-30- SALZ IN DIE WUNDE

Eleonora hatte ihren Willen bekommen. Auch, wenn sie versuchte, es zu unterdrücken, sah ich ihr an, dass sie sich freute, als Ria ihre Kandidatur zurückzog. Gerade rechtzeitig. Die Hofpause hatte gerade begonnen und wieder einmal versammelten sich alle Schüler in der Eingangshalle. Nur, dass es heute kein Kunstwerk an der Wand zu bestaunen gab. Der Hausmeister hatte die Wand gestern noch gestrichen, die Buchstaben waren hinter einen weißen Schicht Farbe verschwunden, die hoffentlich sehr dick war, sodass sie nie wieder ans Tageslicht traten.

Ein Geruch von frischer Farbe hing über der Bühne. Ria stand am Pult und erklärte, dass sie nicht zur Wahl antreten werde. „Ich bin mir bewusst, dass es eine große Verantwortung zu tragen gilt, wenn man sich auf dieses Amt bewirbt", erklärte sie. „In den letzten Tagen gab es einige Vorkommnisse, die mir gezeigt haben, dass ich diese Verantwortung nicht tragen kann. Ich danke allen, die mich bis hierher unterstützt haben, aber ich werde nicht zur Wahl antreten."

Sie trat zurück und stieg über die kleine Treppe von der Bühne. Nun blieben Eleonora, Philine und Bennett zurück. Philine begann zu applaudieren und viele andere stiegen ein. Unter den Applaus mischten sich aber auch Zwischenrufe, die man lieber nicht verstehen wollte. „Hast du gut gemacht", sagte ich zu ihr, als sie sich neben mich stellte. Amon und ich standen, als offizielle Unterstützer von zwei Kandidaten dort oben, neben der Bühne. Auch Seraphina, Viviana und Adelina standen hier, jedoch mit einigem Sicherheitsabstand zu uns. Zum Glück durften wir auch nur unser Kreuz setzen und mussten sie Stimmen nicht noch auszählen.

Die Wahlkommission bestand aus Schülern der Dreizehnten Klassen, die nicht abstimmten, da sie die Schule in einigen Wochen verlassen würden. Bei den drei war ich mir sicher, dass sie so lange auszählten, bis Eleonora definitiv gewonnen hatte. Allerdings war das hier nur die Vorrunde und nach ihrer euphorischen Rede hatte sie sicher genug auf ihrer Seite, damit sie in die Endrunde kam. Frau Nels trat noch einmal ans Rednerpult.

„Bevor wir nun, in der dritten Stunde, die Wahl abhalten, möchte ich, dass die drei Kandidaten noch einmal sprechen. Vielleicht gibt es noch Fragen von euren Wählern, die wir noch klären sollten. Bestimmt gibt es Fragen zu dem gestrigen Vorfall." Sie warf einen scharfen Blick in die Menge und ich war mir sicher, dass sie jeden, der sich jetzt falsch verhielt, am Kragen herausziehen würde. Ganz vorne in der Menge stand eine Schülerin aus der dreizehnten Klasse, die den Arm hob. Frau Nels übergab ihr das Wort. „Ich hätte eine Frage an euch alle", begann sie. „Der Vorfall gestern ist ja nun an keinem vorbeigegangen, die Polizei war ja sogar da. Was würdet ihr... wie würdet ihr mit den Tätern umgehen, sofern diese gefunden würden?"

Sie sah zu den dreien hinauf, die vor dem frisch gestrichenen Hintergrund standen. „Wisst ihr, was ich meine?", fragte sie. „Ich finde, solche Taten sollten nicht ungeahndet bleiben." „Wir haben verstanden, was du meinst", antwortete Bennett als erster. „Ich zumindest finde es sehr schwierig, dir darauf eine Antwort zu geben, weil ich es sehr schwierig finde, diese Tat irgendwie zu beschreiben. Das war kein dummer Streich, den man vielleicht lustig finden könnte. Es war, so schätze ich es ein, ein gezielter Anschlag auf eine bestimmte Person. Neben dieser öffentlichen Bloßstellung hätte es auch zu schweren Verletzungen kommen können." Er überlegte, wie er weitersprechen sollte.

„Diese Tat von gestern überschreitet sämtliche Grenzen und geht eindeutig zu weit. Sollten die gefunden werden, die das zu verantworten haben, was ich doch sehr hoffe, dann bin ich auf jeden Fall für eine Strafe. Nicht einfach nur ein Gespräch mit erhobenem Zeigefinger. Die Täter haben an dieser Schule nichts mehr zu suchen und das sollte ihnen klargemacht werden."

„Ich würde sogar noch weitergehen", schaltete sich Philine ein. „Ich würde diese Tat zur Anzeige bringen, sobald die Personen namentlich bekannt sind. Ich würde den Fall nicht hinter verschlossenen Türen verhandeln, wer andere demütigen und verletzen kann und zu feige ist, es zu zugeben, sollte selbst spüren, wie es sich anfühlt, vor allen anderen bloßgestellt zu sein. Wer diese Tat lustig findet und sich nicht damit zurückgehalten hat, ebenfalls gegen Dion vorzugehen, den frage ich ganz offen, wie viele Gehirnzellen dort oben noch vorhanden sind. Wir leben nicht mehr im Mittelalter. Ein paar hundert Jahre später gibt es wichtige Dinge, als jemanden dafür zu schikanieren, dass er nicht der breiten Masse entspricht. Was auf diesen Fotos gestern zu sehen war,", sie drehte sich zu der Wand, die nun so unschuldig wirkte, obwohl sich jeder daran erinnern konnte, was gestern dort gehangen hatte, „hat keinen von uns zu interessieren. Wer sich deswegen noch ekelt, der ist nicht richtig im Kopf. Ob ihr es mir nun übel nehmt oder nicht, aber ich wurde nach meiner Meinung gefragt und die habe ich hiermit kundgetan."

Einige im Publikum nickten zustimmend. Angespanntes Schweigen herrschte. „Du willst dich also auf dasselbe Niveau begeben wie die ‚Täter'?", fragte sie und setzte das letzte Wort in Anführungszeichen. Sie wartete Philines Reaktion nicht ab. Eleonora hatte sich genau überlegt, was sie sagte, das wurde mir klar, als sie mit festem Blick die Schüler vor ihr ansah. Sie antwortete nicht ehrlich, sie spulte nur ein Programm herunter, das sie sich schon lange vorher überlegt hatte. „Wenn wir die Täter ebenfalls öffentlich bloßstellen, dann sind wir nicht besser als sie. Im Gegenteil, dann wären wir noch menschenverachtender als sie. Menschen öffentlich an den Pranger zu stellen hat viele Ähnlichkeiten mit dem Mittelalter, von dem wir uns doch angeblich entfernt haben. Wir sind doch alle in der Lage, selbstständig über diese Tat nachzudenken. Brauchen wir dann noch jemanden, der uns vorschreibt, was gut und was schlecht ist? Eine Verurteilung dafür, weil es doch angeblich etwas Böses ist, brauchen wir nicht. Der Täter sollte sich selbst stellen, wenn er der Meinung ist, dass er sich zu seiner Tat bekennen kann. Denn jetzt läuft er ja Gefahr, von vielen hier niedergemacht zu werden. Es braucht seine Zeit und wir sollten ihn nicht durch die Polizei unter Druck setzen. Wir sind doch alle gebildete Menschen, irgendwann wird der Täter seinen Fehler schon erkennen. Und wenn nicht, dann ist es eben so, dann zeigt er damit, dass er doch nicht gebildet ist, aber das ist dann sein Problem. Nicht unseres."

„Du fändest also eine Strafe unangebracht?", fasste das Mädchen, das die Frage vorhin gestellt hatte, zusammen. „Genauso ist es", bestätigte Eleonora. Die Schüler fingen an , miteinander zu reden. Eleonoras Ansicht entschied sich grundsätzlich von dem, was Bennett und Philine gesagt hatten. „Sie wäre ja auch schön blöd, wenn sie sich selbst an den Pranger stellen würde", wisperte ich Ria zu. Diese schüttelte vage mit dem Kopf. „Eleonora macht sich nicht selbst die Finger schmutzig, nicht sie", erwiderte sie ebenso leise. „Lieber lässt sie es einen anderen machen, für welche Gegenleistung auch immer. Jetzt sorgt sie dafür, dass die Tat ungeklärt bleibt."

Das machte Sinn. Als ob Eleonora selbst auf eine Leiter stieg und eine Sprayflasche in die Hand nahm. Die Tat war nicht spontan durchgeführt worden, dafür war sie zu gut inszeniert. Jemand hatte sie genau geplant. „Du spinnst doch", rief ein Junge aus der Menge heraus und zustimmendes Gejohle ertönte. „Ich verbitte mir so etwas", zischte Eleonora ins Mikrofon. „Philine durfte auch ihre, doch sehr, extreme Meinung sagen und sie konnte auch ausreden." Frau Nels betrat die Bühne wieder und beschwichtigte die anderen. „Ich kann verstehen, dass die Meinungen der drei, generell von euch allen, darüber auseinandergehen. Es ist nicht einfach, für solch eine Schändung spontan die richtigen Worte zu finden."

Das Klingelzeichen unterbrach sie. In den nächsten 45 Minuten würden alle ihre Stimme abgeben. „Zum Ablauf der Wahl", wechselte nun Frau Nels das Thema und sie war sichtbar darüber erleichtert. „In den Räumen 1.2.3, 1.2.4 und 1.3.1 sind die Wahlbüros eingerichtet. Es wird Klassenweise abgestimmt, wir fangen mit den fünften Klassen an." Weiterhin erklärte sie, dass sie ein Kreuz an den Namen auf den Wahlzetteln setzen mussten. Da Ria zurückgetreten sei, könnten sie sich nur noch zwischen drei Kandidaten entscheiden, alle Zettel mit einer Stimme für Ria würden als ungültig gezählt. Ein paar Schüler aus der Dreizehnten riefen die ersten Klassen auf, ihnen zu folgen.

Da wir Elfer erst relativ zum Schluss dran waren, mussten wir warten. Bennett und Philine gesellten sich zu uns. „Klar outet sie sich nicht öffentlich als Täter", knurrte Philine. Wieder äußerte Ria ihre Vermutung und wir kamen zu dem Entschluss, dass das am Wahrscheinlichsten war. „Wir können ihr ja trotzdem mal auf den Zahn fühlen", schlug Amon vor. „Wenn die Wahl vorüber ist und sie wirklich gewonnen hat, macht sich so ein böses Gerücht über sie gut, findet ihr nicht auch?" Eleonora funkelte uns aus der Entfernung an. Hatte sie unser Gespräch mitgehört?

Nein, dafür war es in der Eingangshalle viel zu unruhig und wenn, dann konnte sie ruhig wissen, dass die Sache für uns noch nicht gegessen war. Eine Gruppe von Siebtklässlern kam zu uns. „Echt schade, dass du zurückgetreten bist", meinte ein Mädchen zu Ria. „Wir hätten dich wirklich gerne gewählt", ergänzt ein anderes. „Oder hättest du uns genauso verarscht wie Dion dich?", fragte ein Junge. Dafür, dass er anderthalb Köpfe kleiner war, riskierte er eine ziemlich dicke Lippe. „Noch dazu mit 'nem anderen Typen!"

Sie feixten und feietern sich über Witz. „Wie tief muss man für sowas eigentlich sinken?", fragte das Mädchen und es kann sich vor Lachen kaum noch halten. „Trittst du vielleicht deswegen nicht an? Traust dich wohl ohne Dion nicht mehr? Aber der ist ja mit was Anderem beschäftigt! Er konnte sein Geheimnis nicht sehr gut für sich behalten" Provozierend verschränkte sie die Arme. „Sowas Abartiges!", kommentierte ein anderer. „Stimmt, es ist wirklich abartig", gab Ria zu. Sie klang niedergeschlagen, was die Kleinen aus der Fassung brachte. Im nächsten Moment hatte Ria den einen Jungen am T-Shirt gepackt und zog ihn nach oben, sodass er auf Augenhöhe mit ihr war.

„Noch ein Wort und ich polier' dir die Fresse", drohte sie mit messerscharfer Stimme und die Augen des Jungen weiteten sich noch mehr. „Und du musst zugeben: es wäre doch ziemlich peinlich, sich von einem Mädchen die Fresse polieren zu lassen." Sie ließ ihn los. Er strauchelte und suchte schnell das Weite. Die anderen folgten ihm schockiert. „Noch jemand Interesse?", fragte Ria laut die Umstehenden, die die Szene mehr oder weniger verfolgt hatten. Sie schüttelten die Köpfe. „Nein, ist gut", wehrte ein älterer Schüler ab. „Ihr braucht mich jetzt nicht anzugucken wie ein Monster", wendete sich Ria an uns. „Das war ziemlich eindrucksvoll", meinte Philine. „Der Blick des Kleinen war auf jeden Fall göttlich."

„Sie sollen mich einfach in Ruhe lassen", bestimmte Ria. „Die kleinen Rotzlöffel geht es doch erst recht nichts an. Warum denkt nur jeder, dass er seinen Senf zu allem dazugeben muss?" „Weil jetzt Dion das Opfer ist und somit für die nächste Zeit erstmal keine Gefahr läuft, dass sie selbst zum Opfer werden?", überlegte ich. „Dann tarne ich mich doch lieber, indem ich mitmache als dass ich riskiere, selbst schikaniert zu werden."

„Feiglinge", kommentierte Amon und brachte es damit auf den Punkt. Da wurden die Elfer zum Wählen aufgerufen und wir liefen zu den Wahlräumen. Eleonora überholt Ria rechts und setzt sich demonstrativ vor sie. Seraphina, Viviana und Adelina laufen eingehakt neben ihr. Ria tippt Eleonora auf die Schulter. „Was willst du?", fragte sie genervt. „Du kannst unser Video gerne veröffentlichen", erklärte Ria. „Ich habe damit kein Problem."

„Aber, ... warum... wieso?", stotterte Eleonora. Es ist das erste Mal, dass ich sie sehe, wie sie nicht weiß, was sie sagen soll. „Nur damit du es weißt, die Rechte am eigenen Bild haben einen Wert von um die fünfzig Tausend Euro", stellte Ria klar. „Bei den vielen Fotos pro Sekunde in einem Video kommt eine ganz schöne Summe zusammen, findest du nicht?" Eleonora schnaubte und beeilte sich, dass sie von uns wegkam. Sie ließ ihre drei Freundinnen einfach stehen und läuft davon. „Was ist denn in dich gefahren?", fragte ich Ria. „Wenn sie das nun wirklich macht?"

„Sie wird es nicht machen", wusste Ria. „Sie weiß ganz genau, dass sie mich damit nicht mehr treffen kann. Außerdem wäre das Recht auf unserer Seite, aber soweit kommt es nicht." Ich bewunderte Ria für ihr Auftreten. Sie hatte Dion vorerst verloren, aber davon ließ sie sich nicht unterkriegen.

Bei Eleonora hatte sie damit einen wunden Punkt getroffen, denn nun hatte diese ungewollt etwas von ihrer Macht über sie, über uns, eingebüßt. Ria hatte wunderbar Salz in diese Wunde gestreut und ich war mir sicher, dass Eleonora, bei allem, was sie getan hatte, irgendwann noch bluten würde.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top