-29- ESKALATION

Dann wandte sie sich mit hängendem Kopf Dion zu. Dieser war zu Boden gesunken und hatte sich an die Wand gelehnt, den Kopf auf die Hände gestützt. Trotzdem konnte er die Tränen nicht zurückhalten. Philine, Ria und Amon standen hilflos um ihn herum. Niemand wusste, was wir sagen konnten, denn es schien alles nun unwichtig zu sein. Wahrscheinlich war uns anderen auch einfach nur zum Heulen zumute. Ich sah mir die Wand noch einmal an.

Es waren zwei oder drei Fotos, in vielfacher Ausführung. Mindestens dreißig Bilder zeigten die Szene. Ich kannte den anderen Jungen nicht, wahrscheinlich war er einer der Gäste von außerhalb gewesen. Am liebsten hätte ich die Fotos von der Wand gerissen, aber erst musste die Polizei es noch aufnehmen. Frau Nels redete ruhig auf Dion ein, aber der schüttelte nur energisch den Kopf.

Da betraten zwei Polizisten die Eingangshalle. Sie stellten sich vor und sahen den Grund ihres Kommens schon vor sich. Die nächste Stunde rauschte einfach nur an mir vorbei. Zuerst machten sie Fotos von der Wand und dann von den Überresten des Ranzens. Ich bezweifelte, dass sich damit irgendwie feststellen ließ, wer der Täter war. Es konnte jeder sein, der mit einer Sprayflasche und einem Drucker umgehen konnte und das war rheintheoretisch jeder, vorausgesetzt, er besaß die Fotos.

Damit reduzierte sich die Anzahl potentieller Täter auf vier, genauer gesagt auf eine, aber die hatte sich nicht blicken lassen und würde es auch vehement abstreiten. Dann befragten uns die Polizisten an Ort und Stelle. Ich hielt nicht damit zurück, meinen Verdacht zu äußern. Sie brauchte die Fotos ja nur verschickt zu haben und jemand anderes war auf die bescheuerte Idee gekommen. Dann waren die Polizisten fertig und Frau Nels begleitete sie nach draußen. Vorher bat sie uns noch, ob wir diese „Schandtat" beseitigen könnten.

Wir sprangen sofort auf, denn keine Sekunde länger sollte dieses Kunstwerk die Wand zieren. Bennett und ich holten eine Leiter und nahmen die Fotos ab. Ria zerriss sie am Boden in mikroskopisch kleine Teile, wie Konfetti rieselten sie zu Boden, die Amon im Staubsauger verschwinden ließ. „Wir sollten sie anzünden", überlegte sie. „Und dieses Biest gleich mit." Philine hatte einen Eimer mit Wasser und einen Lappen besorgt.

Bennett stand schließlich ganz oben auf der Leiter, die ich festhielt und versuchte, die Schrift wegzukriegen. Viel mehr als nasse Flecken brachte er jedoch nicht zustande und die Buchstaben blieben immer noch. Man würde sie überstreichen müssen, aber ohne die Fotos wirkte das „Breaking News" schon gar nicht mehr so schlimm, allerdings auch nur, wenn man die Fotos vorher nie gesehen hatte.

Das traf auf wohl alle Schüler unserer Schule zu und auch wenn wir es versucht hatten, garantiert suchten sich einige Aufnahmen gerade ihren Weg ins Internet. Es klingelte zwischendurch, wenn die Unterrichtsstunden vergingen. Es wagte sich keiner in unsere Nähe, alle machten um den Tatort einen weiten Bogen. Ria und Dion saßen die ganze Zeit über an der Seite und redeten leise miteinander. Er schien sich beruhigt zu haben.

„Es hat keinen Sinn", verkündete Bennett. Er stieg die Leiter wieder herunter und überreichte mir den Eimer. Amon versicherte sich noch einmal, dass er auch wirklich jedes Teil der Fotos erwischt hatte. „Es ist nicht so, wie es aussieht", verkündete Dion. Er war aufgestanden und versuchte nun, sich irgendwie zu erklären. Seine Stimme schien fest und ich bezweifelte, dass ich in so einer Situation so standhaft geblieben wäre. „Obwohl, eigentlich, wisst ihr..." Er suchte nach den richtigen Worten. „Es ist nicht so einfach, sich zu entscheiden. Wo einem doch schon genau vorgegeben ist, wie es zu sein hat."

„Ist das nicht egal?", fragte ich und blickte fragend in die Runde. Die anderen nickten bestätigend. Philine legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. Dion atmete schwer. „Ich habe versucht, es zu ignorieren, aber es geht einfach nicht."

„Das musst du auch nicht", bestimmte Philine. „Keiner verurteilt dich deswegen." „Keiner?", Dion lachte bitter auf. „Was waren dann die siebenhundert Schüler, die mich da gesehen haben?" Siebenhundert waren wesentlich mehr als keiner, da mussten wir ihm recht geben, auch wenn es noch so schwerfiel. „

Ich kann das nicht mehr. Ich will mich nicht mehr entscheiden müssen. Ob nun das eine oder das andere, ist doch völlig egal!" Erst jetzt bemerkte ich Ria, die immer noch abseitsstand. Alle hatten sie und Dion für das Traumpaar unserer Schule gehalten, bis eben noch. Diese Illusion war nun geplatzt. Dion drehte sich zu Ria um. „Das ändert aber nichts daran, dass ich dich..." Ria machte auf dem Absatz kehrt und rannte davon. Dion machte keine Anstalten, ihr zu folgen, sah ihr nur traurig und mit hängenden Schultern hinterher. Beschissener konnte der Tag nicht mehr werden.



Am Abend bestellte Dion uns alle zum Bahnhof. Ich ahnte, was das bedeutete, als ich mit Philine auf das Bahnhofsgebäude zulief. Sie hielt meine Hand und schien immer noch geschockt von den Ereignissen am Vormittag. Es war schon dunkel, die Läden im Gebäude hatten schon lange geschlossen. Eine Verkäuferin wischte die Theke der Bäckerei aus und widmete den Personen, die sich draußen auf dem Bahngleis zwei versammelten, keine Beachtung. Nach und nach versammelten wir uns um die Bank, auf der Dion saß. Eine Reisetasche und einen Koffer neben sich stehend.

Eine Weile standen wir alle, Ria, Philine, Amon, Bennett und ich, da und schwiegen uns an. Die Durchsage, dass der Zug zur nächstgrößeren Stadt sich um fünf Minuten verspätete, durchbrach die Stille. „Du willst wirklich bis Paris mit dem Zug fahren?", fragte Amon, damit schließlich irgendwer etwas sagte. Dion lachte und zuckte mit den Schultern. „Zwölf Stunden, drei Mal umsteigen", erklärte er. „Das Ticket ist gebucht. Wenn alles klappt, bin ich morgen Mittag wieder zu Hause."

„Wissen deine Eltern denn, warum du dein Auslandsjahr abbrichst?", fragte Philine nach. „Klar wissen sie davon", antwortete Dion. „Ich habe es ihnen erzählt und ihnen gesagt, dass ich hier nicht mehr länger bleiben möchte. Hier ist es doch eh vorbei für mich." Ria kämpfte mit den Tränen und schniefte leise. „Es gibt ein paar Personen in Paris, die es wissen. Ihnen kann ich vertrauen", erklärte er. „Genauso wie ich weiß, dass ich euch vertrauen kann. Aber ich möchte nicht länger hierbleiben, wenn Menschen wie Eleonora frei durch die Gegend laufen und alle gegen einen einzelnen aufhetzen können. Sie werden es doch eh nicht verstehen."

Er seufzte. „Wenn ich in Paris bin, hoffe ich, dass es bis dahin noch nicht die Runde gemacht hat. Es können ruhig alle erfahren, aber dann erfahren sie es von mir und nicht von irgendeinem Arschloch, das sich meint, mit dieser Aktion aufspielen zu können." „Wir sorgen dafür, dass der Täter gefunden wird und seine Strafe bekommt", bemerkte Amon. „An der Meinung über mich werden die meisten doch eh nichts ändern", erwiderte Dion trocken. „Genauso wenig werde ich mich deswegen ändern. Es ist so und wer nicht damit zurechtkommt, hat Pech."

Er stand auf. „Ich hätte mich gerne anders von euch verabschiedet. Vor allem aus einem anderen Anlass. Wir hatten zwar nicht den besten Start, aber ich hoffe, dass wir in Kontakt bleiben. Ich bin froh, dass ich Freunde wie euch finden konnte." Er verabschiedete sich der Reihe nach von jedem. Schließlich blieb er bei Ria stehen, die inzwischen hemmungslos flennte. Mit zitternden Fingern zog sie einen Ring von ihrem Finger. Sie wollte ihn Dion zurückgeben, aber der nahm ihre Hand und brachte den Ring wieder an seine richtige Stelle.

„Ich habe ihn dir aus gutem Grund geschenkt", erklärte er. „Das wird so bleiben." Er beugte sich vor und sie küssten sich. Die Zeit schien in diesem Moment stillzustehen. Ich hörte das Rattern des herannahenden Zuges. Ria und Dion lösten sich voneinander. Ria hatte aufgehört zu flennen. Nun lächelte sie Dion durch ihr tränenverquollenes Gesicht an. Der Zug hielt mit quietschenden Bremsen. Dion schnappte sein Gepäck und stieg ein.

„Wir sehen uns wieder!", versprach er. Dann schlossen sich die Türen und Dion trat zurück. Der Zug setzte sich langsam wieder in Bewegung. Wir hätten ihm bis ans Ende des Bahnsteiges nachrennen können, aber wir wussten, dass dieser Abschied nicht für immer war. Wahrscheinlich, weil Dion es so festgelegt hatte. Und seine Worte hatten an diesem Tag eine ganz andere Bedeutung gekommen. Wir sahen den Lichtern des Zuges nach, bis sie die Dunkelheit verschluckt hatte.

Dann standen wir wieder schweigend herum. Auf der Anzeigetafel stand für heute kein weiterer Zug. Schließlich liefen wir durch die Unterführung zurück zum Bahnhofsgebäude, in dem inzwischen alles Licht erloschen war. „Ich werde morgen die Kandidatur zurückziehen", verkündete Ria. Niemand erwiderte etwas darauf, geschweige denn, dass wir sie davon abhalten wollten. Wir konnten den Menschen und seine Entscheidungen nicht ändern, was uns heute bewiesen worden war. Schade, dass die meisten Dion wohl ganz anders in Erinnerung behalten würden. Dion, der sich entschieden hatte, sich nicht entscheiden zu müssen. Entgegen aller gesellschaftlichen Erwartungen von ihm, perfekt zu sein.

Nur hatten das noch nicht alle verstanden

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