-21- NEID UND ANERKENNUNG
Achtlos warf ich das Prospekt in den Korb, wo schon so viele andere Werbeprospekte gelandet waren. Zwei Mal die Woche stopfte der Postbote einen dicken Packen Werbung in unseren Briefkasten. Discounter, Baumärkte, Drogerien, Modeketten, eben jeder, der versuchte, sein Produkt irgendwie zu vermarkten. Mir war ein kleines Heftchen in die Hände gefallen, von irgendeinem, mir jedoch völlig unbekannten, Modelabel.
Auf der Frontseite waren zwei Frauen abgebildet. Die eine trug ein kurzes, buntes Kleid und sah aus wie ein Papagei, die andere trug ein langes weißes, das damit beworben wurde, die Farbe ändern zu können. Wenn man darüberstrich, sollte der Stoff entweder violett, türkis oder grau schimmern. Mich erinnerten diese Kleider nur weiter an Eleonora und damit auch an Ria. Ganz sicher würde erstere bei nächster Gelegenheit ein solches Kleid auftragen, damit jeder sehen konnte, dass sie in der Lage war, sich exklusive neue angesagte Mode zu leisten. Das einzige, was sie sich nicht kaufen konnte, war die nachträgliche Bearbeitung ihres Gesichts, der man die Models im Heft unterzogen hatte.
Sie waren fast gar nicht mehr zu erkennen und wenn es nach mir ginge, hätte Eleonora in diesem Fall einen schwarzen Balken bekommen, zur Sicherheit aller. „Ich habe mich gemeldet, um heute Abend beim Elternabend zu helfen", erklärte ich meinen Eltern, die mit mir am Frühstückstisch saßen. „Was wollt ihr denn da machen? Ich dachte, es sei ein Elternabend?", fragte mein Vater interessiert.
„Wir kümmern uns um die kulinarische Versorgung mit Schnittchen und Getränken", erklärte ich. „Amon und Bennett machen auch mit." „Ist diese Philine auch da, von der du so schwärmst?", wollte meine Mutter wissen. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, aber vermutlich stieg mir die Röte bereits ins Gesicht. „Sie wird auch da sein", antwortete ich kurzangebunden.
„Schade, dass wir nicht zu diesem Elternabend gehen", meinte meine Mutter. „Ich hätte diese Philine gerne einmal kennengelernt." „Du kannst sie gerne einmal mit herbringen", mischte sich mein Vater wieder ein. „Sie wird sich ja wohl nicht verstecken müssen, dass du sie uns nicht zeigst?"
„Nein, ja, mache ich", stammelte ich und stand auf. Mit den Worten „Ich muss los!" entzog ich mich diesem Gespräch und ließ meine Eltern grinsend in der Küche zurück. Mein einziges Glück war, dass der Elternabend für die Unter- und Mittelstufe veranstaltet wurde und meine Eltern somit nicht antreten mussten. Es war Donnerstag und damit war die Woche so gut wie gelaufen. Alle anstrengenden Fächer wie Sport, Geschichte und Mathe lagen bereits hinter uns und mit Deutsch und Ethik waren die Donnerstage bisher immer entspannt gewesen.
Als ich den Raum 1.6.5 jedoch betrat, schlug mir eine Stimmung entgegen, die keineswegs entspannt schien. „Ich werde ja heute Abend auch mit helfen", verkündete Eleonora großspurig. Sie gab vor, sich nur mit Seraphina, Viviana und Adelina zu unterhalten, durchdrang aber mit ihrer glockenklaren Stimme den ganzen Raum. „Was ist daran jetzt besonders?", erwiderte Ria zwei Reihen dahinter, die nun von ihrem Handy aufsah.
Eleonoras Augen wurden schmal. „Helfen ist nun mal keine Selbstverständlichkeit. Ich handle allerdings schon immer nach dem Motto: Man hilft, wo man kann!", erklärte sie. „Bei einem Elternabend Schnittchen zu verteilen ist allerdings keine große Kunst", meinte Ria abgeklärt. Was war denn in dieses Mädchen gefahren? Sie legte sich gerade vor allen mit dem wohl beliebtesten Star der Schule an. Ich bezog meinen Platz neben Ria, wie wir nun schon ein halbes Jahr saßen.
„Wir müssen ja vorsichtig sein, dass sich nicht jemand an einem deiner Fingernägel verschluckt", mischte ich mich ein. Wo wir gerade schon einmal dabei waren, Stimmung zu machen, wollte ich Ria unterstützen. Die anderen Gespräche verstummten, es wollte schließlich keiner eine drohende Sensation verpassen. „Ich würde mir drei Mal überlegen, ob ich aus deinen Pfoten etwas zu Essen annehme", säuselte Eleonora. „Hygiene ist in dieser Hinsicht ganz wichtig."
„Seine Fingernägel sind in diesem Fall aber wesentlich kürzer als deine", erwiderte Ria. Ich nahm mein Buch und meinen Hefter aus der Tasche, als wäre das Gespräch nur ganz beiläufig nebenher. „Schön ist trotzdem etwas Anderes", meinte Viviana, die sich natürlich Eleonora verpflichtet fühlte.
„Ihr kommt gerade ganz gewaltig vom Thema ab", erklärte ich. „Seit wann hat Aussehen etwas mit Schnittchen zu tun?" „Seit jemand damit angefangen hat, sich damit aufspielen zu wollen", antwortete Eleonora und grinste in Rias Richtung. „Glaub ja nicht, dass du dich damit beliebt machen und einschleimen kannst, wenn du heute Abend auch aufschlägst und groß helfen willst."
„Du kannst es mir nicht verbieten. Außerdem wolltest du doch so gerne etwas mit mir unternehmen, wie schon so oft", erklärte Ria. „Ich wäre vorsichtig", sagte Eleonora gefährlich. Ria spannte sich an. „Leg dich nicht mit mir an. Du setzt ziemlich viel aufs Spiel." Ria war zu perplex, um etwas zu erwidern und keiner hatte mehr Gelegenheit, sich einzumischen, da unser Lehrer den Raum betrat. Wir bekamen einen Test zurück. Interpretation epischer Texte, ziemlich viel Theorie zum Auswendiglernen. Merkmale, Stilmittel, Bedeutungen, was eben alles so dazugehörte.
Ich hatte zwar gelernt, aber nicht damit gerechnet, dass meine Note im oberen Bereich liegen würde. Vierzehn Punkte waren sehr gut dafür, dass ich nicht gerne auswendig lernte. Eleonoras Test musste er besonders hervorheben, denn „durch ihre zusätzlichen Bemerkungen und ihr Fachwissen über Dinge, die wir nicht im Unterricht besprochen haben, müsste ich ihr eigentlich sechzehn Punkte geben."
Zu Rias Arbeit sagte er auch etwas. „Es hat immer etwas gefehlt, aber diese vielen Kleinigkeiten summieren sich leider", kommentierte er ihre zehn Punkte. Ria verzog das Gesicht, sie ärgerte sich anscheinend über die Note. Eleonora drehte sich um und lächelte süffisant. „Hättest du mal nicht so viel Zeit mit Dion verbracht, wäre es garantiert besser geworden", meinte sie und einige aus dem Kurs grinsten.
„Sie muss sich wenigstens kein Fachwissen aneignen, um ihre Zeit totzuschlagen", rutschte mir heraus. „Sagt das Schoßhündchen", erwiderte Adelina und lächelte ebenfalls süffisant. „Du würdest doch gerne einmal mitmachen." Damit grinsten nun alle und ich hielt für den Rest des Tages meine Klappe.
„Ich freue mich schon so auf heute Abend", erklärte Philine in der Pause. Wir standen zusammen mit Amon, Bennett und Ria auf dem Schulhof. Sie hüpfte wie ein kleines Kind auf und ab. Uns allen war nicht zu Freude zu Mute, nachdem Eleonora nach der ausführlichen Besprechung des Tests auch noch ihr zusätzliches Fachwissen vortragen durfte. Das hatte die beiden Stunden alles andere als entspannt gemacht.
„Warum bist du denn so wild darauf, Schnittchen zu verteilen?", fragte ich. Die Dinger gingen mir ziemlich auf die Nerven, obwohl sie ja eigentlich nichts dafürkonnten. „Ich rede doch nicht von Schnittchen", erwiderte Philine freundlich. „Ich konnte Frau Nels überzeugen, mein Nachhilfeprojekt öffentlich zu machen." „Dein... Nachhilfeprojekt?", fragte Amon nach. „Woher kennt man das?"
Ich erinnerte mich an den Nachmittag, als ich hier in der Schule nach Philine gesucht hatte und sie mir erklärte, dass sie noch einigen Schülern Nachhilfe gab. „Ich gebe einigen Sechst- und Siebtklässlern seit Beginn des Schuljahres Nachhilfe", antwortete Philine. „In allen Fächern, in denen sie Probleme haben. Meistens sind es Mathe, Englisch oder die Naturwissenschaften. Angefangen hat es mit zwei Schülern, inzwischen ist unsere Gruppe auf sieben angewachsen und weil die Nachfrage aber sehr groß ist, hat Frau Nels mit dem Schulleiter abgesprochen, dass das Projekt unter meiner Führung ausgeweitet wird, damit noch mehr Schüler die Nachhilfe nutzen können."
Frau Nels würde heute Abend den Elternabend leiten, da der Schulleiter zurzeit erkrankt und nur in wichtigen Angelegenheiten telefonisch erreichbar war. Dass er sich Zeit für Philines Nachhilfeprojekt genommen hatte, zeigte, dass es nicht unbedeutend für unsere Schule war. „Dann wirst du ja heute Abend vor sämtlichen Eltern erwähnt", schlussfolgerte Bennett. „Da weiß ich aber, wen das nicht freuen wird."
„Das ist ja das Geile daran!", freute sich Philine. „Heute steht mal nicht Eleonora im Mittelpunkt." „Und du bist wirklich sicher, dass du dein Nachhilfeprojekt dazu benutzen kannst, ihr eins auszuwischen?", zweifelte Ria. „Ihr wollt ihr eins auswischen?", fragte Amon nach. „Warum weiß ich noch nichts davon?"
„Ich nutze es doch nicht aus. Eleonora predigt doch selbst immer, dass man helfen soll, wo es nur möglich ist", erklärte Philine. „Das Projekt liegt mir wirklich sehr am Herzen und ich mache es gerne. Deswegen freut es mich auch, dass es nun ausgeweitet werden soll. Dass Eleonora damit mal nicht im Rampenlicht steht, ist eigentlich ein ungewollter Nebeneffekt." „Der aber durchaus von Vorteil ist", überlegte Bennett. „Was glaubt ihr, wie die sich heute ranschmeißen wird, die Eltern zu beeindrucken. Und für was?"
„Für nichts!", beendete ich seinen Satz und grinste. Ich stellte mir schon richtig schön ihr Gesicht vor, wenn sie sich umsonst so viel Mühe machte. „Das kann was werden", meinte Ria nur. Die Aussage mit Dion hatte ihr doch mehr zugesetzt, als ihr lieb war. Dieser hatte bisher allerdings noch gar nichts davon mitbekommen, weil er einen gesonderten Deutschkurs besuchte, da er ja aus dem Ausland kam.
„Das wird auch was", versprach ihr Philine. „Wir können es ja filmen, da kannst du es dir später angucken", schlug Amon vor. Ria zuckte nur mit den Schultern. „Wenn ihr meint..." „Jetzt mach mir bitte nicht meine ganze gute Laune kaputt", bat Philine. „Wir werden schon dafür sorgen, dass Elenora einen Dämpfer kriegt. Heute ist das nur der Anfang." Das ist nur der Anfang. Das hatte sie schon einmal gesagt und ich wusste, was daraus geworden war.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top