-17- ILLUSION
Ichwusste nicht genau, was es war, aber ich hatte es verstanden. Seit gesternNachmittag hatte sich Philine nicht mehr bei mir gemeldet, meine Nachricht warbis jetzt unbeantwortet geblieben. Ob sie mir immer noch böse war? Verübelnkonnte ich es ihr nicht. Warum war ich nicht schon viel eher dahintergekommen,was es bedeutete? Das Ganze war verdammt unglücklich verlaufen. Ich weiß nicht,wie lange Philine und ich noch in ihrem Zimmer saßen und keiner von uns einWort sagte.
Wir waren einfach da, füreinander. Dann kam ihre Mutter nach Hauseund Philine erklärte ihr, dass wir für ein Schulprojekt zusammenarbeitenwürden. Die Geschichte kaufte sie uns nicht ab, das konnte ich klar an ihremvielsagenden Grinsen erkennen. Sie fragte nicht nach, welches Projekt es dennsein sollte, umgekehrt erfuhr aber auch ich nicht davon. Schließlich wurde ichgefragt, ob ich noch zum Essen bleiben wollte. Philine entschied die Sache miteinem eindringlichen Blick in meine Richtung.
So wurde es gegen acht, als ichnach Hause kam. Meine Eltern fragten nicht nach, warum es so lange gedauerthatte, den Weg zu erledigen. Sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, denInhalt von Rias Kartons zu sichten und zu dokumentieren. Ich wollte nichtsehen, wie viel Ria von ihrem alten Ich fortgab, aber ich war mir ziemlichsicher, dass es sich um so gut wie alles handelte. Mein Vater fand die Ideegut, einen kleinen Artikel an die Lokalzeitung zu schicken, um sich für diegroßzügigen Spenden zu bedanken.
Fehlte nur noch die große Gala mit rotemTeppich. So oder so ähnlich würde es dann in der Schule sein, wenn viele denArtikel gelesen hatten und Ria ihre Bewunderung zutrugen. Sollte es halt sosein. Ich beschloss, Philine zu suchen. So unwahrscheinlich es war, lief ich zudem Vorbereitungsraum. Erst auf der Treppe fiel mir auf, dass es verdächtigruhig war. Zu ruhig! Wir hatten seit zehn Minuten Schulschluss, aber es konntendoch nicht wirklich alle schon nach Hause gegangen sein? Vielleicht hatten siees heute aber auch alle eilig. Im Keller war es noch ruhiger, fast schongespenstisch still.
Die Tür des Vorbereitungsraums war nicht abgeschlossen.Vorsichtig trat ich ein und erschrak. Die weißen Quadrate waren immer noch da.Hell und blendend wie eh und je, aber es waren Personen im Raum. Ria stand da,Dion, Viviana. Dahinter Seraphina und nicht weit von ihr Adelina. Sie sahenmich alle an, aber keiner sagte ein Wort. Stocksteif standen sie da miteiserner Miene. Ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken herunter. Hierstimmte etwas nicht. Sollte ich wieder gehen und so tun als wäre ich gar nichtdort gewesen?
Dann fiel mir auf, dass Dion keinen Anzug trug. In dem blauenT-Shirt mit schwarzem Aufdruck des Labels, der verwaschenen Jeans und denbeigen Turnschuhen sah er ungewohnt aus. Ich kannte ihn nur als Anzug- undSchlipsträger. Aber es war unverkennbar Dion. Viviana, Seraphina und Adelinatrugen ebenfalls nicht ihre extravaganten Kleider. Ria sah aus wie an dem Tag,an dem ich sie kennengelernt hatte. Dann fiel mir ein kleines Mädchen auf, dassetwas abseits von den anderen stand. Wie alt mochte es sein?
Langsam setzte icheinen Fuß vor den anderen und schritt durch den Raum. Sie rührten sich immernoch nicht. Das Mädchen sah aus, als wäre es noch in der Grundschule. DerRanzen war viel zu groß für ihren kleinen Rücken. In ihren Haaren heftete eineSpange mit einem bunten Schmetterling darauf. Der Pullover, den es trug, warrosa mit einem Pony vornedrauf. Genauso so, wie viele Mädchen eben in ihrerGrundschulzeit herumliefen. Dann wurde mir schlagartig klar, dass diesesMädchen Eleonora war.
Etliche Jahre jünger, aber unverkennbar Eleonora. DieGesichtszüge sahen sich viel zu ähnlich als dass sie es nicht sein konnte.Klein-Eleonora blickte allerdings genauso starr und lautlos vor sich hin. Ichhatte noch keinen von ihnen auch nur blinzeln sehen. Was, zur Hölle, taten siehier? Mir wurde immer unheimlicher. Irgendetwas sagte mir, dass ich gehensollte. Dann fiel mir auf, dass in der Ecke eine Person lag. Ich hastete zu ihrund kniete mich vor sie. Mir blieb die Luft weg, als ich sah, dass diese PersonPhiline war.
Ihre Hände waren blutüberströmt. Ich versuchte, ihren Puls zufühlen. Als meine Hand ihre Haut berührte, zog ich sie angewidert zurück.Panisch versuchte ich mir einzureden, dass das nicht sein konnte. Aber ichfühlte keinen Puls. Ihre Augen blickten leblos ins Leere, der Glanz aus ihnenverschwunden. Das Blut war schon angetrocknet und hatte auf der Haut eineKruste gebildet. Mir stiegen Tränen in die Augen und ich konnte sie nichtaufhalten. Mein Atem bebte. Eine Strähne ihres schwarzen Haars war ihr insGesicht gerutscht.
Vorsichtig strich ich sie zurück, berührte dabei ihr Gesichtund hielt inne. Noch einmal, nur etwas fester, strich ich über ihr Gesicht.Ihre Haut war starr und gab nicht nach, wenn ich sie berührte. Meine Händefinden an zu zittern. Was, verdammt, war das hier? Nicht nur das Blut warangetrocknet, Philines ganzer Körper war erstarrt. Wie lange lag sie schonhier? Ich wischte mir die Tränen aus denAugen, die langsam meine Sicht verschleierten.
Dann sah ich den Fingerabdruck,den ich in ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Die feinen Rillen warengenauestens zu sehen. Misstrauisch strich ich mit dem Finger noch einmaldarüber und kratze mit dem Fingernagel über die Stelle. Ein Stück ihrer Hautlöste sich und verklemmte sich unter meinem Fingernagel.
Die Stelle in PhilinesGesicht sah noch seltsamer aus. Ich betrachtete den Hautfetzen genauer, abermeine Sicht wurde schon wieder trüb. Dann wurde mir aber klar, dass es keineHaut war.
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