-18- ILLUSION
Das Stück unter meinem Fingernagel war Wachs, wie bei einer Kerze. Ich fuhr mit dem Zeigefinger über das Blut auf ihrem linken Arm und ließ eine lange Linie zurück. Die Wachsreste rieselten zu Boden. Dass diese Philine nicht echt war, beruhigte mich aber keineswegs. Diese Wachsfigur sollte eindeutig eine Leiche sein. Warum sah sie aus wie Philine? Wenn das wirklich alles Requisiten für die Theater-AG waren, dann hatten sie eindeutig einen schlechten Geschmack. Das hier ging zu weit! Ich rappelte mich hoch und lief zur Tür.
„Alessandro, warte!", rief eine Stimme und ich blieb abrupt stehen. „Wer spricht da?", fragte ich und bemühte mich, meiner Stimme einen festen Klang zu verleihen. Wer auch immer mir hier auflauern mochte, er sollte nicht denken, dass er mich einschüchtern konnte. „Wir sind's doch nur! Erkennst du uns denn nicht?", fragte eine andere Stimme. Bildete ich mir das nur ein oder hatte Dions Figur gerade den Mund bewegt? „Bleib bitte hier", bat mich Rias Figur und dieses Mal war ich mir sicher, dass sie sich bewegt hatte. Auch die anderen Figuren fielen aus ihrer Starre und zeigten Regung.
„Wir wollen dir doch nichts Böses!", stellte Ria klar und lachte. Dass die Figuren redeten und sich bewegten, machte die Sache erst recht nicht besser. Auch Philine regte sich und stand sogar auf. Sie wirkte etwas unsicher auf den Beinen, blieb aber stehen. „Was... was ist das hier?", fragte ich. Wenn die Figuren schon einmal redeten, konnten sie mir die Sache auch gleich erklären. „Nenn es wie du willst", meinte Seraphina. „Wir nennen es die Zwischenwelt." S
chlagartig überzog eine Gänsehaut meinen ganzen Körper. Die Zwischenwelt! „Sie hat dir davon erzählt", stellte Philine klar, die sich auf mich zubewegte. Ich umklammerte den Türgriff fest, jederzeit bereit, ihn herunterzudrücken und zu flüchten, wenn es nötig sein sollte. „Ich dachte, das wären Requisiten für die Theater-AG", sagte ich und musste nun auch lachen. Allerdings nicht vor Freude, eher wegen der ganzen absurden Situation. Ich hatte lange darüber nachgedacht, wie Philine das mit ihrer Zwischenwelt gemeint haben konnte und jetzt war ich auf einmal mittendrin.
„Spielen wir nicht alle nur unsere Rollen?", fragte Adelina. „Was meinst du damit?", erwiderte ich die Frage. „Sieh' uns doch nur an", erklärte Viviana. „Wir sind hier gefangen und nur schlechte Abbilder unserer selbst. Also das, was von ihnen übrig ist." „Ihr seid aus Wachs", stellte ich klar. Philine fuhr sich mit der Hand über die Stelle, wo ich sie eben berührt hatte, in der festen Überzeugung, sie sei tot.
„Nicht ganz", meinte Philine. „Keiner weiß, woraus wir sind, weil uns keiner sonst zu sehen bekommt." „Warum sehe ich euch dann?", fragte ich. „Weil du etwas verstanden hast", antwortete Ria freundlich, als würde sie ein kleines Hündchen loben. Da waren wir also wieder beim Verstehen des Etwas, was keiner so recht zu verschreiben vermochte. „Früher waren wir alle mal eins, aber heute sind wir gefangen, jeder von uns einzeln", sagte das kleine Mädchen. „Warum... warum ist sie noch so jung?", fragte ich. „Wir sind alle nicht so, wie du uns jeden Tag siehst", stellte Dion klar.
Ich betrachtete ihn genauer. Seine Haare waren länger und nicht ganz so streng frisiert wie sonst. Auch Ria, Viviana, Seraphina und Adelina sahen anders aus. Selbst Philine wirkte wie eine Achtklässlerin. Mir dämmerte etwas. „So sahen wir zu dem Zeitpunkt aus, an dem sich ein Teil unseres Ichs dazu entschied, perfekt zu sein", erklärte Philine. „Der Teil, der das nicht wollte, blieb in seiner ursprünglichen Hülle zurück."
„Da draußen geistern nur unsere perfekten Abbilder herum", ergänzte Seraphina. „Die eigentlichen Menschen sind hier", sagte Klein-Eleonora und zeigte auf sich selbst, auf ihr Herz. „Dort sind nur Hüllen." „Warum geht ihr dann nicht einfach nach draußen und holt sie euch zurück?", fragte ich. Ob die Frage dumm und unangebracht war, wusste ich nicht. Ich stellte sie einfach.
„Wir können die Zwischenwelt nicht verlassen", erklärte Viviana. „Wir können weder in unser altes Leben zurück noch in unser jetziges. Wir stecken hier fest, während unsere perfekten Abbilder da draußen das Leben leben." „Wenn wir sie uns jetzt zurückholen, dann bricht alles zusammen", sagte Klein-Eleonora duster. Die Schmetterlings-Haarspange und ihr rosa Pony-T-Shirt passten nicht zu den Worten, die das kleine Mädchen sagte.
„Sobald wir hinausgehen und uns so zeigen, wie wir eigentlich sind, machen wir auch uns kaputt. Die perfekten Hüllen würden zerbrechen und die perfekte Illusion, die die anderen von uns haben, wäre dahin. Unser Leben wäre vorbei und das nur, weil wir wir selbst sein wollen", erzählte Ria. Ich erinnerte mich an das, was mir Philine schon einmal so ähnlich berichtet hatte. „Was ist dann mit dir?", wandte ich mich an die Philine-Figur. „Warum bist du hier?" „Die Philine da draußen, die du kennengelernt hast, hat rechtezeitig begriffen, dass sie tief in ihrem Inneren nicht perfekt sein möchte. Sie hat sich dagegen gewehrt, aber einen hohen Preis gezahlt", antwortete die Figur und hob ihre Handflächen nach oben, die von Blut getränkt waren.
Mir kam wieder das ins Gedächtnis, was mir Philine gestern Nachmittag erzählt hatte. Die Party vor vier Jahren. „Seitdem hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, zu verhindern, dass es anderen auch so ergeht", redete die Figur weiter. „Hat ja nicht ganz geklappt", meinte ich mit einem Seitenblick auf Ria und Dion. „Du irrst", widersprach die Philine-Figur. „Dion hat sich schon vor zwei Jahren entschieden, so zu sein, wie du ihn jetzt siehst", ergänzte die Dion-Figur.
„Ria kämpft auch schon lange um ihr perfektes Ich, das schon seit langer Zeit die Oberhand gewinnen will", erzählte Rias Figur. „Jetzt hat sie den Kampf verloren, weil sie andere Perfekte gefunden hat, die sie darin bestärken."
„Wir kamen alle an den Punkt, wo wir uns gefragt haben, wie wir unser Leben gestalten wollen", erklärte Philine. „Entweder mit der breiten Masse mitschwimmen und vielleicht nicht alles erreichen oder so sein wir nur wenige andere und es in vielerlei Hinsicht leichter haben." „Da begannen die perfekten Abbilder in uns zu keimen und irgendwann wurden sie zu mächtig", sagte Klein-Eleonora. „Philine kommt immer wieder hierher, weil sie hier in Ruhe nachdenken kann", erklärte die Philine-Figur weiter. „Sie hat die Verbindung zu ihrem wahren Ich nicht verloren. Es kostet sie viel Kraft, daran festzuhalten, aber wegen all der Ereignisse auf der Party, weiß sie, was sie niemals sein will."
In der Zwischenwelt herrschte Schweigen. „Ich weiß nicht, wie lange es Philine noch aushält und ob es überhaupt noch Chancen gibt, dass wir irgendwann wieder zurückkehren können", brach Ria schließlich die Stille. „Deswegen hat sie dich gesucht." „Wieso ausgerechnet mich?", wollte ich wissen. „Weil du dich nicht von den Perfekten blenden lässt. Du machst dir weder etwas aus Eleonora oder ihren Freundinnen, noch warst du sonderlich beeindruckt von Dion", antwortete Philines Figur. „Ihr müsst unseren perfekten Abbildern helfen, zurückzufinden", bat Seraphina flehend. „Bitte!"
Wussten die Figuren auch davon, welches Versprechen ich Philine gegeben hatte? „Ich habe Philine versprochen, dass wir jedem beweisen, dass es so etwas wie ‚perfekt' nicht gibt", stellte ich klar. „Ich habe noch keine Ahnung, wie das funktionieren soll, aber wir werden euch helfen." „Unsere Abbilder werden immer grausamer", mahnte Rias Figur. „So wie sie sich benimmt, hätte es die echte Ria nie gemacht. Das solltest du wissen." Sie lächelte mir zu und spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Worauf genau spielte sie an? „Es hängt viel davon ab", sagte Klein-Eleonora. „Je länger unsere perfekten Abbilder dort draußen herumwandeln, desto schwächer werden wir und desto schwerer wird es, uns wieder zu dem zu machen, was wir eigentlich sind." Sie seufzte schwer. „Menschen."
„Dann sorgen wir dafür, dass ihr wieder zu Menschen werdet", bestimmte ich und erst einige Augenblicke später wurde mir klar, was ich genau gesagt hatte. Ein schrilles Piepen unterbrach die Stille. „Was ist das?", fragte ich alarmiert. „Was ist was?", erwiderte Dion verdutzt. „Hört ihr das nicht?", fragte ich und sah mich um, woher der Ton kam. Er wurde lauter. Ich drehte mich zur Tür und sah plötzlich der grünen Anzeige meines Weckers entgegen. Blinzelnd betrachtete ich ihn, bevor ich danach griff und ihn ausschaltete.
Ich drehte mich auf die andere Seite und atmete tief ein und aus, um ruhiger zu werden. Das war nur ein Traum gewesen! Erleichtert seufzte ich. Die Situation da unten war immer seltsamer und grotesker geworden. Was wollte mir mein Unterbewusstsein damit sagen? Ich glaubte sonst nicht daran, dass Träume wahr werden konnten oder dass man ihnen überhaupt eine Bedeutung zuschreiben sollte. Wer weiß, was davon in den letzten Wochen noch alles geträumt war! In diesem Fall wusste ich, dass es eine Botschaft gewesen war, die ich unbedingt ernstnehmen musste. Ich schlug die Decke zurück und stand auf. Wichtige Aufgaben warteten schließlich auf mich!
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