-19- DIE EIGENEN WAFFEN
Ich war mir unsicher, ob Philine von meinem Traum wusste. Entweder sie konnte Gedanken lesen, was unwahrscheinlich war oder ich benahm mich wie ein Ausgebrochener aus der Anstalt, was mir plausibler erschien. Inzwischen war ich mir nicht einmal mehr sicher, dass das nicht der einzige Traum gewesen war. Mich beschlich das Gefühl, dass vieles nur meiner Fantasie entsprungen war, was ich bisher für die Realität gehalten hatte. Was mich noch unsicherer werden ließ, denn ich hatte ja bisher so getan als wäre alles echt. Genauso echt die Eleonoras Fingernägel...
„Du siehst wirklich aus als hättest du die ganze Nacht wachgelegen", stellte Philine. „Du siehst dezent scheiße aus!" Ich nickte und nippte an meiner Cola, in der Hoffnung, die Müdigkeit damit etwas vertreiben zu können. Die Motivation heute Morgen hatte sich auf dem Weg zur Küche, auf dem unzählige Kartons von Ria standen, schon wieder verabschiedet und ich musste in Geschichte deutlich mit mir kämpfen, nicht einzuschlafen. „Ich habe geschlafen", erklärte ich. „Scheint aber nicht viel gebracht zu haben."
„Wenn das da oben nicht geschlafen hat, kannst du's vergessen", stimmte Philine zu und deutete auf ihren Kopf. Machte sie sich etwa Sorgen um mich? Nachdem ich mich am Wochenende von ihr verabschiedet hatte, war ich mir ziemlich sicher gewesen, dass sie nun nicht mehr gut auf mich zu sprechen war. Ich zuckte mit den Schultern. Mein Gehirn war ja die ganze Nacht damit beschäftigt gewesen, als Kino zu fungieren und mir lebendig werdende Wachsfiguren vorzugaukeln.
Der Traum ließ sich einfach nicht aus meinen Gedanken verscheuchen. Zumal er sehr real war und zudem auch nicht gerade inhaltslos war, angefangen dabei, dass ich zuerst dachte, dass Philine tot sei. Eleonora und ihr Gefolge liefen an uns vorbei, eingeschlossen Ria und Dion, der wie ein kleiner Schoßhund hinter ihnen herdackelte. „Manchmal stelle ich mir vor, wie sie wohl früher aussahen", meinte Philine und stützte den Kopf nachdenklich auf die Hände. Wir saßen auf einer der Bänke in der Eingangshalle und hatten sämtliche Schüler im Blick, deren Weg durch das Foyer führte.
„Wie früher?", fragte ich begriffsstutzig. Die Cola war inzwischen leer. Ich stopfte die Flasche in den Ranzen, den Pfand konnte ich eben nicht einfach wegschmeißen. „Früher halt... bevor sie so perfekt waren", erklärte Philine. „Es wird doch keiner so geboren." Ich warf ihr einen Blick zu, aber sie starrte auf den marmorierten Fußboden. „Sicherlich waren sie früher anders drauf", vermutete ich, der ja schon Bilder gesehen hatte, wie sie „früher" ausgesehen hatten. Ob ich diesen Bildern trauen konnte, war unklar, aber ich fand es durchaus logisch, dass auch Dion früher T-Shirt und Jeans getragen hatte.
„Denen geht's vielleicht wie mir", murmelte Philine. Jetzt drehte sie den Kopf und sah wieder mich an. „Du meinst, wie vor der Party?", fragte ich unsicher. Es war noch nicht lange her, dass ich sie im Arm gehalten und sie mir die gesamte Geschichte erzählt hatte, vermutlich zum ersten Mal. Philine nickte gefasst. „Irgendwas muss es ausgelöst haben", erklärte sie. „So wie damals bei mir, dass ich eben dazugehören wollte, um jeden Preis. Ich wollte eine von denen sein, zu denen alle aufschauen." „Bei ihnen wird es vermutlich genau dasselbe sein", wagte ich zu behaupten. „Sonst könnte ich mir Eleonoras Geltungsdrang nicht erklären." Philine legte den Kopf schief und überlegte.
„Ob sie sich daran erinnern, wie ihr Leben früher aussah?", wollte sie wissen. Den Wachsfiguren nach zu urteilen, erinnerten sie sich nicht. „Vielleicht verdrängen sie es, weil sie sich jetzt viel wohler in ihrer Haut fühlen", antwortete ich ausweichend. „An die unschönen Dinge will man sich doch nur ungern erinnern." „Du kannst mir doch aber nicht erzählen, dass sich keiner an seine Kindheit erinnern will", erwiderte Philine. Dann hielt sie inne. Ihr kam Ria in den Sinn, die mit all den Kisten alles gespendet hatte, was die letzten sechzehn Jahre ihres Lebens ausmachten. „Gut, es gibt doch Menschen, die es übertreiben sich einfach nicht erinnern wollen."
„Fehlen nur noch ein neuer Name und eine neue Haarfarbe", ergänzte ich und grinste, aber Philine war anscheinend nicht zum Lachen zumute. „Wie bescheuert muss man sein, um alles zu spenden?", fragte sie. „Ich krieg das nach wie vor nicht in meinen Kopf rein, dass man das alles so einfach wegwerfen kann."
„Wenn ich damit aber Aufmerksamkeit von der breiten Masse und die Anerkennung bestimmter Personen erreiche?", widersprach ich. „Meine Mutter möchte doch einen Zeitungsartikel aufsetzen, sobald sie sämtliche Spenden gesichtet und gelistet hat, was durchaus noch dauern könnte." Jetzt war es Philine, die grinste, allerdings vor Fassungslosigkeit. „Dass Ria sich diese Kante gibt, um Eleonora zu gefallen, hätte ich ihr nicht zugetraut", sagte sie und schüttelte den Kopf, dass ihre Haare leicht hin und herschwangen. Ich zog eine Augenbraue nach oben. Ich kannte da noch jemanden, der alles tat, um jemandem zu gefallen.
„Ja, ich habe verstanden", meinte Philine und seufzte, „aber ich war damals achte Klasse, das ist gefühlt Ewigkeiten her." „Damals, als es noch schwarzweiß-Fernsehen gab", neckte ich sie. Philine boxte mich in den Oberarm. „Idiot", sagte sie und versuchte Ernst zu bleiben. Schließlich mussten wir beide lachen. Sie blickte dann wieder auf den Fußboden. Am Montag glänzte der Marmor noch schön, dass man sich daran spiegeln konnte, bevor bis Freitag unzählige Füße darüber trampelten. „Ich kann irgendwie nicht glauben, dass es noch mehr Menschen gibt, die genauso wie ich handeln. Im Nachhinein könnte ich mich dafür ohrfeigen, dass ich so dumm war. Mehr als ohrfeigen. Es können doch nicht alle Menschen so dumm sein."
„Ist vermutlich ein Fehler in der DNA", sagte ich. „Dummheit wird demnach ziemlich dominant vererbt, oder?" „Allem Anschein nach, ja", gab Philine zu. „Wie die wohl reagieren würden, wenn man sie mit ihren eigenen Waffen schlägt?" „Wie willst du denn Eleonora mit ihren eigenen Waffen schlagen?", zweifelte ich. „Als Gesamtkunstwerk ist Eleonora ziemlich schwer nachzumachen." „Ich will sie ja nicht nachmachen, dann wäre ich ja eine schlechte Kopie von ihr", erwiderte Philine und schüttelte sich. „Danke, aber das habe ich durch. Ich lege keinen Wert darauf, es nochmal zu machen."
„Wie meinst du es dann?", wollte ich wissen. Verfolgte Philine etwa schon wieder einen Plan? „Wenn Eleonora jetzt auf jemanden trifft, der genauso perfekt ist wie sie, aber noch etwas perfekter", begann Philine zu erklären. „Also jemand, der in direkter Konkurrenz zu ihr stehen könnte, der ihr oftmals die Show stiehlt und sie in den Schatten rückt." „Wenn Perfekt auf Perfekt trifft, dann wird es nicht schlechter, sondern nur noch perfekter. Plus mal Plus ist immer noch Plus", erwiderte ich.
„Siehst du?", fragte mich Philine. „Du verstehst es." „Ich habe am Wochenende ziemlich viel verstehen müssen, aber hier steige ich aktuell noch nicht durch", entschuldigte ich mich, obwohl ich das Gefühl bekam, die Cola begann etwas zu wirken. Ich hätte ja auch Kaffee trinken können, aber ich mochte halt keinen Kaffee. Pech für ihn und später munter werden für mich. „Eleonora würde doch alles versuchen, um die Gunst des Publikums, das man ihr gestohlen hat, zurückzuholen", erzählte Philine. „Wenn Eleonora erneut im Rampenlicht steht, zieht die andere Person nach, das ganze schaukelt sich immer wieder hoch."
„Ist dann da oben nicht auch eine Grenze erreicht?", schlug ich vor. „Irgendwann wird die Luft da oben ziemlich dünn und reicht nur noch für einen." „Du glaubst doch wohl aber nicht, dass Eleonora sich die Luft weg atmen lässt? Nein, nicht Eleonora", erwiderte Philine. „Die wird dafür sorgen, dass sie die Luft da oben bekommt und niemand anderes. Oder es geht vorher alles krachen, weil sie sich zu viel vornehmen. Das fände ich sogar wahrscheinlicher."
„Wie jemand, der immer und überall Ausreden parat hat und sich dann irgendwann darin verstrickt?", fragte ich. „Genauso. Bald kommen sie nicht mehr damit zurecht, sich immer weiter steigern zu wollen", stellte sie klar. Sie sah mir in die Augen. „Wäre interessant, das mal auszuprobieren." Ich wusste nicht, was ich von ihrer Entschlossenheit halten sollte. „Wie willst du das denn anstellen, wenn ich fragen darf?" Philine warf ihre Haare nach hinten und schmiss sich in Pose, so gut das im Sitzen ging. Den Kopf gerade und die Schultern nach unten, eine Hand in die Hüfte gelegt.
„Das ist nicht dein Ernst, oder?", versicherte ich mich, dass Philine nicht das vorhatte, was ich dachte. Sollte dem doch so sein, schrillten bereits alle Alarmglocken. „Es gibt immer Mittel und Wege", stellte sie klar. „Man muss sie nur nutzen." „Und wie genau willst du jetzt Eleonora die Show stehlen?", wollte ich wissen. Philine hatte sich da einen ziemlich verrückten Plan in den Kopf gesetzt.
Es war ja nicht so, dass sie damit schon Erfahrungen hatte, was es hieß, perfekt sein zu wollen. Ich traute es ihr trotzdem noch zu, es mit Eleonora aufzunehmen, sie stellte sie und ihr Gefolge eh in den Schatten, allein so, wie sie jetzt neben mir saß, selbst in dieser albernen Pose. Trotzdem war mir die Sache nicht geheuer. „Fehlt also nur noch ein Einlass, bei dem du Eleonora in den Schatten stellst", sagte ich schließlich. Daran würde es möglicherweise scheitern und dieser Einlass war nicht unwichtig für den Plan, den sich Philine da so schön zurechtgelegt hatte. Ihr Grinsen verunsichert mich aber.
Sie wusste definitiv mehr als ich. „Es gibt immer Mittel und Wege", wiederholte sie sich, „und in dieser Hinsicht stehen uns unendlich viele zur Verfügung. Wäre doch gelacht, wenn Eleonora nicht mit ihren eigenen Waffen zu schlagen ist." „Ich lasse mich dann mal überraschen?", vermutete ich und Philine nickte bestätigend. Es klingelte und die Pause war zu Ende. Eine sehr erfolgreiche Pause.
Ich hatte meine Müdigkeit überwunden, ein ziemlich verrücktes Gespräch mit Philine geführt und am Ende hatten wir einen noch verrückteren Plan gefunden. Da beschloss ich, gespannt zu sein, was der Tag noch so bringen würde.
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