich mit Ria angelegt hatten.
Dion lachte bitter. „Ich könnte mich ja freuen, im Mittelpunkt zu stehen, aber das tut es nicht", meinte er. „Aber das ist es doch, was sie wollten: Sensation. Und spätestens nächste Woche kommt das nächste Event." „Wir haben trotzdem noch keine Anhaltspunkte für den Täter", erinnerte ich ihn. „Gut, einen Verdacht haben wir, aber den können wir nicht äußern, weil wir dann die halbe Schule gegen uns haben." „Eleonora wird schon ihre Strafe bekommen", prophezeite Dion. „Gottes Mühlen mahlen langsam, aber gerecht."
„Wir hoffen schon seit Jahren, dass Eleonora mal richtig auf die Schnauze fliegt, aber bisher ist nichts dergleichen passiert", erwiderte ich wenig hoffnungsvoll, dass Eleonora in diesem Leben noch einmal nicht das bekam, was sie wollte. „Stattdessen haben wir nur dafür gesorgt, dass du zum Gespött der ganzen Schule wurdest." „Eigentlich war es gut", sagte Dion plötzlich und das passte gar nicht zu der negativen Grundstimmung dieser Unterhaltung. „Weißt du auch warum?"
Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe mich endlich getraut, es den Personen zu sagen, die wichtig sind. Und von siebenhundert Schülern sind das so viele, dass ich sie an einer Hand abzählen könnte. Der Rest interessiert mich nicht." „Du hast es also deinen Eltern gesagt?", fragte ich. „Wie haben sie reagiert?" „Ich musste ihnen ja erklären, warum ich plötzlich wieder vor ihrer Haustür stehe", antwortete Dion und grinste. „Also habe ich einfach das gesagt, was Tatsache ist." „Und?", fragte ich.
„Was ‚und'? Sie können mich gerne rauswerfen, aber im Endeffekt bringt es nichts", erklärte er. „Sie haben verständnisvoll reagiert, was hätten sie denn sonst machen sollen?" „Das ist doch gut", schlussfolgerte ich. „Und du gehst jetzt wieder in Paris zur Schule?" „Die haben sich ganz schön umgeguckt, als ich am nächsten Tag plötzlich bei ihnen vorbeigeschaut habe", antwortete Dion. „Das Foto hatte es übrigens noch nicht bis nach Paris geschafft. Ich hatte also genug Zeit, es ihnen persönlich zu sagen. Was sie daraus machen, ist nun ihre Sache. Die Unterstützung von meinen Freunden hier habe ich auf jeden Fall den Rest kannst du eh vergessen."
Ich freute mich für Dion, dass die Aktion doch noch gewissermaßen ein gutes Ende genommen hatte. Wenn auch alles anders verlaufen war als wir es uns erhofft hatten und ich mir immer noch nicht sicher war, dass wir mit unserem Plan nicht doch dazu beigetragen hatten. Dion betonte aber immer wieder, dass es eh so gekommen wäre, mit oder ohne unser Zutun. Schicksal hat er es genannt. „Wir bleiben dran, den Täter zu finden", versprach ich Dion. „Oder wir vernichten wenigstens die anderen Fotos, die Eleonora noch von uns hat. Angeblich will sie auch Aufnahmen von Ria und dir oder Philine und mir haben."
„Soll sie doch einen Bildband draus machen", schlug Dion vor. „Vielleicht plant sie das auch und die Aktion an der Wand war nur der erste Teil der PR-Kampagne?", fragte ich und wir beide mussten lachen. „Hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich mich mal für Werbung hergebe", meinte Dion. „Früher oder später wird Eleonora stolpern und wenn sie erst einmal im Fallen ist, hört sie auch nicht so schnell wieder auf. Das hält sie nicht ewig durch." „Bisher hat sie sich immer geschickt herausgewunden", stellte ich klar.
„Irgendwann rutscht sie auf ihrer eigenen Schleimspur aus", versicherte mir Dion. „Ihr kriegt das schon hin! Aber haltet mich bitte auf dem Laufenden." „Machen wir", versprach ich und verabschiedete mich. Ich klappte den Laptop zu und gähnte. Dass Dion sich endlich nicht mehr verstecken musste, freute mich. In diesem Sinne hatte diese Aktion sogar etwas Gutes gebracht, obwohl ich mir nach wie vor sicher war, dass wir noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht hatten.
Ob Eleonora wirklich einmal auf ihrer eigenen Schleimspur ausrutschen würde? Bisher waren unsere Versuche, dabei nachzuhelfen, er nach hinten losgegangen. Dass Dion das über die Person sagte, der er einmal wie ein Schoßhündchen hinterhergelaufen war, wunderte mich, aber wer hätte auch gedacht, dass alles so kommt?
Vielleicht wusste er dadurch mehr über sie als wir es taten. Ich hätte allerdings auch nie gedacht, dass ich mich einmal so gut mit Dion verstehen würde, obwohl für mich im ersten Moment festgestanden hatte, ihn nicht zu mögen. Was im Nachhinein betrachtet eigentlich idiotisch war, aber so hatte ich mich täuschen lassen. Fragte sich nur noch, wie lange Eleonora es schaffen würde, alle anderen zu täuschen.
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