-16- NICHT AUFZUHALTEN

„Du warst dort?", fragte ich atemlos. Philine nickte bestimmt. „Ich war in der achten Klasse und habe mich wahnsinnig gefreut, dass ich eine der wenigen war, die die großen Elfer eingeladen hatten. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich geschminkt und ein schönes Kleid getragen habe. Ich wollte dazugehören und genau wie die Elfer sein, zu denen wir alle aufblickten. Und das ist das Ergebnis davon."

Sie zeigte mir ihre Handflächen. Über beide zog sich jeweils ein großes, vernarbtes Kreuz. Ich erinnerte mich daran, wie ich sie auf der Party schon einmal bemerkte, aber in dem Moment nicht weiter darüber nachgedacht hatte. „Was... was ist mit dir... passiert?", fragte ich. Auf dem Drehstuhl fühlte ich mich seltsam klein und unbedeutend. Ich setzte mich gerade hin. Nervosität machte sich in mir breit. Philines Gesicht wurde eisern, ihre Augen funkelten bedrohlich als sie mich ansah.

„Wir waren dort und freuten uns, ein Teil der Party sein zu dürfen. Aber schnell wurde uns klar, dass man uns nur dazu geholt hatte, um die Großen zu bedienen. Wir haben von den ersten Stunden der Party kaum etwas mitbekommen. Ich erinnere mich noch daran, wie ich ständig leere Gläser einsammeln und in der Küche abwaschen musste, damit meine Freundin sie wieder befüllen und verteilen konnte. Die Großen verlangten immer wieder, dass sie dies und das in die Drinks mischte.

Wir selbst hatten noch keine Ahnung von dem Zeug, weil wir uns noch nie getraut hatten, es zu trinken. Aber sie freuten sich jedes Mal, wenn sie ihnen ein neues Glas brachte. Irgendwann wurde uns bewusst, dass wir so von der Party nichts erleben würden und dass sie uns nur eingeladen hatten, um selbst keine Arbeit zu haben. Also hatte meine Freundin die Idee, die nächste Mischung etwas stärker zu machen. Von allem etwas, von dem braunen da, von dem roten Zeug und von dieser grünen Flüssigkeit etwas. Ich sagte ihr, dass sie das nicht machen sollte.

Also probierten wir erst einen winzigen Schluck von dem braunen Zeug. Dann von dem roten und dann von dem grünen. So schlecht schmeckte es gar nicht, also hielt sie weiter an ihrer Idee fest, die Mischung stärker zu machen. Dann würden sie nicht so schnell wieder eine neue brauchen, erklärte sie und wir hätten endlich etwas Zeit, uns auf der Party umzusehen. Wir ließen die Gläser mit der Mischung in der Küche stehen und mischten uns unter die anderen. Ich fühlte mich komisch, als könnte ich nicht mehr geradeaus laufen, aber ich redete mir ein, dass das auf so einer Party dazugehört. Und ich wollte dazugehören. Unbedingt.

Plötzlich verlor ich meine Freundin zwischen den anderen und im nächsten Moment zog mich ein Junge fort. Er suchte noch jemanden zum Tanzen, verkündete er und ich wurde gar nicht darüber fertig, dass mich der Junge, für den meine Freundin und ich heimlich schwärmten, mich zum Tanzen einlud. Ich hatte mich noch nie so gut gefühlt und in dem Moment dachte ich, dass ich dazu gehöre und dass ich allen anderen Achtklässlern etwas voraushatte. Immerhin konnte ich schon mitreden, was das Feiern anging. Irgendwann zog er mich fort, die Treppe nach oben."

Ich bekam eine Gänsehaut, weil ich wusste, was folgen würde und weil ich sah, wie Philine davon redete, ohne irgendwelche Emotionen zu zeigen. „Ich ließ ihn machen, weil ich dachte, es muss so sein. Es tat nicht einmal weh. Erst, als er sich wieder anzog und verschwand, wurde mir bewusst, was gerade geschehen war. Ich zog zitternd mein Kleid wieder an und tapste in ein anderes Zimmer. Ich kam mir vor wie ein Geist.

Ich blickte durch alle hindurch. Ich hörte die Musik nicht mehr und sah nur noch die anderen, die da in dem Zimmer rumsaßen und ein Spiel spielten. In dem Moment hatte ich Gesellschaft und ich verdrängte es. Erst am nächsten Morgen, als ich in dem Zimmer aufwachte, wurde mir bewusst, was geschehen war. Was man mit mir gemacht hatte. Ich fürchtete mich vor mir selbst. Ich ekelte mich und ich wollte nicht mehr ich sein, so dreckig wie ich mich fühlte. Die anderen schliefen alle noch und ich lief durch das Haus, wollte einfach nur noch, dass das dreckige Gefühl aufhörte und dass ich wieder ich selbst war.

Die Scherben, die da mitten auf der Tanzfläche unter dem Kronleuchter lagen, schienen geeignet dafür zu sein, das dreckige Gefühl auszuwaschen. Also reinigte ich damit meine Hände, mit denen ich am Abend vorher so vieles getan hatte, das ich aber dennoch nicht verstand. Und da trugen sie ihn rein, den, der schon nicht mehr am Leben war. Sie versuchten, immer noch betrunken, ihn zu retten und dann brach ich zusammen. Ich wachte später im Krankenhaus wieder auf, meine Eltern an meinem Bett schlafend.

Sie erzählten mir, dass ich drei Tage lang geschlafen hätte und was auf der Party alles passiert wäre. Dass der Junge tot war, an einer Vergiftung gestorben. Ich sprach nicht darüber, dass ich wusste, wer ihn vergiftet hatte. Ich sprach nicht darüber, was mir mit passiert war. Ich sprach überhaupt nicht. Ein halbes Jahr lang nicht. Ich ging nicht zur Schule, sondern hockte hier, zu Hause. Ich wusste, dass ich nicht mehr dazugehörte, weder zu den einen noch zu den anderen. Langsam fing ich dann wieder an, mit meinen Eltern zu reden. Die Freundin war fortgezogen, ohne sich von mir zu verabschieden.

Meine Eltern kümmerten sich um mich, meine Mutter blieb zu Hause. Sie arbeitete mit mir den Stoff aus der Schule nach, den ich verpasst hatte. Immer wieder musste ich zu einem Arzt, der mit mir sprach und dann feststellte, dass ich noch nicht zu bereit war, wieder in die Schule zu gehen. Also blieb ich weiterhin zu Hause. Irgendwann war das Schuljahr rum und wir wollten es wieder probieren. Am Abend vor dem ersten Schultag saßen meine Eltern und ich am Küchentisch.

Sie sagten, dass sie immer für mich da wären, egal, was passiert. Dass so etwas nie wieder passieren darf und dass ich den anderen davon erzählen muss, damit so etwas nicht noch einmal passieren kann. Das Etwas ist jedoch wesentlich größer als meine Eltern glauben. Sie wissen bis heute nicht, was der Junge mit mir gemacht hat. Ich habe gedacht, ich habe es vergessen, aber das habe ich nicht.

Ich fühle es immer noch, als wäre es gestern gewesen. Als würde ich immer noch glauben, dass ich zu dieser perfekten Welt gehöre." Ihr Körper verkrampfte sich, sie rang nach Luft, tränenerstickt.

Im nächsten Moment hielt ich sie im Arm und merkte, wie ihre Tränen mein T-Shirt durchnässten. Ihre Hände krallten sich an mir fest. Ich strich ihr immer wieder über den Rücken und irgendwann hatte sie sich beruhigt. Jetzt hatte ich wirklich verstanden. „Ich bin für dich da", flüsterte ich ihr zu. „Ich pass' auf dich auf."

Philine atmete ruhig. „Und wir sorgen dafür, dass alle erfahren, dass es nichts gibt, das perfekt ist." Denn das war es, was ich nun endgültig verstanden hatte.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top