-3- ÜBERLEGEN UND UNTERLEGEN

Das Gefühl, dass mich jemand beobachtete, überkam mich auch in den nächsten Tagen ständig. Vor allem, wenn ich in der Schule war, spürte ich immer Blicke. Jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, war niemand da, der mich hätte beobachten können. Wenn ich auf dem Schulhof mit Amon und Bennet stand, versuchte ich jemanden zu erwischen, der auffällig oft und lange zu mir starrte. Eine Gruppe Mädchen aus der achten Klasse lachten einmal laut los und ich dachte schon, mir würde ein Zettel auf dem Rücken kleben, auf dem Stand „Tritt mich!" oder „Willig und billig".

Dann fiel mir aber auf, dass sie gar nicht über mich lachten, sondern über ein Bild, das ein Mädchen aus der Gruppe auf ihrem Handy herumzeigte. Auch in anderen Fällen erwiesen sich meine Verdächtigungen als falscher Alarm. Zu Hause fühlte ich mich überhaupt nicht beobachtet, aber jedes Mal, wenn ich die Schule betrat, schien sich ein Schalter umzulegen. Ich beschloss, mir darüber nicht allzu viele Gedanken zu machen. Psychisch angeknackst war ich nicht, wahrscheinlich lag es nur an der Umstellung vom Ferienmodus auf Schule.

Wir hatten drei Mal wie Woche bis drei Uhr nachmittags Unterricht. Das war wahrscheinlich zu viel für jemanden, der sonst gegen eins in Bett gegangen und gegen elf aufgestanden war. Irgendwann würde das Gefühl schon nachlassen, wenn ich mich an die Schule wieder gewöhnt hatte. Was ich viel schlimmer fand, dass ich mich nicht nur ständig beobachtet fühlte, sondern dass Eleonora und ihre Anhängsel ständig meinen Weg kreuzten. Soll vorkommen in einer Schule, aber das war zu viel des Guten. Wir belegten nicht sehr viele Kurse gemeinsam, von daher war es mehr als komisch, dass sie mir bei den Chemie-Laboren begegneten oder am Astronomie-Raum.

Auch Dion hatte Eleonora wohl zu ihrem persönlichen Anhängsel erklärt. Ob er wollte oder nicht, sie zerrte ihn einfach überall mit hin. Ein paar Mal hatte er versucht, Anschluss zu uns zu finden, indem er sich während der Hofpausen zu Amon, Bennet und mir stellte. Das war meistens nicht von langer Dauer, denn Eleonora kam dann angestakst und zog Dion mit sich. Alternativ verscheuchte sie uns. „Ein bisschen sehr auffällig ist das schon, oder?", fragte Bennet, als wir in der Eingangshalle saßen. Es regnete und wir versuchten, drinnen die Pause zu überbrücken. Eine der Bänke im Foyer war nicht gerade die beste Idee. „Ich weiß nicht", erwiderte ich unschlüssig.„Ist vielleicht so normal in den höheren Kreisen."

„Bin ich froh, dass wir uns nie in den höheren Kreisen bewegen werden", kommentierte Amon. „Wenn ich mir das so angucke. Dion kann einem schon leidtun." „Eine Freundin wie Eleonora wünscht man wirklich keinem", sagte ich. „Und wenn es die letzte wäre, ich würde sie nicht nehmen." „Sollte Eleonora aber entscheiden, dass du sie zu nehmen hast, dann kannst du dieser Entscheidung nicht viel entgegenbringen", widersprach Bennet. „Sie bestimmt schließlich."

Ich schüttelte den Kopf. Was man an diesen Personen nur finden konnte, wollte ich nicht verstehen. Es gab da aber noch eine Sache, die mir mehr Sorgen bereitete. Eleonora kannte ich leider schon seit der 1. Klasse. Schon damals hatte sie das Ideal der verwöhnten kleinen Göre erfüllt und war nun mehr oder weniger zum It-Girl des Jahrgangs aufgestiegen. Ihre Ausbrüche und Auftritte kannten wir, inzwischen hatten wir uns daran gewöhnt und ignorierten es, soweit es ging.

Nur ganz selten gelang es Eleonora noch, unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Mit Dion hatte sie ihr Stück Frischbeute gefunden, was jedoch nur die wenigsten interessierte, immerhin betraf es uns nicht direkt. Allerdings machte Ria mir Sorgen. Eigentlich hatte ich gehofft, dass sie viel mehr Zeit bei mir verbringen würde. Wir hatten mehrere Kurse zusammen, saßen in einigen sogar nebeneinander, aber das war es auch schon. Sie war nicht mehr die Ria, mit der man nachts am Strand entlanglaufen oder auf den Klippen sitzen konnte, während man über alles redete.

Seit Eleonora sie im Geschichtsraum von ihrem Platz verscheucht hatte, wollte sie unbedingt mehr über sie wissen. Ob sie beliebt wäre, ob ihre Eltern viel Geld hätten, ob sie Markenklamotten tragen würde, ob sie das Kleid schon einmal angehabt hätte... Solche Fragen hätte ich Ria gar nicht zugetraut. Wahrscheinlich war ich aber die falsche Person, wenn man sich über Kleider unterhalten wollte. Am nächsten Tag sah ich, wie sie Eleonora die Tasche trug. Dion hechelte wie ein Schoßhündchen hinterher. Wahrscheinlich hoffte Eleonora, wenn sie nett zu Ria war, dass sie darüber an Dion gelangen konnte.

Ria und er schienen sich wesentlich besser zu verstehen als Eleonora und er. Dion ließ ihre Redeanfälle über sich ergehen, wirkte aber nie wirklich begeistert, wenn sie ihn wieder einmal fortzog. Zwischen Ria und ihm schien die Chemie zu stimmen, was mir anderweitig aber auch nicht recht war. Ich wusste, dass das egoistisch und wenig reif war, aber ich konnte es nicht unterdrücken, dass es ärgerte, wenn Ria wieder einmal bei Dion saß und nicht bei mir. Nach wie vor trug er täglich einen Anzug und blank polierte Schuhe. Nur die Fliege wechselte jeden Tag die Farbe. Die Frisur schien betoniert zu sein, so fest saß sie jeden Tag. Von Gesichtskratern schien er auch nicht befallen zu sein.

Im Gegensatz zu einigen anderen, die in T-Shirt und kurzer Stoffhose in die Schule kamen. Bei den sommerlichen Temperaturen, die aktuell noch herrschten, wäre ich in einem Anzug umgekommen. Das musste man Dion ja lassen, er war hitzebeständig. Stand Ria auf sowas, dass sie sich kaum noch bei mir blicken ließ? Ihre Nachrichten waren auch schon kürzer geworden. An dieser Stelle fragte ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn Ria weiterhin dreihundertfünfzig Kilometer entfernt wohnen würde. Ich hegte noch Hoffnung, dass sie irgendwann das Interesse an Eleonora und ihrem Gefolge verlieren würde, wenn sie erst herausgefunden hatte, wie die vieren wirklich tickten.

Das konnte noch dauern und Geduld hatte ich in diesem Fall wenig bis gar keine. „Sieh' mal, wer da kommt!" Bennet stieß mich mit dem Ellenbogen an. Er deutete in eine Richtung und ich folgte seinem Zeichen. Eleonora, Viviana, Adelina und Seraphina, nebst Ria und Dion, verwandelten das Foyer wieder in einem Laufsteg. Natürlich zogen sie die Blicke auf sich. Sie waren eine Erscheinung, wenn sie auftraten. An ihnen kam man nicht vorbei.

Es fehlte nur noch der Scheinwerferkegel, der sich mit Eleonora mitbewegte und schließlich genau vor Amon, Bennet und mir stehenbleiben würde. „Ich habe euch etwas zu verkünden!", sagte Eleonora zu uns. Ihre Vermählung mit Dion? Hatte sie ihn rumbekommen? „Und was wäre der Grund, dass du dich herab begibst, mit uns zu sprechen?", wollte Amon wissen. „Nun...", sagte Eleonora, richtete aber den Träger ihrer Handtasche in der Armbeuge, bevor sie weitersprach.

„Bestimmt habt ihr schon von der Tradition gehört, dass jeder Elfer-Jahrgang am Beginn eines jeden Schuljahres eine Party schmeißt, oder?" Von der Tradition hatte ich gehört. Allerdings brauchte man bei diesen Partys keine Eskalationen alá „Project X" zu erwarten. Die Partys der letzten Jahre waren eher ruhig gewesen, zumindest das, was man von ihnen gehört hatte. Zwar ging die Einladung an alle Schüler und Schülerinnen unserer Schule ab der achten Klasse, aber unter die „Großen" hatten wir uns bisher nie getraut.

Die letzte große Eskalation hatte es vor vier Jahren gegeben, als eine Party dermaßen aus dem Ruder gelaufen war, dass es einen Toten gegeben hatte. In einem gemieteten Haus stieg die Party und am nächsten Morgen fuhren dort Krankenwagen, Polizei und schließlich der Leichenwagen vor. Viele hatten es mit dem Feiern übertrieben und irgendwer war auf die Idee gekommen, Hochprozentiges zu mischen. Hochprozentiges mit Hochprozentigem in hohen Massen ergibt einen tödlichen Cocktail, den dieser Junge getrunken hatte. Er war bereits in der Nacht gestorben, als die Party langsam abebbte und die meisten schlafen gingen.

Als sie im immer noch angetrunkenen Zustand bemerkt hatten, dass er nicht mehr atmete, versuchten sie zuerst ihn wiederzubeleben, doch selbst der alarmierte Notarzt konnte nicht mehr helfen. Von da an schworen sich alle Elfer, die Tradition fortzusetzen, allerdings nie wieder einen Vorfall wie diesen zu erleben. Da war sogar ein verwüstetes Haus nichtig. Das konnte man immerhin wieder aufräumen.

Der Tote auf der Party hatte für Schlagzeilen gesorgt, der Cocktailmischer wurde nie identifiziert. Wahrscheinlich waren es sogar mehrere gewesen, die, ohne von den anderen zu wissen, jeweils eigene Sachen gemixt hatten. „Du willst jetzt bestimmt darauf hinaus, dass wir diese Tradition ebenfalls fortführen", schlug Bennet vor. Eleonora nickte. „Wir wollen nicht nur die Tradition fortführen, sondern die Gelegenheit auch gleich nutzen, um zwei neue Freunde in unseren Reihen willkommen zu heißen- Ria und Dion!"

Ria lachte mir zu und lachte halbherzig zurück. „Das wird bestimmt geil", vermutete sie. „Wenn wir das organisieren, auf jeden Fall", versprach Seraphina. „Ich habe bereits mit meinem Vater gesprochen, er stellt uns eine seiner Immobilien zur Verfügung. Da können wir die Feier steigen lassen", erklärte Eleonora. „Natürlich wollen wir auch euch dabeihaben", sagte Vivana. „Damit ihr endlich mal mehr seht als Fernsehbildschirme und Fußbälle." „Ich fühle mich geehrt", gab ich zu. „Ehrlich. Dass ihr so gütig seid, uns auch zur Elfer Party einzuladen, hätte ich euch nicht zugetraut."

„Ich würde vorsichtig sein, Alessandro", warnte mich Eleonora. „Es ist mein Haus und damit entscheide ich, wer Eintritt erhält, egal ob er zu den Elfern gehört oder nicht." „Wenn wir dabei sein wollen, sollten wir also fortan nach deiner Pfeife tanzen?", fragte Bennet. Eleonora nickte und fühlte sich in diesem Moment wieder einmal wichtig. „Alles Weitere besprechen wir noch. Wir wollen es allen verkünden", erklärte Adelina. „Schön, dass ihr an uns gedacht habt", sagte Amon. Es klingelte. Eleonora musterte uns noch einmal, bevor sie von Dannen schritt. Ria war auch verschwunden, obwohl wir jetzt zusammen Englisch hatten. „Kann man die nicht irgendwie mal erschießen?", fragte Bennet. „Sie wird noch zur Plage."

„Sie ist schon eine", antwortete ich. „Eine ziemlich perfekte Plage." „Jungs, dann würde ich sagen, jetzt beginnt das Leben erst so richtig", meinte Amon. „Wir verabschieden uns hiermit von Fußbällen und Videospielen und widmen uns anderen Dingen, wichtigeren Dingen! Seid ihr dabei?" „Jawohl!", stimmte Bennet zu und gab sich mit Amon ein High Five. „Abgesehen davon, dass ich nie Videospiele gespielt habe", murmelte ich, „aber ja, ich bin dabei!"

„Endlich bekommen wir mit, wie das Leben wirklich spielt", saget Amon andächtig. „Ich kann es kaum erwarten." Ich hoffte, dass ich einen ironischen Unterton in seiner Stimme hörte und er nicht auch noch Eleonora verfallen war. Sie würde viel auf der Party zu tun haben, wenn das so weiterging.


Ich hastete den Flur entlang. Noch dreißig Sekunden, um zum Raum 2.5.1 zu kommen. Angesichts der Treppe, die vor mir lag, ein Ding der Unmöglichkeit. Ich bereitete mich schon darauf vor, dass es jetzt zum Unterricht klingelte und ich meinem Lehrer eine gute Ausrede liefern müsste, als ich gegen jemanden prallte. Ein Buch fiel mir auf den Fuß und einen Moment später lagen um mich herum nicht nur Bücher, sondern auch ein Mädchen, das ich noch nie gesehen hatte. Ihr Anblick faszinierte mich. Sie war wunderschön, selbst, wenn sie gerade gestürzt war. In diesem Moment glaubte ich, dass es um mich geschehen war. „Kannst du mir vielleicht mal aufhelfen?", fragte mich das Mädchen.

Es sprach mit mir! Im nächsten Moment schaltete sich mein Gehirn wieder ein. Eigentlich hatte ich es bei ihr schon verschissen. Sie erst umzurennen und dann auch noch anzustarren. „Äh ja... sorry, tut mir voll leid", stammelte ich. „Ach, nicht so schlimm", erwiderte sie und lächelte. Mir wurde warm ums Herz. „Kann doch mal passieren."

Bevor ich noch rot wurde oder irgendetwas Peinliches sagte, hockte ich mich lieber hin und sammelte ihr die Bücher auf. Ihr Lächeln wurde breiter, als ich ihr den Stapel wieder in die Arme drückte. Dann fielen mir meine guten Manieren wieder ein. „Oder soll ich sie für dich tragen?" „Nein, das geht schon", antwortete sie. „Ich muss woanders hin als du. Wir sehen uns bestimmt noch einmal." Sie zwinkerte mir zu. Ich sah ihr nach, wie im Korridor zwei verschwand. Dann wendete ich mich wieder der Treppe zu, die immer noch vor mir lag. Ich würde jetzt eh zu spät kommen, also konnte ich auch langsam machen. Wer war dieses Mädchen? Und warum, verdammt, war es mir noch nie aufgefallen?

An ihr schien alles perfekt zu sein. Für mich also unerreichbar. Allerdings hatte es ihr nichts ausgemacht, dass ich sie anstarrte, während sie auf dem Boden lag. Vielleicht hatte ich mir mit diesem Missgeschick doch noch nicht alles bei ihr vergeben. Ich würde ihr beweisen, dass ich kein Tollpatsch war. Oh ja...

Als ich oben angekommen war, fühlte ich mich schon wieder beobachtet. Nun konnte ich mir aber sicher sein, dass keiner da war, schließlich hatte der Unterricht vor drei Minuten begonnen und ich war der einzige, der noch nicht dort war. Während ich zum Raum lief, schweiften meine Gedanken wieder zu dem Mädchen. So etwas hatte ich noch nie erlebt wie ein paar Momente zuvor.

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